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Zahlentheorie: Zwei Studierende widerlegen eine anerkannte Vermutung über Fraktale

Zahlentheoretiker dachten, sie stünden kurz davor, eine Vermutung über apollonische Kreise zu beweisen. Doch ein Sommerprojekt von zwei Studierenden wurde ihnen zum Verhängnis.
Fraktales Muster mit Kreisen
Apollonische Kreise sind seit mehr als 2000 Jahren bekannt. Doch nun haben zwei Studierende eine überraschende Entdeckung gemacht.

Summer Haag und Clyde Kertzer hatten große Hoffnungen in ihr Sommerforschungsprojekt gesetzt. Ein ganzes Teilgebiet der Mathematik umzukrempeln, gehörte aber eigentlich nicht dazu.

Im Mai 2023 beendete Haag ihr erstes Jahr als Doktorandin an der University of Colorado in Boulder, wo Kertzer gerade sein Grundstudium absolvierte. Beide freuten sich auf eine Pause vom Unterricht. Haag plante, neue Wander- und Kletterrouten zu erkunden. Kertzer wollte Fußball spielen und seine Bewerbung für die Graduiertenschule vorbereiten. Als angehende Mathematiker hatten sie sich aber auch für ein Sommerforschungsprogramm bei der Zahlentheoretikerin Katherine Stange beworben.

Stange bezeichnet sich selbst als »mathematischen Frosch« – eine Person, die sich tief in die Feinheiten eines Problems vertieft, bevor sie zu einem anderen springt. Sie interessiert sich für »die einfach erscheinenden Fragen, die zu einem Reichtum an Strukturen führen«, sagt sie. In ihren Projekten setzt sie oft Computer ein, um große Datensätze zu erzeugen, und wagt sich damit an die nur schwer fassbaren offenen Probleme der Zahlentheorie.

Am Tag von Haags 23. Geburtstag startete das Sommerforschungsprojekt mit einer einwöchigen Einführung in apollonische Kreispackungen. Dabei geht es darum, wie sich Kreise harmonisch in einen größeren Kreis einfügen können. Angenommen, drei Münzen sind so angeordnet, dass jede die anderen berührt. Dann lässt sich manchmal ein Kreis um sie herum zeichnen, der alle drei Geldstücke von außen berührt. Damit ergeben sich Fragen: Wie verhält sich die Größe des größeren Kreises zu der der drei Münzen? Wie groß ist der Kreis, der in die Lücke zwischen den drei Geldstücken passt? Und wenn man kleinere Kreise zeichnet, die immer kleinere Lücken zwischen den Kreisen ausfüllen – wodurch ein fraktales Muster entsteht, das als Packung bekannt ist –, wie verhalten sich dann die Größen dieser Kreise zueinander?

Anstatt über den Durchmesser oder die Fläche der Kreise nachzudenken, verwenden Mathematiker ein Maß namens Krümmung, das dem Kehrwert des Radius entspricht. Ein Kreis mit Radius 2 hat also die Krümmung ½, ein Kreis mit Radius ⅓ hat die Krümmung 3. Je kleiner der Kreis, desto größer die Krümmung.

Überall Kreise

Schon zur Zeit der Renaissance konnten Mathematiker beweisen: Haben die ersten vier Kreise eine ganzzahlige Krümmung, dann sind die Krümmungen aller folgenden Kreise in der Packung garantiert auch ganzzahlig. Das ist für sich genommen schon bemerkenswert. Aber Fachleute haben sich daraufhin gefragt, welche genauen Zahlenwerte auftauchen, wenn die Kreise immer kleiner und die Krümmungen immer größer werden.

2010 bewies die Zahlentheoretikerin Elena Fuchs von der University of California in Davis, dass die Krümmungen einer bestimmten Beziehung folgen, die sie in gewisse Zahlenbereiche zwingt. Kurze Zeit später waren Mathematikerinnen und Mathematiker davon überzeugt, dass die Krümmungen nicht nur in die eine oder andere Kategorie fallen müssen, sondern dass jeder Zahlenwert aus jeder Kategorie auftauchen muss. Diese Idee wurde als Lokal-Global-Vermutung bekannt. »In vielen Arbeiten wurde darauf verwiesen, als ob sie bereits eine Tatsache sei«, so Kertzer.

Der Mathematiker James Rickards, der mit Stange und den Studierenden in Boulder zusammenarbeitete, hatte einen Code geschrieben, mit dem sich jede beliebige Anordnung von Kreispackungen untersuchen lässt. Als Haag und Kertzer am 15. Mai 2023 zu der Gruppe stießen, dachten sie, dass sie schöne Diagramme erstellen würden, die die Lokal-Global-Regel erfüllen.

