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Autonome Binnenschifffahrt: Captain Computer übernimmt

Vollautonome, flexibel einsetzbare Boote für Fracht und Personen, das könnte gegen verstopfte Straßen helfen. Aber auch die großen Flusskähne sollen künftig von KI profitieren.
Das Versuchsboot von A-SWARM unterwegs im Berliner Westhafen

Der Elektromotor brummt nun etwas lauter, das Schiff wird schneller und Christian Masilge, oben auf dem Deck, beginnt zu grinsen. Läuft bei ihm. Nach jahrelanger Vorbereitung ist der Prototyp eines autonomen Binnenschiffs endlich auf dem Wasser. Gefertigt aus Aluminium, zweieinhalb mal sechs Meter groß, gleitet es unter dem Berliner Himmel dahin. Zwar tut es das lediglich im Becken I des Westhafens, weil es nur hierfür eine Genehmigung gibt, und auch nicht wirklich autonom – Masilge hat eine Fernsteuerung in der Hand. Aber die nächsten Schritte erscheinen machbar. »Um 2030 könnten autonome Systeme einsatzbereit sein«, sagt der Wissenschaftler von der Schiffbau-Versuchsanstalt Potsdam (SVA).

Von selbstfahrenden Binnenschiffen versprechen sich Fachleute zahlreiche Vorteile: Sie könnten die Kosten drücken, weil Personal gespart wird; zumal es in der überalterten Branche immer schwieriger wird, Nachwuchs zu finden. Und sie könnten mehr Transporte aufs Wasser holen und so die verstopften Straßen entlasten, insbesondere in Städten wie Berlin, Amsterdam, London oder Paris.

Metropolen an Flüssen haben oft eine lange Schifffahrtsgeschichte, erzählt Masilge. Berlin zum Beispiel, so das geflügelte Wort, sei »aus dem Kahn erbaut« worden. Ende des 19. Jahrhunderts wurden über Flüsse und Kanäle massenhaft Ziegel herangeschafft und damit ganze Stadtviertel errichtet. »Die Wasserstraßen sind noch vorhanden, werden aber kaum genutzt.« Autonome Boote wie das, was hier im Westhafen herumgondelt, könnten das ändern.

Der Wissenschaftler denkt etwa an Paketdienste, die ein beständig wachsendes Aufkommen verzeichnen. »Eine Untersuchung der TU Berlin hat den Aktionsradius von Fahrradtransporten mit dem vorhandenen Kanalnetz abgeglichen«, berichtet Masilge. Demnach sind viele Adressen auf diesem Weg erreichbar. »Es wäre illusorisch, damit den Lkw-Verkehr in die Stadt ersetzen zu wollen«, sagt er. »Aber wenn wir ein paar Fahrten umlenken können und so die Straßen entlasten, wäre schon etwas gewonnen.«

Kleine Einheiten für schmale Kanäle

Mit den großen Schubkähnen, die das Bild der Binnenschifffahrt bislang prägen, wäre das schlecht zu machen: zu groß, zu sperrig, unflexibel. Kleine Einheiten wie der Prototyp der SVA können dagegen selbst enge Kanäle befahren und ein bis zwei Tonnen Fracht an lokale Übergabepunkte liefern. Bei Bedarf ließen sie sich zusammenkoppeln, denn im Verbund ist der Energiebedarf geringer. Dieses Schwarmkonzept ist auch im Namen des Projekts erkennbar: »Autonome elektrische Schifffahrt auf Wasserstraßen in Metropolregionen«, kurz A-SWARM, gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium mit 4,2 Millionen Euro.

Projektleiter Christian Masilge auf dem Versuchsboot | Noch geben die Forscher das Ruder nicht ganz aus der Hand. »Um 2030 könnten autonome Systeme einsatzbereit sein«, sagt der Wissenschaftler.

