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Mathematische Musik: Ein Jazzkonzert zur Mathematik von Quantenmaterialien

Ein Mathematiker und ein Musiker haben eine aktuelle Forschungsarbeit in eine Jazz-Performance umgewandelt. Das Ergebnis kann sich hören lassen!
Ein Klavier in einem Saal, auf dessen Boden mathematische Ausdrücke stehen
Dass Mathematik und Musik zusammenhängen, ist nicht neu. Aber eine Forschungsarbeit in eine Jazz-Performance zu übersetzen, ist eine Herausforderung.

Ein ungewöhnliches Team wagte 2021 ein seltsames Experiment. Zwei Jahre lang bereiteten sich der mathematische Physiker Steven Rayan und der freischaffende Komponist, Pianist und Posaunist Jeff Presslaff darauf vor, eine Frage zu beantworten: Lässt sich eine mathematisch-physikalische Forschungsarbeit musikalisch umsetzen? Und würde die Kreation gut klingen?

Im September veröffentlichten Rayan und Presslaff ihr Ergebnis: »Math + Jazz: Sounds from a Quantum Future«. Genau zwei Jahre nach dem Tag, an dem Rayan, der an der University of Saskatchewan forscht, und der im kanadischen Winnipeg lebende Presslaff erstmals per E-Mail in Kontakt traten, versammelten sie eine 15-köpfige »hyperbolische Band« von Musikern, um das fünfteilige Konzert an der University of Saskatchewan aufzuführen. Jeder Abschnitt entspricht einem Teil von Rayans Forschungsartikel.

Das Konzert, das teilweise aus einer musikalischen Darbietung und teilweise aus einem Vortrag bestand, fand vor großem Publikum statt. In der Vorlesung wurden die wissenschaftlichen Konzepte des Artikels veranschaulicht und es wurde erklärt, wie sich diese Ideen in Musik überführen lassen. Zudem zeigten künstlerische Illustrationen die hyperbolischen Zeichnungen des Künstlers und Mathematikers Elliot Kienzle.

Die Umsetzung des Konzerts war keine leichte Aufgabe. Da viele der Musikerinnen und Musiker nicht aus der Gegend stammen, konnte die Band bis zum Abend vor dem eigentlichen Konzert nicht gemeinsam proben.

Hyperbolisches Bändermodell

Die Musik lehnte sich an Rayans Forschungsartikel »Hyperbolic band theory« aus dem Jahr 2021 an, den er zusammen mit Joseph Maciejko von der University of Alberta veröffentlicht hat. Die Forscher hatten darin untersucht, ob sich das Bändermodell – mit dem Fachleute die Energieniveaus von Festkörpern beschreiben – neu formulieren ließe, um hyperbolische Materialien zu erklären, deren Atome unregelmäßig und verzerrt angeordnet sind.

Ähnlich wie Orbitale den Energieniveaus einzelner Atome oder Moleküle entsprechen, bedient man sich in der Festkörperphysik der Bänder. Die Energieniveaus von Festkörpern, die aus Abermilliarden Atomen bestehen, werden durch flächige Bänder dargestellt. Daraus lassen sich die Quanteneigenschaften und das Verhalten eines Materials ableiten.

Rayan und Maciejko ist es gelungen, ein Bändermodell zu entwickeln, das für hyperbolische Geometrien funktioniert. Letztere beschreiben seltsame Welten, in denen das Parallelenaxiom von Euklid nicht erfüllt ist. Dieses Axiom besagt, dass durch jeden Punkt außerhalb einer Geraden genau eine andere Gerade führt, die parallel zur ursprünglichen Gerade ist – sie also nicht schneidet. In einer hyperbolischen Welt gehen hingegen mindestens zwei Geraden durch einen Punkt außerhalb der vorgegebenen Gerade. Es gibt daher mehr als eine Parallele zu einem bestimmten Abstand einer Geraden.