Anfang Juni 2023 flog Stange zu einer Konferenz nach Frankreich und ließ die Studierenden mit ihren Kollegen an dem Projekt weitertüfteln. Als sie am 12. Juni zurückkehrte, saß das Team um Diagramme herum, die zeigten, dass in manchen Kreisnetzen bestimmte Zahlen zu fehlen schienen. »Wir haben gar nicht versucht zu prüfen, ob die Vermutung wahr ist«, sagt Rickards. »Ich habe es einfach angenommen. Und dann stehen wir plötzlich vor Daten, die das Gegenteil beweisen.« Am Ende der Woche war das Team überzeugt, dass die Vermutung falsch ist. Die Zahlen, die sie erwartet hatten, tauchten nicht auf. Sie erarbeiteten einen Beweis und veröffentlichten ihre noch nicht begutachtete Arbeit am 6. Juli 2023 auf der wissenschaftlichen Preprint-Plattform ArXiv.

»Wir ärgern uns alle darüber, dass wir das nicht schon vor 20 Jahren herausgefunden haben«Alex Kontorovich, Zahlentheoretiker

Elena Fuchs erinnert sich an ein Gespräch mit Stange, kurz vor dem Veröffentlichungstermin. »Wie sehr glauben Sie an die Lokal-Global-Vermutung?«, fragte Stange sie. Fuchs antwortete, dass sie natürlich daran glaube. »Dann zeigte sie mir all diese Daten und ich war extrem erstaunt«, sagt Fuchs. »Ich hatte wirklich gedacht, dass die Vermutung wahr ist.«

»Sobald man es sieht, denkt man ›Aha! Natürlich!‹«, sagt Peter Sarnak, ein Mathematiker am Institute for Advanced Study und an der Princeton University, dessen frühe Beobachtungen die Lokal-Global-Vermutung bestätigten. »Wir ärgern uns alle darüber, dass wir das nicht schon vor 20 Jahren herausgefunden haben«, fügt Alex Kontorovich von der Rutgers University hinzu. Die Arbeit hat einen Riss im Fundament anderer Vermutungen in der Zahlentheorie offenbart. Fachleute fragen sich nun, welche weit verbreitete Annahme als Nächstes fallen könnte.

2000 Jahre alte Fraktale

Apollonische Kreispackungen haben ihren Namen von ihrem wahrscheinlichen Urheber, Apollonius von Perge. Vor etwa 2200 Jahren schrieb der griechische Geometer ein Buch mit dem Titel »De Tactionibus« (Tangenten), in dem er ausführte, wie man einen Kreis konstruiert, der drei beliebige andere Kreise berührt. Das Buch ist im Lauf der Zeit verloren gegangen. Doch etwa 500 Jahre später stellte der griechische Mathematiker Pappos von Alexandria ein Kompendium zusammen, das den Zusammenbruch des byzantinischen Reichs überstand.

Ausgehend von Pappos' Beschreibung der »Tangenten« versuchten Mathematiker während der Renaissance, das Originalwerk nachzuvollziehen. Bis 1643 hatte René Descartes eine einfache Beziehung zwischen den Krümmungen k1, k2, k3, k4 von vier beliebigen Kreisen entdeckt, die einander berühren. Descartes behauptete, die Summe aller quadrierten Krümmungen (k12 + k22 + k32 + k42) sei gleich einhalb mal dem Quadrat der addierten Krümmungen (½[k1 + k2 + k3 + k4]2). Das bedeutet, dass es bei drei Kreisen möglich ist, den Radius eines vierten tangentialen Kreises zu berechnen. Wenn man zum Beispiel drei Kreise mit den Krümmungen 11, 14 und 15 hat, kann man diese Zahlen in die Gleichung von Descartes einsetzen und die Krümmung des Kreises berechnen, der zwischen ihnen hineinpassen würde: 86.

1936 bemerkte der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Radiochemiker Frederick Soddy etwas Merkwürdiges, während er Packungen mit der von Descartes entdeckten Beziehung konstruierte. Als die Kreise kleiner und die Krümmungen größer wurden, erwartete er, komplizierte Zahlenwerte mit Quadratwurzeln oder unendlichen Dezimalzahlen zu erhalten. Stattdessen fand er aber nur ganzzahlige Krümmungen vor. Das war eine ziemlich einfache Konsequenz aus Descartes' Gleichung, die jedoch jahrhundertelang niemandem aufgefallen war.