Ob das gelingt, will das Team noch vor Jahresende 2021 testen. Dann soll ein baugleicher zweiter Prototyp eingesetzt werden, der bisher noch in einer nahen Lagerhalle steht. »Wenn es gut läuft, werden wir auch automatische Anlegemanöver testen«, kündigt Masilge an.

Doch zunächst muss sich das Aluminiumboot selbstständig bewegen können, ohne einen Projektleiter mit der Fernsteuerung in der Hand.

Dafür ist einerseits eine Steuertechnik nötig, die das Boot zu gewünschten Wegmarken bringt – auch bei Wind, Strömung und einseitiger Beladung, die es schief im Wasser liegen lässt; das habe bei den bisherigen Tests schon gut geklappt, erzählt der Forscher.

Andererseits muss das Boot die Navigation beherrschen, also wissen, wo es sich befindet. Dazu nutzt es verschiedene Daten. Selbstverständlich gehören GPS-Sensoren dazu, die die Position bis auf wenige Zentimeter genau bestimmen. »Unter Brücken oder in einer engen Schleuse klappt das aber nicht, weil die Verbindung zu Navigationssatelliten fehlt«, sagt Masilge. Dort kommt es umso mehr auf weitere Technologien an wie Radar und Lidar, eine laserbasierte Vermessung der Umgebung.

An Bug und Heck sind entsprechende Sensoren montiert und sollen jetzt trainiert werden. Dafür haben die Forscher kleine Hindernisse gebaut: unten eine Styroporplatte als Schwimmer, darauf eine Stange mit zwei ineinandergesteckten Blechen, die Radarstrahlen gut reflektieren und so für die Sensoren erkennbar sind. An ihnen soll das Boot vorbeifahren, damit die Geräte »lernen,« wie diese Hindernisse auf freiem Wasser aussehen.

Daten sammeln im Hafenbecken | Damit die KI Hindernisse erkennen und umgehen kann, müssen die Sensoren mit realistischen Daten trainiert werden. Bei den ersten Versuchsfahrten sind das schwimmende Reflektoren.

Auch Infineon erhofft sich Knowhow vom Testfall autonome Schifffahrt

Die drei Forscher an Bord dirigieren Masilge samt Boot durch das algengrüne Hafenbecken: »Da rüber, weiter links, Stopp, nochmal aus der Gegenrichtung bitte!« Auf dem Bildschirm eines Laptops, Baureihe »Predator«, laufen die Daten ein. Endlose weiße Ziffern und Zeichen auf schwarzem Grund. Je nach Sensor sind es einige dutzend Werte pro Sekunde. Die Auswertung übernimmt der Chiphersteller Infineon. Warum ein global agierendes Unternehmen sich in diesem verhältnismäßig kleinen Projekt engagiert, erklärt Masilge so: In der Binnenschifffahrt sind die Geschwindigkeiten viel geringer als im Straßenverkehr, es bleibt mehr Zeit zum Reagieren, damit ist sie ein gutes Testfeld für neue Entwicklungen. Allerdings gibt es auch Nachteile. Wind und Strömung treiben ein Boot ab und bei »Stopp« hält es nicht gleich an, sondern fährt noch eine Weile weiter.

Umso wichtiger ist es, dass die autonomen Fahrzeuge auch Hindernisse rechtzeitig erkennen, die nicht in den digitalen Karten vermerkt oder mit dem Automatic Identification System (AIS) für Schiffe ausgestattet sind: Ruderboote, Schwäne, Schwimmer beispielsweise. Denkbar sind aber ebenso verlorene Bälle oder schwimmender Unrat, den das Boot theoretisch sanft beiseiteschieben könnte. Die A-SWARM-Boote können den Unterschied bislang nicht erkennen, sie werden grundsätzlich allem ausweichen, was nicht im Plan ist. Künftig soll die Objekterkennung mittels künstlicher Intelligenz erfolgen.

