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Arktis-Expedition: Mit dem Eisbrecher zum magischen Moment

In der Arktis gibt es keinen Frühling - das Eis schmilzt ganz plötzlich. Doch wann? Und warum? Ein Forschungsteam will den entscheidenden Moment abpassen, um eines der größten Rätsel der Arktis zu lösen.
Blick vom Anhänger eines Schneemobils nach forne auf die Fahrer und im Hintergrund ein Schiff im Eis.

Irgendwo auf dem Arktischen Ozean, 81° nördlicher Breite, rund 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt, dröhnt das Horn des schwedischen Forschungsschiffs »Oden«: schon wieder ein Eisbär. Auf ihrer Eisscholle packt Theresa Mathes von der TU Berlin die Batterien ihres Messgeräts zusammen. Aufgeschreckt von der Funkansage »Polar bear at 6 o'clock«, hatte sie erst erwogen, vor dem Tier wegzulaufen. Doch schon wenige Minuten später, die ihr wie eine Ewigkeit vorkommen, holt sie der für sie zuständige »Polarbear guard« mit einem Schneemobil ab.

Nicht weit entfernt arbeiten andere Forscherinnen und Forscher. Ein weiteres Schneemobil holt sie so schnell wie möglich vom Eis; sie alle müssen nun aus Sicherheitsgründen zurück auf das Schiff. Eine Drohne ist noch in der Luft und schafft es in der Eile nicht heil herunter. Aber alle Menschen gelangen sicher außer Reichweite des Raubtiers. Nachdem das Schiffshorn den Eisbären nicht vertreiben konnte, schießt die »Oden« ein Leuchtfeuer ab. Ob das geklappt hat, kann die Besatzung aber erst einmal nicht erkennen – gleichzeitig bildet sich ein tückisches Nebelfeld, das den Effekt des Abschreckungsmanövers verbirgt.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Teil der ARTofMELT-Expedition. Ihre Mission: den Augenblick einzufangen, wenn das Schmelzen an der Oberfläche des Eises beginnt. Für Mathes ist es die erste Arktisexpedition, der erste Gang auf eine Eisscholle mitten im Nordpolarmeer. Sie hatte auf den Schneescooter verzichtet und war zu Fuß gegangen, um ihre Messungen nicht durch die Abgase zu beeinflussen.

Ihr »Fluxtower« bestimmt gerade die Aerosolkonzentration, Temperatur und Windgeschwindigkeit zwischen einem und 150 Zentimeter Höhe; wie in einem Fahrstuhl fahren die Sensoren kontinuierlich hoch und runter. Die Geografin hat es auf winzige Feinstaubpartikel abgesehen – während die nämlich in bewohnten Regionen manchmal sogar eine Gesundheitsgefahr darstellen, sind sie in der Arktis außerordentlich rar.

Warum schmilzt das Eis?

In der weltweit wohl reinsten Luft mangelt es zuweilen an den zur Nebelbildung notwendigen Kondensationskeimen. Und die Aerosole spielen eine Rolle bei jenem Phänomen, das die ARTofMELT-Expedition untersuchen soll: der Meereisschmelze im Frühjahr. Wie die mit atmosphärischer Strahlung, Feinstaub und der von ihm angestoßenen Wolken- und Nebelbildung zusammenhängt, ist immer noch eines der größten arktischen Rätsel.

Forschung auf dem Eis | Für ihre Messungen muss Theresa Mathes aufs Eis. Möglichst weit weg vom Schiff und anderen künstlichen Aerosolquellen baut sie dann ihren Fluxtower auf, mit dem sie die Aerosolmenge in der extrem sauberen arktischen Luft bestimmt.

Einen arktischen Frühling, der graduell den Winter in den Sommer überführt, wie in unseren Breiten, gibt es nämlich nicht. In der Arktis kommt der Sommer plötzlich: Innerhalb weniger Stunden bis Tage beginnt das Eis zu schmelzen. Aber welche Prozesse dabei ablaufen, die auch für genauere Klimaprojektionen wichtig wären – darunter eben auch die atmosphärischen Flüsse –, ist nicht genau bekannt.