»Die Forschung ist ein völlig neuer Ansatz für das Design von Materialien – insbesondere von Quantenmaterialien. Dabei wird ihre Geometrie von innen nach außen umgestaltet«, sagt Rayan. Bei diesem Ansatz wird die Bandstruktur eines Materials verändert, um die gewünschten Materialeigenschaften zu erhalten. »Sie können ungewöhnliche, exotische Geometrien annehmen«, sagt er.

Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass eine gekrümmte Fläche mit Achtecken bedeckt wird, so dass keine Lücken zwischen den sich nicht überlappenden Formen entstehen. Für das menschliche Auge erscheinen die Kanten dieser Achtecke gekrümmt, und die Formen sehen aus, als seien sie unterschiedlich groß, erklärt Rayan. »Aber wenn man eine andere Art von Auge hätte, das die Welt auf hyperbolische Weise sieht – vielleicht ein insektenähnliches Facettenauge –, dann würden die Achtecke alle gleich aussehen.«

»Die Arbeit ist eine Einladung für Mathematiker, ihre Komfortzone zu verlassen«Michael Groechenig, Mathematiker

Die Arbeit fand auch bei anderen Forschenden Beachtung. »Ich bin sehr beeindruckt von der Verbindung zwischen Materialwissenschaft und algebraischer Geometrie, die die Autoren aufgedeckt haben«, sagt der Mathematiker Michael Groechenig von der University of Toronto, der nicht an der Arbeit beteiligt war.

Rayan freut sich darauf, die neuen Erkenntnisse auf ungewöhnliche Materialien anzuwenden, die das Potenzial für »bahnbrechende Anwendungen« haben, etwa im Bereich von Quantencomputern. »Es ist sehr erfreulich zu sehen, dass jemand eine wichtige Anwendung dieser Methoden von so konkreter Natur zeigt«, sagt Groechenig. »Die Arbeit ist eine Einladung für uns Mathematiker, unsere Komfortzone zu verlassen und bisher unbekanntes Terrain zu erkunden«, fügt er hinzu.

Mathematik in Musik übersetzen

Die Komposition eines mathematischen Musikstücks ist eine eigene Art der bahnbrechenden Anwendung von Forschung. »Ich wollte nicht, dass die Musik impressionistisch wird«, sagt Presslaff. »Sie sollte wirklich der Mathematik entsprechen. Ich habe schon zu viele interdisziplinäre Projekte gesehen, die mir einfach zu oberflächlich erschienen. Die wissenschaftliche Seite mag stringent sein, aber die künstlerische Seite meist nicht.«

Rayan stimmt dem zu: »Ich wollte nicht nur Musik produzieren, die irgendwie lose von Mathematik und Wissenschaft inspiriert war, sondern die Mathematik Satz für Satz, Gleichung für Gleichung in musikalischer Form nacherzählen.«

Um sich dieser Herausforderung zu stellen, mussten beide Experten Konzepte aus den Fachgebieten des jeweils anderen lernen. Presslaff vertiefte sich in Themen aus der linearen Algebra und der Topologie, die ihm halfen, das Innenleben der Forschungsarbeit nachzuvollziehen. Rayan versuchte, »die fortgeschrittenen musikalischen Ideen, die Presslaff einbrachte, so gut wie möglich zu verstehen«.

»Es war nie sicher, ob wir es schaffen würden – nicht einmal sechs Wochen vor der Aufführung«Steven Rayan, mathematischer Physiker

Die beiden tauschten etwa 18 Monate lang Ideen aus, bevor Presslaff überhaupt mit dem Komponieren begann. »Ich habe Jeff bis zum Tag vor der Aufführung am 20. September 2023 nie persönlich getroffen«, sagt Rayan. »Wegen der Pandemie und der Entfernung war alles auf Zoom eingestellt. Es war eine faszinierende Arbeitsweise und es ist erstaunlich, dass wir das auf rein virtuellem Wege erreichen konnten.«

Doppelfugen und unendliche Formen

Es ist schwer zu sagen, ob Rayan und Presslaff ihr ehrgeiziges Ziel erreicht haben: die wichtigsten Ideen aus Rayans Arbeit direkt in Jazzmusik umzusetzen. Anders als in der mathematischen Forschung gibt es keinen Beweis dafür. Dennoch ist das Duo mit dem Ergebnis zufrieden. »Es war nie sicher, ob wir es schaffen würden – nicht einmal sechs Wochen vor der Aufführung«, sagt Rayan.