»Roboat« in Amsterdam ist da schon weiter. Die Prototypen, zwei mal vier Meter groß und ebenfalls aus Aluminium, haben neben Lidarsensoren auch Kameras. Der Computer an Bord analysiert die Daten über künstliche Intelligenz. »Wir können andere Boote erkennen, Brückenpfeiler, sogar Schwimmer«, sagt Ynse Deinema, Projektleiter vom Amsterdam Institute for Advanced Metropolitan Solutions, das hier mit dem Massachusetts Institute of Technology kooperiert. Von Test zu Test werde die Software besser. »Ich bin überzeugt, dass sie eines Tages besser sein wird als ein menschlicher Skipper.« Wann dieser Punkt erreicht wird, könne er nicht genau sagen. »Aber es liegt auf der Hand, dass ein System mit permanentem 360-Grad-Rundumblick in verschiedenen Wellenlängen mehr sieht als ein Mensch allein.«

Fracht- und Ausflugsschiffe auf den Grachten

Eine perfekte Objekterkennung allein nützt wenig. Das Boot muss seinen Kurs anpassen, um weiterzukommen. »Gerade auf den Grachten hier ist viel los, damit steigt die Komplexität, mit der unser System klarkommen muss«, sagt Deinema. Bisher haben es die Forscher auf einer Teststrecke neben ihrem Institut fahren lassen unter weitgehend realistischen Bedingungen mit Wind, Wellen und schwimmenden Objekten. »In den nächsten zwölf Monaten wollen wir auch in der Innenstadt von Amsterdam fahren.«

Mit dem KI-Captain auf Sightseeing | Vollautomatisierte Boote könnten, wie in dieser Illustration des Projekts Roboat, mit Touristen zu Sehenswürdigkeiten fahren. Deutlich weniger glanzvoll, aber wahrscheinlich erst einmal praktikabler ist es, die Boote eine Fracht aus Paketen oder Müll befördern zu lassen.

Auf halbem Weg Richtung Den Haag nahe Leiden pendelt bereits eine Roboterfähre für bis zu zwölf Personen. Es ist eine Kooperation der US-Firma Buffalo Automation, die Technologien für autonome Boote entwickelt, mit dem niederländischen »Future Mobility Network«. In beiden Fällen fahren die Boote unter menschlicher Aufsicht – der Sicherheit wegen, aber auch wegen des rechtlichen Rahmens. Die Behörden, so berichten etliche Forscher, sind von den Fortschritten auf diesem Gebiet spürbar herausgefordert. Sie müssen objektive Sicherheitsaspekte ebenso beachten wie die unterschiedlich hohe Akzeptanz der Bevölkerung für autonome Technologien. Hinzu kommen die Interessen der Entwickler, die ihre Konzepte rasch praxistauglich machen möchten. Im Erfolgsfall wäre das auch für die jeweiligen Regionen ein Gewinn.

Roboat beispielsweise setzt auf standardisierte Bootsrümpfe, auf die je nach Bedarf ein Personen- oder ein Frachtdeck gesetzt wird. Die Personenvariante könnte Taxidienste übernehmen oder Touristen zu Sehenswürdigkeiten schippern. Konkurrenz für die Anbieter mit Mensch am Steuer sieht Deinema darin nicht: »Es ist schon heute schwierig, gute Skipper zu finden, vor allem für Arbeitszeiten am Abend.« Im Frachtmodus wiederum könnten die Boote Müll aus der Stadt bringen. »Bisher wird der Abfall mit schweren Lkw abtransportiert, die die Straßen verstopfen und beschädigen.« Stattdessen könnten das leise und umweltfreundliche Boote übernehmen, vor allem nachts wenn die Grachten leer sind.

Dies sei aber nur eine Idee von vielen. »Wir konzentrieren uns zunächst auf die Technologie, das autonome Fahren, Anlegen und Koppeln«, sagt der Projektleiter. »Ich bin selbst gespannt, welche Anwendungen sich am Markt durchsetzen werden.« Unterdessen hat er das Konzept auch schon in Paris, Venedig und Tokio vorgestellt, wo er auf großes Interesse stieß.