Ein womöglich wichtiger Teil der Lösung sind atmosphärische Flüsse: Förderbänder für große Massen warmer, feuchter Luft aus den Tropen oder aus den warmen mitteleuropäischen Ländern. Sie gelangen im nahenden Sommer auch in die Arktis – und sie bringen feine Staubpartikel aus aller Welt mit sich, die Theresa Mathes aufspüren will. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen auf der Expedition an Bord der »Oden« ihre Hypothese testen, dass der arktische Winter von diesen gigantischen Strömungen der irdischen Lufthülle zum früheren Kippen gebracht wird.

»Um atmosphärische Flüsse in Klimamodellen zu beschreiben, müssen wir verstehen, wie sie funktionieren«, erklärt Paul Zieger von der Universität Stockholm, Atmosphärenphysiker, Kofahrtleiter und Entwickler der ARTofMELT-Expedition. »Es gibt viele Daten dazu, was das Eis im Herbst gefrieren lässt, aber kaum Daten über die Schmelze im Frühling. Wir wollen die Prozesse hinter den atmosphärischen Flüssen verstehen, wie sie Aerosole in die Arktis bringen und Wolken bilden, damit wir mehr über die Zukunft des Meereises und des arktischen Klimas im Allgemeinen voraussagen können.« Wie sich das arktische Klima entwickelt, beeinflusst nämlich unser Klima, wie auch der unter Polarforschern wohlbekannte Spruch besagt: Was in der Arktis geschieht, bleibt nicht in der Arktis ...

Messen unter erschwerten Bedingungen

Die nötigen Daten zu gewinnen, ist aber nicht immer ganz einfach. Das Eiscamp wurde bereits einmal ab- und wieder neu aufgebaut, weil die »Oden« zu weit nach Süden gedriftet war. Das schwedische Forschungsschiff, das zu den besten nicht atomgetriebenen Eisbrechern der Welt gehört, hat Schwierigkeiten, tiefer ins Eis gen Norden vorzudringen. Die Eisschollen sind kompakter als gedacht. Der Vorgang des Eisbrechens mit dem Vor- und Zurückfahren fasziniert nicht nur Theresa, die stundenlang zuschauen könnte, wie sich Risse bilden, kleine, zerbrochene Schollen im Eis drehen und zu Eisbrei verarbeitet werden.

Kofahrtleiter Paul – auf dem Schiff sind alle per du – macht sich indes Sorgen, dass sie den entscheidenden Moment verpassen könnten. Durch den aufwändigen Campabbau und Wiederaufbau beim Umsetzen des Schiffs entsteht eine zweitägige Datenlücke in den sonst kontinuierlichen Zeitreihen der Bodenstationen. Paul Zieger steht jeden Morgen um 6.30 Uhr auf. Heute wurde er aber wieder um zwei Uhr morgens von der Brücke aus dem Bett geklingelt, um seine in den Wind gerichteten Geräte auf dem Messcontainer auf dem vorderen Deck außerplanmäßig abzuschalten. Wenn sich die »Oden« dreht, kann die Abgaswolke in die hochempfindlichen Aerosol-Messinstrumente gelangen und »die Filter versauen«. Doch die Schiffsdrehung war notwendig – die Taue wurden durch die Drift so stark angespannt, dass sie hätten reißen können. Das ist bereits vorgekommen und der Kapitän geht nun kein Risiko ein.

Auch während einiger Helikopterflüge muss Paul Teile seiner Instrumente vorsichtshalber pausieren lassen, wenn sie windabwärts vom Hubschrauber stehen. Normalerweise werden Flüge zwar immer in den allabendlichen »Principal Investigator (PI)«-Treffen des Vortags so geplant, dass sie die Messungen nicht stören, aber sie fliegen auch außerplanmäßige Einsätze. Etwa bei »Touristenbären«, wie Paul Zieger diejenigen Eisbären nennt, die sich weder durch das laute Schiffshorn noch durch das grelle Leuchtsignal der Schreckschusspistole verscheuchen lassen. Da versucht man als letztes Mittel, sie mit dem lauten Helikopter behutsam zu vertreiben.

Der Helipod in Aktion | Der Hubschrauber an Deck der »Oden« transportiert nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ihre Forschungsstandorte, sondern führt ebenso eigene Messflüge durch. Die von Falk Pätzold betriebene Schleppsonde »Helipod« des Instituts für Flugführung an der TU Braunschweig misst Wind, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und natürlich auch Aerosole.