Auf der Suche nach Mustern

Nach dieser erstaunlichen Feststellung versuchten Mathematiker, Muster in den natürlichen Zahlen von Kreispackungen zu finden. 2010 nahmen sich Fuchs und Katherine Sanden dafür eine Arbeit aus dem Jahr 2003 vor. Die beiden Forscherinnen beobachteten, dass sich eine Regel ergibt, wenn man jede Krümmung in einer Kreispackung durch 24 teilt. Manche Packungen haben zum Beispiel nur Krümmungen mit Restwerten von 0, 1, 4, 9, 12 oder 16. Bei anderen bleibt nur ein Rest von 3, 6, 7, 10, 15, 18, 19 oder 22 übrig. Wie sich herausstellte, gibt es sechs verschiedene mögliche Gruppen, in die sich die Krümmungen einer Packung einordnen lassen.

Als die Mathematikerinnen die verschiedenen Kategorien untersuchten, stellten sie fest, dass für ausreichend kleine Kreise (also solche mit großen Krümmungen) innerhalb jeder Kategorie alle erlaubten Zahlen aufzutreten schienen. Wenn man also eine Kreispackung der ersten Kategorie betrachtet, tauchen darin notwendigerweise Krümmungen mit Restwerten 0, 1, 4, 9, 12 und 16 auf – es wird nichts ausgelassen. Diese Idee wurde als die Lokal-Global- Vermutung bezeichnet. Sie zu beweisen, wurde zu »einem dieser kleinen Träume von mir«, sagt Fuchs. »Ich dachte, ich könnte sie vielleicht irgendwann in vielen Jahren lösen.«

2012 bewiesen Alex Kontorovich und der 2018 verstorbene Mathematiker Jean Bourgain, dass praktisch alle von der Vermutung vorhergesagten Zahlen tatsächlich in Kreispackungen vorkommen. Aber »praktisch alle« bedeutet nicht »alle«. Quadratzahlen sind zum Beispiel so selten, dass mathematisch gesehen »praktisch alle« ganzen Zahlen keine Quadratzahlen sind, auch wenn wir genügend Gegenbeispiele wie 25 und 49 kennen. Die Fachleute dachten, dass die seltenen Gegenbeispiele, die nach der Arbeit von Kontorovich und Bourgain noch möglich waren, nicht existieren würden. Vor allem weil die zwei oder drei am besten untersuchten Kreispackungen die Lokal-Global-Vermutung so gut zu erfüllen schienen, erklärt Kontorovich.

Ein verheißungsvolles Sommerprojekt

Als Haag und Kertzer im Sommer 2023 in Boulder mit ihrem Forschungsprojekt anfingen, kritzelte Rickards Themenideen auf eine Tafel in Stanges Büro. »Wir hatten eine ganze Liste«, sagte Rickards. Sie hatten vier oder fünf Ansatzpunkte, mit denen sie experimentieren konnten. »Dinge, mit denen man einfach herumspielen und sehen kann, was passiert.«

Eine Idee bestand darin, alle möglichen Kreispackungen zu berechnen, die zwei beliebige Krümmungen A und B enthalten. Rickards schrieb ein Programm, das ausgibt, welche ganzen Zahlen auftauchen, wenn A als Krümmung enthalten ist. Auf der Grundlage dieses Programms erstellte Haag einen Algorithmus, der etliche Simulationen auf einmal grafisch ausgab. Es war wie eine Multiplikationstabelle: Haag wählte die einzubeziehenden Zeilen und Spalten auf Grundlage der Restbeträge, wenn sie die Krümmungen der Kreise durch 24 teilte. Zahlenpaare, die zusammen in einer apollonischen Packung vorkommen, erhielten weiße Pixel, solche, die nicht vorkommen, schwarze. Haag arbeitete sich durch Dutzende von Grafiken – eine für jedes Paar von Restwerten in jeder der sechs Gruppen.

Die Ergebnisse sahen genauso aus wie erwartet: eine weiße Wand, gespickt mit vielen schwarzen Flecken für kleinere ganze Zahlen. »Wir hatten erwartet, dass die schwarzen Punkte für größere Zahlen verschwinden würden«, sagte Stange. Indem das Team die Diagramme betrachtete, die Eigenschaften vieler Packungen zusammenfassen, hoffte es Ergebnisse nachzuweisen, die bei der Betrachtung einer einzelnen Packung allein nicht möglich wären. Als Stange auf Forschungsreise war, zeichnete Haag zunächst auf, wie etwa 120 Paare aus Restwerten zusammenwirken. Da gab es keine Überraschungen. Doch dann widmete sie sich weiteren Paaren.