Modulares System | Roboat setzt auf standardisierte Rümpfe, die je nach Bedarf mit anderen Aufbauten versehen werden können.

Weltweit werden die Wasserstraßen wiederentdeckt

Nicht nur dort werden die alten Wasserstraßen gerade wiederentdeckt. Europaweit gibt es mehr als 50 Fälle, in denen solche Wege für den städtischen Wirtschaftsverkehr oder Transporte auf der letzten Meile genutzt werden oder demnächst eingerichtet werden. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung der Logistik-Initiative Hamburg hervor. Führend sind demnach Frankreich, Belgien und die Niederlande. Auch hier zu Lande gibt es solche Bestrebungen – in Berlin sowie in Hamburg und im Ruhrgebiet.

Fraglich ist, welche Rolle dabei autonome Fahrzeuge spielen. In Pilotvorhaben wie A-SWARM könnten in der Tat bald führerlose Boote in See stechen. Für den überwiegenden Teil der Binnenschifffahrt aber wird es eher einen Übergang geben mit teilweiser Automatisierung – der Computer würde dann beispielsweise die Einfahrt in eine Schleuse übernehmen. Bei großen, unübersichtlichen Frachtkähnen erfordert das Manöver starke Nerven und erfahrenes Personal. Am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt wird daher an einer automatisierten Einfahrt geforscht. Präzise Abstandsmessungen und Sensoren sollen so die Arbeit der Bootsführer erleichtern und perspektivisch auch Personal einsparen. »Die Technologie ist weitgehend entwickelt, im Februar wollen wir das Verfahren im Main-Donau-Kanal testen«, sagt der Projektleiter Ralf Ziebold.

Große Binnenschiffe könnten teilautonom fahren – wenn es knifflig wird

Cyril Alias vom DST – Entwicklungszentrum für Schiffstechnik und Transportsysteme in Duisburg forscht ebenfalls am Schiffsverkehr der Zukunft. »Viele Prozesse lassen sich automatisieren, aber es gibt immer Sonderfälle, die ein Computer nicht kennt und die ein Mensch rasch lösen kann«, sagt er. Daher laufe es zunächst auf Assistenzsysteme hinaus, wo Mensch und Maschine zusammenarbeiten. Nicht zuletzt, so Alias, müssen sich die neuen Technologien auch rechnen: »Wenn sie zu teuer sind oder nicht ausreichend zuverlässig, wird sie keiner anwenden.« Dies gilt für Schiffe aber auch für die Häfen. Am DST wird gerade eine Versuchshalle gebaut, in der im Maßstab 1:16 ein Hafen mit Schiffen, Kränen und Containern entsteht. »Das ist eine ideale Lernumgebung, um Kräne mittels künstlicher Intelligenz im selbstständigen Be- und Entladen zu trainieren«, sagt Alias.

Doch was tun, wenn in einer kniffligen Situation die reduzierte Crew eines Schiffs überfordert ist oder der Computer mit einer besonderen Lage nicht zurechtkommt? Dann braucht es zusätzliche Sicherung, eine Leitzentrale, die übernimmt. An einem solchen Service für teilautonome Schiffe arbeiten unter anderem Wissenschaftler an der Universität Oldenburg. Dazu haben sie einen blauen Seecontainer aufgestellt, in dem Rechner und Monitore samt Antennen montiert sind. »Hier laufen die Informationen, die Sensoren am Schiff aufzeichnen, in Echtzeit ein«, erläutert Arne Lamm. Welche Daten erforderlich sind und wie sie am besten verarbeitet werden, werde aktuell erforscht. Am Ende entsteht eine zweite Brücke an Land für viele Schiffe auf dem Wasser, von der erfahrenes Personal unterstützen kann.

Vorausgesetzt, es ist ein LTE-Netz verfügbar, um die Daten hin- und herzuschicken. Bisher gibt es entlang der Wasserstraßen noch etliche Lücken.

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