Normalerweise transportiert der Helikopter Wissenschaftler zu entfernteren Eisschollen, damit sie dort Proben und Messdaten sammeln können. Oder er fliegt für eigene Messungen mit der von Falk Pätzold betriebene Schleppsonde »Helipod« des Instituts für Flugführung an der TU Braunschweig. Die hängt dann als so genannte Außenlast etwa 23 Meter unter dem Helikopter, weit außerhalb seines störenden Abwindfeldes.

Immer Ärger mit Eisbären

Die Helipodsensorik misst im Vorwärtsflug bei 140 Kilometer pro Stunde vielfältige Zustandsgrößen der Atmosphäre. Darunter sind basismeteorologische Daten wie Windvektor, Lufttemperatur- und -feuchtigkeit; Spurengas- und Aerosolkonzentrationen; Strahlung im sichtbaren und infraroten Bereich, aber auch die Topografie der Eisschollen.

Die Messungen am Schiff und durch den Helikopter ergänzten einander, erklärt Pätzold. »Während die Messungen auf und neben der »Oden« Zeitreihen direkt am Ort des Schiffs gewinnen, wird mit dem Helipod die horizontale und vertikale Verteilung der entsprechenden Größen gemessen«, erläutert der Ingenieur für Luft- und Raumfahrt. »Der Helipod nimmt also einen Schnappschuss der räumlichen Verteilung auf, während die stationären Messungen die zeitliche Entwicklung beobachten.«

Falk – wir erinnern uns: Alle sind per du – erhält auf seinen Helipodflügen den vielleicht exklusivsten Blick. Für ihn ist es die dritte Arktisexpedition; er schwärmt über den Kontrast von den Weiten der Arktis zu den kleinsten Strukturen: »Je dichter man herangeht, umso vielfältiger werden die nur vermeintlich ähnlich ausschauenden Schollen und Schneeoberflächen: fraktale Strukturen bis zur molekularen Ebene unserer Wasserisotopenmessungen. Und zwischen diesen Größenordnungen ist Leben: vom grünlich schimmernden Phytoplankton im Wasser als Basis des Nahrungsnetzes bis hin zu den telegenen Eisbären, die am Schiff vorbeistreifen.«

Viele Eisbären besuchen während der sechswöchigen Ausfahrt die »Oden«. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hängen jedes Mal entzückt über der Reling und machen Fotos der neugierigen Tiere, die ihre Instrumente auf dem Eis inspizieren. Etwas weniger begeistert ist Theresa Mathes: Ein Eisbär setzt sich auf ihren Fluxtower und knabbert ihn fast kaputt.

»Je dichter man herangeht, umso vielfältiger werden die nur vermeintlich ähnlich ausschauenden Schollen und Schneeoberflächen: fraktale Strukturen bis zur molekularen Ebene unserer Wasserisotopenmessungen«Falk Pätzold

Es ist zum Glück nicht ihr einziges Instrument. Zusätzlich zu den Profilmessungen von Aerosolen in Bodennähe misst sie auch an »Odens« Vormast in einer Höhe von etwa 30 Metern – definitiv außer Eisbär-Reichweite. Mit einem Partikelzähler (Mixing Condensation Particle Counter, MCPC) misst sie dort 20-mal pro Sekunde die Konzentration sehr feiner Aerosole mit 7 bis 2000 Nanometer Durchmesser. Mit derselben Frequenz arbeitet das Anemometer nebenan, das den vertikalen und horizontalen Windstrom registriert. Die Kombination liefert sodann den Aerosolfluss in der Luft.

Warten auf das Wetter

Meist ist Theresa zweimal pro Tag auf dem Eis zum Batteriewechsel, für Neustart und Wartung, aber ihre Schichten sind sehr variabel. Sie sammelt auch Wasserproben, um später Rußkonzentrationen bestimmen zu lassen. Wann immer sie kann, hilft sie anderen Teams, etwa der Helikite- oder der Drohnen-Gruppe. Sie hat ihrerseits Glück und findet einen bereitwilligen Helfer: Ein schwedischer Ingenieur repariert ihren stark beschädigten Fluxtower.

Ein Eisbär demoliert den Fluxtower | Immer wieder besuchen neugierige Eisbären das Forschungsschiff. Dann müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schnell vom Eis. Dabei lassen sie oft sperriges Gerät zurück – das die Bären dann gelegentlich als Spielzeug benutzen.