»Mein erster Gedanke war, dass es einen Fehler in meinem Code geben muss«James Rickards, Mathematiker

Haag untersuchte, wie 1000 natürliche Zahlen zusammenhängen – das Diagramm ist größer, als es klingt, da es eine Million mögliche Paare umfasst. Dann drehte sie den Regler auf 10 000 mal 10 000 hoch. Das Ergebnis sah nicht so aus, wie es die Lokal-Global-Vermutung vorhersagt: In einem der Diagramme weigerten sich die schwarzen Flecken, zu verschwinden.

Nach der Rückkehr von Stange präsentierte Haag dem Team ihre Diagramme, und alle konzentrierten sich auf das mit den seltsamen Punkten. »Das war der Moment, in dem Kate sagte: ›Was, wenn die Lokal-Global-Vermutung nicht stimmt?‹«, erinnert sich Haag. Rickards war anfangs skeptischer. »Mein erster Gedanke war, dass es einen Fehler in meinem Code geben muss«, sagt Rickards. »Ich meine, das war das einzig Vernünftige, was mir einfiel.«

Nach ein paar Stunden war auch er überzeugt. Das Muster in Haags Diagramm schloss alle Paare aus, bei denen die erste Zahl die Form 8 · (3n ± 1)2 hat und die zweite 24-mal eine beliebige Quadratzahl ist. Das heißt, dass beispielsweise die Zahlen 24 (= 24·12) und 8 (= 8 · (3·0 ± 1)2) nie in derselben Packung vorkommen. Zahlen, von denen man erwarten würde, dass sie auftauchen, fehlen. »Es kommt nicht sehr oft vor, dass man von etwas wirklich überrascht wird«, sagt Stange.

In ihrer im Juli 2023 veröffentlichten Arbeit lieferten die Fachleute einen Beweis dafür, dass das von ihnen beobachtete Muster unbegrenzt fortbesteht, und haben somit die Lokal-Global-Vermutung widerlegt. Der Beweis beruht auf einem jahrhundertealten Prinzip, der so genannten quadratischen Reziprozität, bei der die Quadrate zweier Primzahlen eine Rolle spielen. Stanges Team fand heraus, wie sich die Reziprozität auf Kreispackungen anwenden lässt. Damit konnten die Fachleute erklären, warum Kreise mit bestimmten Krümmungen nicht tangential zueinander sein können.

Welche Vermutung fällt als Nächstes?

Die Erkenntnisse des Forschungsteams stellen eine ganze Reihe anderer zahlentheoretischer Vermutungen in Frage, die allgemein als wahr angenommen werden. Wie die Lokal-Global-Vermutung sind auch sie schwer zu beweisen – und es wurde ebenfalls bereits gezeigt, dass sie für praktisch alle Fälle gelten. Fuchs untersucht zum Beispiel Markov-Tripel: Zahlenmengen, die die Gleichung x2 + y2 + z2 = 3xyz erfüllen. Sie und andere haben gezeigt, dass bestimmte Arten von Lösungen für Primzahlen größer als 10392 auf diese Weise miteinander verbunden sind. Die meisten Zahlentheoretiker denken, dass sich dieses Muster bis ins Unendliche fortsetzt. Doch angesichts des neuen Ergebnisses beginnt Fuchs zu zweifeln: »Vielleicht übersehe ich etwas«, sagt sie. »Vielleicht übersehen alle etwas.«

Auch die Gültigkeit der Zaremba-Vermutung ist unklar. Sie besagt, dass sich ein Bruch mit beliebigem Nenner als Kettenbruch umschreiben lässt, der nur Zahlen zwischen 1 und 5 verwendet. 2014 zeigten Kontorovich und Bourgain, dass die Zaremba-Vermutung für fast alle Zahlen gilt. Doch auch hier könnte noch eine Überraschung lauern.

Wenn das Packungsproblem ein Vorbote für die Zukunft ist, könnte die Datenanalyse das Werkzeug sein, mit dem andere Vermutungen zu Fall gebracht werden. »Ich finde es immer faszinierend, wenn neue Mathematik aus der reinen Betrachtung von Daten entsteht«, sagt Fuchs. »Es war reiner Zufall«, sagt Haag. »Wenn ich nicht so viele Zahlen untersucht hätte, wäre es uns nicht aufgefallen.«

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