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Der Beltringharder Koog: Die Wiedererweckung einer verlorenen Landschaft

In Nordfriesland wurde eine Bucht erst eingedeicht und dann für den Naturschutz geöffnet. Mit der Salzwasserlagune entstand eine Welt, die aus Deutschland verschwunden war. Teil 4 unserer Serie über Wildnis in Deutschland.
Blick über die Lagune

Auf dem Lüttmoordamm sind die Birder unterwegs. Einige kommen aus der Region. Man sieht es am Nummernschild – NF für Nordfriesland. Die meisten Vogelbeobachter sind von weiter weg: Dortmund, Unna, Leipzig, Hamburg. Sie sitzen in ihren Autos und schauen durch Ferngläser und dicke Teleobjektive auf die Salzwiesen, die großen und kleinen Gewässer, das Grünland, das auch im fortgeschrittenen Frühjahr noch überflutet ist. Rund drei Kilometer ist der Damm lang. Er erstreckt sich von der kleinen Siedlung Cecilienkoog bis zum Nordseedeich und der Badestelle Lüttmoorsiel. An den Beobachtungshütten und auf freier Strecke, überall gibt es was zu sehen: Wer ornithologisch weniger bewandert ist, staunt schon über die Massen an Weißwangengänsen, die hier auf dem Weg in ihre arktischen Brutgebiete rasten. Mehrere zehntausend Vögel fressen sich hier im Frühling Reserven für die anstrengende Brut an. Aus der Nähe sieht man misstrauische Graugänse, die ihre Gössel durch Priele und saftige Wiesen führen, Löffelenten mit klobigem Schnabel und Feldlerchen, die hoch über dem Damm singen.

Und Kiebitze – allein ihretwegen lohnt sich die Reise an Schleswig-Holsteins Westküste. Die Wiesenbrüter sind in den vergangenen Jahren an vielen Orten extrem selten geworden. Hier sind sie ganz nah. Man sieht ihr grün schillerndes Rückengefieder und hört ihre seltsamen Stimmen, die mehr nach Radiosendersuche klingen als nach Vogel. 900 Brutpaare leben hier. Die Profis unter den Beobachtern fokussieren sich aber auf andere Arten: Säbelschnäbler, die den leicht gebogenen Schnabel durchs Wasser ziehen, Uferschnepfen im Prachtkleid, Rotschenkel, Grünschenkel, Alpenstrandläufer, Sandregenpfeifer, Kampfläufer.

Serie: Wildnis in Deutschland

Vom Südzipfel der Republik bis in den hohen Norden – überall findet man sie inzwischen wieder, die Landschaften, in denen der Mensch die Natur Natur sein lässt. Nach Jahrhunderten der Nutzung finden sie nur langsam zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück.

Fünf von ihnen hat unser Autor Ralf Stork für diese Serie bereist. Sie zeigen, wie wirksam Wildnis sein kann angesichts allgegenwärtiger Umweltzerstörung. Und wie weit der Weg zu mehr gesunden Lebensräumen noch ist. Das selbst gesteckte Ziel, zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete umzuwandeln, hat Deutschland weit verfehlt. Aktuell sind es gerade einmal 0,6 Prozent.

Der Lüttmoordamm gehört zum Naturschutzgebiet »Beltringharder Koog«, das nördlich von Husum direkt an der nordfriesischen Küste liegt. Seine Entstehung ist das Ergebnis eines Kompromisses, der vom Naturschutz hart erkämpft wurde. Am 3. Januar 1976 wütete der Capella-Orkan über weiten Teilen der Nordseeküste und richtete schwere Schäden an: So unterspülte die Sturmflut beispielsweise den Hindenburgdamm bei Sylt. Auch an der Nordstrander Bucht beschädigte sie die Deiche sowie im Nordosten der Insel Nordstrand. 82 Menschen kamen in Deutschland und den Nachbarländern ums Leben. Weil sich eine solche Katastrophe nicht wiederholen sollte, trat der Küstenschutz auf den Plan. Durch eine verkürzte, doppelte Deichlinie sollte das Hinterland besser gesichert werden. Bestehende Pläne, die gesamte Nordstrander Bucht einzudeichen, wurden aktiviert. 5500 Hektar wertvolle Watt- und Schlickflächen drohten durch die Baumaßnahme verloren zu gehen.

Harter Kampf für mehr Naturschutz

An der Nordsee hat der Küstenschutz immer Recht: An einer zusätzlichen Eindeichung war nicht zu rütteln. Nach zähen, langwierigen Auseinandersetzungen gelang es aber einem breiten Naturschutzbündnis, den Deichbau eine Nummer kleiner zu dimensionieren. Am Ende wurden »nur« 3350 Hektar Watt eingedeicht. Außerdem wurde festgelegt, dass im gesamten Gebiet der Schutz der Natur im Mittelpunkt stehen sollte. Seit 1991 ist der gesamte Beltringharder Koog Naturschutzgebiet – es ist das größte in Schleswig-Holstein.