Auch Meereisphysiker Philipp Anhaus vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) prüft täglich, ob Eisbären oder Polarfüchse seine Geräte und Kabel auf dem Eis beschädigt haben. Er ist für die Koordination und Durchführung verschiedener Meereisphysikarbeiten zuständig, darunter Albedo-Messungen – die die Differenz zwischen Ein- und Abstrahlung erfassen –, Drohnen-Luftbilder, Eistopografie per Laserscanner und vor allem: die Planung und Steuerung des Tauchroboters unter dem Eis (remotely operated vehicle, ROV).

Philipps Team misst Änderungen der Schnee- und Eisdicke. Denn jede Änderung durch das Schmelzen beeinflusst stark, wie viel Sonnenlicht durch den Schnee und das Eis in den Ozean gelangt, und ergo, wie sich das System erwärmt. Wenn Philipp nicht auf dem Eis arbeitet, prüft und säubert er Geräte, prozessiert Daten und bereitet den nächsten Tag vor. In seiner Freizeit nutzt er, was die »Oden« zu bieten hat: Kino, Karten- und Brettspiele, Sauna, Tischtennis.

Jetzt macht der Tauchroboter gerade Fotos und Videos der Umwelt unterm Eis und misst die spektrale Aufteilung des Lichts mit Radiometern. »Solche Daten zum Beginn der Schnee- und Eisschmelze von Mitte Mai bis Mitte Juni sind sehr selten und wichtig«, erklärt der Meereisphysiker, der wie alle anderen noch auf einen atmosphärischen Fluss wartet.

Ein atmosphärischer Fluss kann 500 Kilometer breit und über 2000 Kilometer lang sein und transportiert warm-feuchte Luft in ein bis drei Kilometer Höhe. Er bewegt sich mit dem Wetter – Zeit und Ort des Auftreffens sind entsprechend schwer vorherzusagen. Jeden Morgen erhält Fahrtleiter Michael Tjernström die »Ensemble-Vorhersagen« vom Europäischen Wetterdienst ECMWF (European Center for Medium-Range Weather Forecast), die verschiedene Vorhersageszenarien sämtlicher Wetterdienste beinhaltet. Der Meteorologe bespricht diese mit dem PI-Team; mehrmals bereitet sich das Team vergeblich auf die prognostizierte Wärmewelle vor – die ersten Prognosen waren wohl falsch.

Die dynamische Grenze zwischen Wasser und Luft

Es gab in der Vergangenheit zwei Forschungsexpeditionen, die das Glück hatten, die flotte Eisschmelze in der Arktis live erleben zu können: »N-ICE« im Jahre 2015 und »SHEBA« 1997. Allerdings waren sie nicht mit den neuesten technischen Gerätschaften und multidisziplinärem Expertenteam ausgerüstet wie die »Oden« jetzt. Paul hat diese Fahrt sorgfältig mitgeplant, und 38 Wissenschaftler von 19 Instituten aus zehn verschiedenen Ländern decken die wichtigsten wissenschaftlichen Aspekte ab. Aber dass sie es erstmal nicht weiter nach Norden schaffen würden, war nicht vorauszusehen. Die Forscher sammeln dennoch wichtige Daten und hoffen weiterhin auf einen atmosphärischen Fluss. Alle sechs Stunden schickt die »Oden« einen Wetterballon in die Höhe, der Temperatur, Druck und Feuchtigkeit in der Luftsäule misst.

Philipp Anhaus lässt den Tauchroboter zu Wasser | Um den Tauchroboter BEAST vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) zu Wasser zu lassen, muss das Forschungsteam erst einmal ein Loch durchs Eis bohren. Anschließend lässt es das unförmige Gefährt mit Hilfe eines Flaschenzugs in den Ozean hinab. Das ROV misst die Eisdicke von unten, so dass Anhaus auch beobachten kann, wenn wärmeres Wasser an den Eisschollen nagt.

Wenn die durch Schiff oder Helikopter bedingte Luftverschmutzung zu groß für seine hochsensiblen Aerosolmessungen ist, disponiert Paul um und macht mit seinem Team im Laborcontainer an Deck Experimente, die die Entstehung von »Melt Ponds« simuliert. Melt Ponds (oder auch Schmelzwassertümpel) sind wichtig für den Strahlungshaushalt, denn sie ändern die Rückstrahlungs- und Absorptionseigenschaften des Eises. Wo sich Schmelzwasser auf dem Eis ansammelt, dringt mehr Sonnenlicht und somit Energie in das Eis ein als an wasserfreien Stellen. Dadurch schmilzt das Eis schneller und der Lebensraum im und unter dem Eis erhält mehr Licht.