Der Bratschist Shah Sadikov von der Hyperbolic Band sagt, ein Höhepunkt des Konzerts sei gewesen, als Presslaff eine Doppelfuge verwendete: eine musikalische Technik, die laut Sadikov sehr schwierig umzusetzen ist. Mit dieser stellte Presslaff den Aufbau einer unendlichen Form dar. Mathematisch gesehen bedeutet das die Schaffung eines Objekts ohne Anfang und ohne Ende, aus musikalischer Sicht bedeutet die Erzeugung einer Doppelfuge, »dass man eine Idee zur Grundlage des Musikstücks macht, und dann nimmt man genau dieselbe Idee und setzt sie ein wenig später darauf und so weiter«, sagt Sadikov. »Man erzeugt diese Schichten von Ideen. Und dann kann man Gegenideen dazu verwenden, indem man entweder dieselbe musikalische Idee nimmt und sie nach hinten oder nach oben setzt.«

»Wir wollten in der Musik den Sprung von zwei Dimensionen zu vier Dimensionen einfangen«Steven Rayan, mathematischer Physiker

Für Rayan war Presslaffs musikalische Interpretation des Teilchen-Wellen-Dualismus oder des Ort-Impuls-Dualismus im hyperbolischen Bändermodell ein Höhepunkt des Stücks. In diesem Zusammenhang können Impulse mehr Dimensionen annehmen als Positionen. »Wir wollten in der Musik den Sprung von zwei Dimensionen zu vier Dimensionen in den einfachsten dieser Materialien, die auf achteckigen hyperbolischen Gittern basieren, einfangen«, sagt Rayan.

»Für mich war es eine bewegende Erfahrung, Presslaffs Versuche zu hören, zusätzliche Stimmen in die Musik einzuführen, die die zusätzlichen Freiheitsgrade, den plötzlichen Sprung in zwei zusätzliche Dimensionen, einfangen«, erzählt Rayan. »Ich fand es toll zu sehen, wie das Publikum versuchte, diese zusätzlichen Stimmen herauszuhören, nachdem er sie erklärt hatte.«

Das Konzert enthielt ein weiteres künstlerisches Element: Kienzles handgezeichnete Illustrationen. Kienzle, der inzwischen an der University of California in Berkeley studiert, schuf die mathematischen Illustrationen für ein verwandtes Forschungsprojekt, an dem er und Rayan während Kienzles Studium an der University of Maryland in College Park arbeiteten. »Das war ein Versuch, die Geschichte durch eine visuelle Komponente zu erzählen«, sagt Rayan. Während des Konzerts unterstützten die Illustrationen die musikalischen und verbalen Erklärungen der Mathematik.

Rayan sieht in der musikalischen und künstlerischen Interpretation seiner Forschung eine Möglichkeit, den Kreis zu schließen: Viele mathematische und wissenschaftliche Konzepte, die er in seinen Arbeiten verwendet, entlehnen Ideen aus der Welt der Kunst. So erinnern beispielsweise hyperbolische Kacheln an die ikonischen Holzschnitte des niederländischen Grafikers M. C. Escher. Rayan plant, weitere Wege zu erforschen, um mathematische und künstlerische Perspektiven zu verbinden, um der Kunst etwas zurückzugeben und gleichzeitig neue Erkenntnisse für seine Forschung zu gewinnen.

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