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Getränke-Phänomen: Exotische Stoßwellen lassen Wein tränen

Wie die feinen Flüssigkeitsfilme und -tropfen in Gläsern mit Alkoholika zu Stande kommen, ist im Detail noch immer ungeklärt. Nun gibt es einen neuen Ansatz.
Schatten der Weintränen uf blauem Hintergrund.

Beinchen, Kirchenfenster oder eben Tränen: All diese Begriffe bezeichnen einen kuriosen Effekt, der Menschen fasziniert, seit sie alkoholische Getränke in Gläser füllen. Wenn man ein solches im Glas schwenkt, läuft die Flüssigkeit nicht etwa einfach wieder von der Wand nach unten ab. Stattdessen bleibt der Flüssigkeitsfilm entgegen der Schwerkraft an der Glaswand kleben und bildet an seiner Oberkante eine Art Wulst, von dem einzelne Tropfen – die Tränen – zurück nach unten laufen. Warum diese Tränen entstehen, ist bisher völlig mysteriös. Nun könnte ein völlig unerwartetes Phänomen das Rätsel lösen: Eine Arbeitsgruppe um Andrea L. Bertozzi von der University of California in Los Angeles macht eine exotische Form von Stoßwellen für das Geschehen im Flüssigkeitsfilm verantwortlich.

Der Flüssigkeitsfilm selbst entsteht durch den Marangoni-Effekt, benannt nach einem italienischen Physiker, der das Prinzip in den 1860er Jahren beschrieb. Aus dem Film an der Glaswand verdunstet kontinuierlich Alkohol, so dass der Anteil an Wasser steigt. Dadurch bekommt der Flüssigkeitsfilm eine höhere Oberflächenspannung als der Wein im Glas, und diese zieht mehr Flüssigkeit die Wand hoch: Die Verdunstung des Alkohols erhält den Flüssigkeitsstrom gegen die Schwerkraft – manchmal über Minuten.

Während das grundsätzliche Prinzip hinter dem Phänomen bekannt ist, geben die Details des Prozesses bis heute Rätsel auf. Laut theoretischen Modellen sollte sich durch die aufsteigende Strömung eine klassische Stoßfront bilden. Die aber wäre instabil und zerfiele in fingerförmig nach oben kriechende Segmente, statt einen langen, geraden Flüssigkeitswulst und einzeln zurückfließende Tränen zu bilden. Bertozzis Team erklärt diese Besonderheit mit einer exotischen Form von Stoßfront, die sich immer wieder von der Unterkante des Films löst und über den Film nach oben wandert. Anders als bei einer normalen Stoßfront strömt die Flüssigkeit über dieser »unterkompressiven« Stoßfront schneller als darunter; außerdem ist der Film darüber dicker, deswegen bezeichnet das Team die Stoßfront als umgedreht.

Die Stoßfront entsteht durch eine Instabilität am unteren Rand des Flüssigkeitsfilms: Entlang der Grenze zur Flüssigkeit im Glas schnürt sich der Film quasi ab, es bildet sich ein »Graben«. Die Oberflächenspannung des Films zieht nun die neu entstandene Stufe in der Flüssigkeit als unterkompressive Stoßfront nach oben. Die Front bleibt dabei nicht nur als scharfe Kante erhalten, sondern bildet auch keine fingerförmigen Instabilitäten aus. Am oberen Rand des Films entwickelt sich deswegen aus den nach oben wandernden Fronten ein durchgehender Flüssigkeitswulst, von dem die großen Tränen des Weins ausgehen.

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