Sie bieten zudem womöglich eine relevante Quelle für Kondensationskeime zur Wolkenbildung, etwa wenn Luftblasen zerplatzen und dabei Aerosole frei werden. Pauls Team simuliert daher das Entstehen der Schmelzwassertümpel im Schiffslabor: Die Stockholmer erzeugen in einem mit frischen Eiskernen und Schneeproben befüllten Tank künstliche Blasen unter sterilen Bedingungen. Beim Zerplatzen (»bubble bursting«) analysieren sie die sodann entstandenen Aerosole.

Lina Holthusen von der Universität Oldenburg liefert Pauls Gruppe frische Eis- und Schneeproben für das Experiment. Die Ozeanografin nimmt zudem mit einer Glasscheibe, die sie behutsam durchs Wasser zieht, eine Probe der dünnen Schicht auf der Ozeanoberfläche, wo sich organische und biologische Stoffe anreichern (»sea surface microlayer«). Hier ist die wichtige Schnittstelle zwischen Ozean und Atmosphäre, wo das »bubble bursting« in natura passiert. Pauls Team interessiert daher die Eigenschaften der Aerosole, die aus dieser Schnittstelle freigesetzt werden.

Vegane Torten in der Hocharktis

Lina untersucht derweil die Konzentrationen und Transportprozesse bestimmter Spurengase in der Arktis. Denn für globale Klimamodelle sind die Berechnungen der Austauschflüsse dieser Gase zwischen Ozean und Atmosphäre relevant, und Lina will die Berechnungen verbessern.

Simulierter Schmelzwassertümpel | Der Schneematsch mag unspektakulär aussehen, doch auf mikroskopischer Ebene ist er sehr dynamisch. Die »Melt Ponds« beschleunigen nicht nur die Eisschmelze, sondern geben auch Aerosole an die Luft ab. Dadurch beeinflussen sie Nebel- und Wolkenbildung.

Lina war bereits auf vielen Ausfahrten und Arktisexpeditionen, hier sammelt sie weitere praktische Erfahrung für ihre demnächst anstehende Antarktisexpedition, in der es um ihre Doktorarbeit gehen wird. Als Teil des »Early-Career-Scientist«-Programms lernt sie auf der »Oden« die verschiedenen Messmethoden an Bord und auf dem Eis, mit denen sie die Eigenschaften der Wassersäule und der verschiedenen Wassermassen bestimmt. »Zusätzlich haben wir die Möglichkeit, in alle Felder der verschiedenen Arbeitsgruppen reinzuschnuppern und auch Proben für unsere eigene Forschung zu nehmen«, erklärt die Geowissenschaftlerin. Unerfreulich sind hingegen Probenahmen an kalten, windigen Tagen, da sie dann die Wahl zwischen herausfordernd dicken Handschuhen und steif gefrorenen Fingern hat.

Der Alltag der Forscherinnen und Forscher kann sich erheblich voneinander unterscheiden. Es gibt zwar feste Termine, etwa: Frühstück ab 7.45 Uhr, Wissenschaftler-Briefing um 8.15 Uhr, »Fika« – schwedische Kaffeezeit und Linas täglicher Lichtblick – um zehn, Mittag ab zwölf, zweite Fika nachmittags um drei, PI-Meeting um fünf, Abendessen ab 17.45 Uhr. Aber nicht jeder kann alle Zeiten einhalten. Wenn Falk etwa Helipodflüge macht, verpasst er die eine oder andere Mahlzeit. Das ist bedauerlich, weil die Künste der vier Köchinnen, die Paul zufolge »die wahren Heldinnen dieser Fahrt« sind, von allen hochgelobt werden. Zu den Geburtstagen von Lina und Theresa gab es sogar vegane Torten.