»Ursprünglich gab es Pläne, Muscheln und Austern im Koog zu züchten und Teile des neu entstehenden Landes für die Landwirtschaft zu nutzen«, sagt Walther Petersen-Andresen später bei einer Tour durch das Gebiet. Für das Landesamt für Umwelt hatte er seit Mitte der 1980er Jahre an der Naturschutzentwicklung des Gebiets mitgewirkt. Statt neu gewonnenen Ackerlands gibt es nun Feuchtwiesen für Wiesenbrüter. Und statt Austernzucht wurde eine Salzwasserlagune angelegt.

Ein Schwarm Alpenstrandläufer fliegt auf | Die Salz- und Süßwasserbiotope des Beltringharder Koogs können die unterschiedlichsten Standortansprüche bedienen.

Die Lagune ist insgesamt 860 Hektar groß und zentraler Bestandteil des Beltringharder Koogs. Sie setzt sich aus 555 Hektar Wasserfläche, einer Insel in der Mitte, Salzwiesen sowie Schilf- und beweideten Flächen zusammen. »Die Lagune ist der Versuch, die verloren gegangenen Wattflächen wenigstens ein bisschen zu ersetzen«, sagt Petersen-Andresen. Durch zwei große Siele strömt Meerwasser im Gleichklang der Gezeiten ein und aus. Doch der Wasseraustausch ist begrenzt. Während sich die Nordsee vor dem Deich um dreieinhalb Meter hebt und senkt, beträgt der Tidenhub in der Lagune nur 40 Zentimeter. Durch die Verbindung zur Nordsee konnte der Küstenschutz verbessert werden, und trotzdem blieben immerhin 170 Hektar Wattfläche erhalten.

Wenn der Winter kommt, werden in der Lagune regelmäßig künstliche Hochwasser erzeugt. Dann steigt das eindringende Meerwasser über sein normales Maß und überspült dabei auch die Randbereiche. Die Salzwiesen brauchen das zum Überleben. »Heute kommen in der Lagune die gleichen Arten vor wie im Wattenmeer«, sagt Walther Andresen-Petersen. Bestimmte Nordseefische fühlen sich in dem geschützten Bereich sogar besonders wohl und kommen dort in größeren Dichten vor als im umliegenden Wattenmeer. Früher gab es an der Nordseeküste jede Menge natürlicher Lagunen, die durch Eindeichungen verloren gegangen sind. Die künstliche Lagune hinter dem Deich bringt also einen Lebensraum an die Küste zurück.

Wildnis mit Einschränkungen

Ein echtes Wildnisgebiet ist sie wegen der ständigen Wasserstandsregulierung aber nicht. Sie ist, wenn überhaupt, eine Wildnis von Menschen Gnaden. So ist das häufig in Deutschland: Die schönsten Naturschutzgebiete, die wertvollsten Kleinode sind oft nur Relikte der ursprünglichen Naturlandschaften. Sie existieren lediglich, weil man sich bei oder nach der Zerstörung der Großlandschaft darauf besonnen hat, wenigstens ein paar Teile für die Nachwelt zu erhalten.

Im Beltringharder Koog ist durch den Deichbau der Großteil der ursprünglichen Wattflächen unwiederbringlich zerstört worden. Aber wenigstens sind beinahe im gleichen Umfang andere schützenswerte Lebensräume entstanden. Und im Süden des Koogs, zwischen dem Arlau-Speicherbecken, einem Süßwassersee zur Entwässerung der landwirtschaftlichen Flächen außerhalb des Schutzgebiets, und der ehemaligen Insel Nordstrand, darf eine echte Wildnis wachsen. »Bei den Verhandlungen in den 1980er Jahren hat der Naturschutz erreicht, dass eine 1300 Hektar große Sukzessionsfläche ohne menschlichen Einfluss eingerichtet wird«, sagt Petersen-Andresen.

Großer Brachvogel im Flachwasser | Der Vogel hat sich einen Krebs gefangen. Früher waren Salzwasserlagunen an der Nordseeküste häufig zu finden, inzwischen sind natürliche Lagunen vollständig verschwunden.

Ein so großes Wildnisgebiet, das sich ohne menschlichen Einfluss entwickeln kann, war damals etwas Außergewöhnliches und ist es auch heute noch. Ein Zaun markiert die Grenze zum alten Schutzdeich. Aber selbst ohne Zaun sind beide Bereiche leicht auseinanderzuhalten: Auf der einen Seite halten Schafe mit ihren Lämmern das Gras wimbledonkurz. Auf der anderen Seite haben sich braune und beige Stängel von Schilf und Röhricht auf dem ehemaligen Meeresboden ausgebreitet. Andere Stellen sind dagegen fast vegetationslos. Pioniergehölze wie Weißdorn fassen Fuß. Rothirsche und Rehe sind in die neu entstandene Landschaft eingewandert und gestalten sie durch ihren Verbiss mit. Auch Bäume gibt es schon. In der Ferne sieht man einen Bestand an Weiden, die das Schilf deutlich überragen.

Freies Spiel der Kräfte in der Sukzessionszone

»Die Artenzahl im gesamten Gebiet hat sich durch die Entwicklung der Sukzessionszone deutlich erhöht«, sagt Petersen-Andresen. Ausgedehnte Röhrichtbestände hat es in der Region zuvor nicht gegeben. Dort finden jetzt typische Bewohner wie Bartmeisen, Rohrsänger, Rohrammern und Rohrdommeln ein Zuhause. Während Petersen-Andresen von dem Wandel im Gebiet spricht, sieht man über den Schilfflächen zwei Rohrweihen kreisen. Die Greifvögel brüten am Boden im Schilf und jagen Singvögel, junge Enten und andere Wasservögel, von denen es im Beltringharder Koog reichlich gibt.

Noch weiter oben am Himmel schrauben sich einige Seeadler mit der Thermik höher und höher. Ein Paar brütet in der Sukzessionszone, dort, wo sich die Weiden langsam ausbreiten. Durchs Fernglas kann man den Horst sehen. Die Vögel haben ihn in einer 35-jährigen Salweide wenige Meter über dem Boden errichtet. »Früher hat man es für völlig ausgeschlossen gehalten, dass Adler in so mickrigen Bäumen brüten«, sagt Petersen-Andresen.

Das macht den Reiz großer Wildnisgebiete aus. Man kann vorher nicht wirklich einschätzen, wie sie sich entwickeln und welche Arten sie im Lauf ihrer Entwicklung anziehen werden. Und man sieht, wie wichtig in der vom Menschen völlig durchdrungenen Welt echte Rückzugsräume sind. Die kleine Weide ist für die Adler als Nistplatz wahrscheinlich auch deshalb ausreichend, weil sie in der Wildniszone sicher vor Störungen sind. Im Gebiet, so erzählt es Petersen-Andresen, kommen noch andere seltene Arten vor: Im Süden und Norden des Arlau-Speicherbeckens brüten Sand- und Seeregenpfeifer. In diesen Bereichen haben sich offene Flächen bis heute gehalten. Das liegt an dem Salz, das dort im Boden konzentriert ist und das den Pflanzen das Wachstum erschwert. Das liegt aber auch an den Gänsescharen im Gebiet, die Teile der Wildniszone zur Nahrungsaufnahme nutzen. Sie halten die Vegetation so kurz, dass die Regenpfeifer dort brüten können. Beide Arten brüten eigentlich gerne direkt an Stränden. Weil diese aber fast überall von Menschen okkupiert werden, sind die stark verbissenen Uferbereiche der Arlau wichtige Refugien geworden. 65 Prozent der gesamten deutschen Seeregenpfeiferpopulation brüten dort!

Wildnis um den Holmer See | Während die Lagune an die Nordsee angeschlossen ist, füllt Regenwasser die beiden kleinen Weiher und den Holmer See (im Hintergrund). Die Pflanzen im Wildnisgebiet werden auch durch Wildverbiss niedrig gehalten.

Immer neue Nischen

Das Wildnisgebiet kann sein Potenzial auch deshalb entfalten, weil es eingebettet ist in eine größere Landschaft wertvoller Lebensräume. Der Beltringharder Koog als Ganzes ist ein Hotspot der Arten und der Artenvielfalt, weil seine unterschiedlichen Bereiche miteinander in enger Beziehung stehen.

Nach dem Abstecher zum Wildnisgebiet geht es entlang der Salzwasserlagune zurück zum Lüttmoordamm. Auf dem Nordseedeich weiden die Schafe. Über der Lagune stehen Zwergseeschwalben in der Luft und stürzen sich ab und zu auf einen Fisch. Vom Deich hat man eine gute Sicht auf die Hallig Nordstrandischmoor und die Trasse der Lorenbahn im Watt, die die Hallig mit dem Festland verbindet. Der Lüttmoordamm war früher ebenfalls Teil dieser Trasse durchs Watt. Heute sind er und die umliegenden Flächen ein Paradies für Wiesenbrüter und Wasservögel. Das extensiv genutzte Grünland und die angrenzenden Süß- und Salzwasserbereiche sind zwar keine Wildnis im klassischen Sinne. Aber sie erfüllen die wichtigste Bedingung eines Wildnisgebiets: Auch sie sind frei von Störungen.

All die Kiebitze, Gänse, Säbelschnäbler, Austernfischer, Löffelenten und Schnepfen lassen die Beobachter vielleicht deshalb so nah an sich heran, weil hinter den Zäunen und auf den Gewässern keine Gefahr droht. Zumindest von den Menschen: Mit einem Mal gibt es lautes Geschnatter, ein paar tausend Weißwangengänse fliegen auf, die zuvor friedlich auf den Überflutungsflächen nördlich des Damms gerastet hatten. Kurz darauf wird deutlich, was sie aufgescheucht hat. Im Gegenlicht am Himmel sieht man groß die Silhouette eines Seeadlers, der aus dem Wildnisgebiet auf der Suche nach Beute hierhergeflogen ist.

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