Die Mahlzeiten können auch wegfallen, wenn sie mit der Arbeit kollidieren. Lina überwacht beispielsweise täglich von 18 Uhr bis Mitternacht die akustischen Messverfahren und muss auch für andere Messungen besonders flexibel sein: »CTD«-(Conductivity-Temperature-Depth)-Messungen bestimmen mit einer speziellen, an einem Kabel herabgelassenen Apparatur Salzgehalt, Temperatur, Sauerstoffgehalt und andere Parameter bis zum Meeresboden. Lina ist für diesen Dienst mit zwei anderen Fachleuten permanent auf Abruf, Tag und Nacht, wann immer es die Eis- und Wettersituation zulässt. Dank Mitternachtssonne ist es auch immer hell.

Endlich schmilzt das Eis!

Dann passiert es endlich: Die warme Luft ist da! Am Samstag um sechs Uhr morgens trifft die wochenlang erwartete Luftmasse doch noch ein. Mit ihr kommt der Nebel. Theresa kann aus Sicherheitsgründen nicht aufs Eis, freut sich aber über die Messungen auf dem Vormast. Falk ist weniger begeistert, denn der Helikopter darf nur bei perfekter Sicht fliegen und sein Helipodflug fällt daher aus. Pauls Team hingegen jubelt, endlich hat der »Wolkenstaubsauger« etwas zu messen – der Apparat saugt kontinuierlich Nebeltröpfchen ein, um Größe, Ursprung und chemische Zusammensetzung zu analysieren.

Jetzt messen alle Teams, was die Instrumente hergeben, alle drei Stunden steigt ein Wetterballon auf. Nach einem Tag verzieht sich der Nebel – und innerhalb weniger Stunden bilden sich überall Pfützen auf dem Eis. »Dass das so schnell geht, hätte ich nicht gedacht«, sagt Paul, der so überrascht wie erleichtert ist, dass sie den Augenblick des Schmelzens doch noch einfangen konnten.

Prominenter Besuch | Kronprinzessin Victoria von Schweden und die schwedische Klimaministerin Romina Pourmokhtari lassen sich im Konferenzraum der »Oden« den wissenschaftlichen Hintergrund der Expedition erklären.

Phillip freut sich über den Mix aus Schnee, Eis und Wasser, den er »slush« nennt: »Ich hatte zuvor noch nicht gesehen, dass das Schmelzen in der Schicht zwischen Eis und Schnee beginnt.« Der Meereisphysiker misst mit dem ROV die spektrale Verteilung des Lichts unter den Stellen, wo sich gerade Schmelzpfützen anfangen zu bilden. Theresa sammelt indes noch öfter Wasserproben als sonst. Falk macht mit dem Helipod Schnappschüsse über den Eispfützen. Nun muss eine meteorologische Auswertung noch zeigen, ob diese plötzlich eingetretene Wärmewelle tatsächlich der erhoffte atmosphärische Fluss war – oder ob die Verkettung verschiedener Phänomene das Eis zum Schmelzen brachte.

Am 16. Juni läuft die »Oden« mit vielen wertvollen Daten im Gepäck wieder in Longyearbyen ein. Kurz darauf kommt der königliche Überraschungsbesuch: Kronprinzessin Victoria von Schweden kommt zusammen mit der schwedischen Klimaministerin an Bord, um sich über die Ergebnisse und Eindrücke der ARTofMELT-Expedition informieren zu lassen. Da fahren die Köchinnen nochmal zur Höchstleistung auf, und zu dem besonderen Anlass kommt sogar das kostbare Originalgeschirr der »Oden« auf den Tisch.

Im Konferenzzimmer erklärt Fahrtleiter Michael Tjernström der Kronprinzessin, dass Wolken sogar relevanter als die Sonne sind: Die meiste Strahlung würde ohne sie wieder zurückreflektiert werden, doch Wolken halten die vom Boden abgegebene Wärme wie eine darauf liegende Decke. Paul Zieger zeigt ihr den Wolkenstaubsauger und spricht mit ihr über die Touristenmassen in Spitzbergens Hauptstadt, die ihm die verletzliche Natur in der Arktis vor Augen führen und wie sehr der Mensch dieses System aus dem Gleichgewicht bringt. Die Kronprinzessin macht Notizen zu den Präsentationen, die ihr gehalten werden. Was die vielen Messdaten bedeuten und wie die gewonnenen Erkenntnisse die neuesten Klimaprognosen verändern, werden die folgenden Monate und Jahre zeigen. Paul hofft nur, dass es dann noch nicht zu spät ist – für das Eis, die Arktis und die Welt.

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