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Expertenstreit: Ist das Wetter schuld am Insektensterben?

Vor sechs Jahren schlugen Wissenschaftler Alarm, die Biomasse fliegender Insekten sei drastisch zurückgegangen. Eine neue Studie macht nun die Witterung dafür verantwortlich. Doch Experten zweifeln die Methodik an.
Tote Bienen
Schon Rachel Carson beklagte 1962 in ihrem Buch »Der stumme Frühling«, dass die einstmals reiche Tier- und Pflanzenwelt nach dem Einsatz von Pestiziden jämmerlich zu Grunde geht.

Seit Jahrzehnten machen Wissenschaftler und Naturschützer die industrielle Landwirtschaft dafür verantwortlich, dass die natürliche Artenvielfalt schwindet und insbesondere die Insektenwelt zunehmend verarmt. Der dramatische Rückgang von Tier- und Pflanzenarten sei »im Wesentlichen bedingt durch die Intensivierung der Landnutzung«, schrieb etwa die Nationalakademie Leopoldina vor drei Jahren in einer viel beachteten Stellungnahme. Nun sorgt eine Studie im Fachmagazin »Nature« für Aufsehen – und auch für Kritik.

Ein Forschungsteam um den Tierökologen Jörg Müller von der Universität Würzburg kommt darin zu dem Schluss, dass in Wahrheit weder Pestizide noch der Verlust naturnaher Lebensräume hinter den beobachteten negativen Trends stecken. Müller ist sich sicher, in Wetter- und Klimadaten den Schlüssel dafür gefunden zu haben, warum zwischen 1989 und 2016 immer weniger fliegende Insekten in den deutschlandweit verteilten Insektenfallen des Entomologischen Vereins Krefeld landeten.

Die als »Krefeld-Studie« bekannt gewordene Untersuchung sorgte 2017 weltweit für Schlagzeilen. Von einem »Insekten-Armageddon« sprach etwa die »New York Times«. »Insekten sind in ernsten Schwierigkeiten«, titelte »The Atlantic«. In der zugehörigen Veröffentlichung im Journal »PLOS ONE« hatte das Team um den Biostatistiker Caspar Hallmann und den Entomologen Martin Sorg dargelegt, dass die Biomasse fliegender Insekten in Deutschland zwischen 1989 und 2016 an rund 63 Standorten um insgesamt rund 75 Prozent abgenommen habe. Dass nicht jedes Fangzelt jährlich untersucht worden war und nur die Biomasse, also das Gewicht der gefangenen Insekten, nicht aber die Artenvielfalt im Zentrum stand, löste schon damals Kritik aus. Doch Fachkollegen erklärten den gemessenen Trend für robust genug, um berechtigterweise Alarm zu schlagen.

Die Autoren der »Krefeld-Studie« betonten vor sechs Jahren, dass sich aus den Daten keine eindeutige Ursache für den Insektenschwund ableiten lasse, es sich aber um einen »großskaligen Faktor« handeln müsse. Wetterveränderungen reichten als Erklärung nicht aus oder hätten sogar zu einer Zunahme von Insekten führen müssen, gaben sie zu bedenken. Eine »plausible Ursache« sei dagegen die Intensivierung der Landwirtschaft. Viele der bundesweit verteilten Probeflächen hätten in der Nähe von Äckern gelegen.

Widrige Witterungsbedingungen

Mit der neuen »Nature«-Studie dreht die Gruppe um Jörg Müller den Spieß nun um: Die Analyse der Daten hätte ergeben, dass man den zeitlichen Trend mit den Witterungsdaten erklären könne, urteilt sie. Dies lege Wetteranomalien und Klimawandel als Hauptursachen nahe. Als besonders relevanten, negativ wirksamen Faktor benennen die Forscher in der Studie höhere Temperaturen sowie weniger Niederschläge vor allem im Winter. Das könnte dazu führen, dass Insekten bei der Überwinterung gestört würden, austrockneten oder leichter ihren Fressfeinden zum Opfer fielen. »In anderen Jahren waren es ungünstige Frühjahrsbedingungen, die den Schlupf beeinträchtigten«, heißt es in einem Begleitartikel, der auf Deutsch erschienen ist, »oder es waren widrige Witterungsbedingungen während der Flugzeit wie in einem nassen und kalten Sommer.« Wie genau diese Muster zum Klimawandel passen, lässt die Studie offen. Die Forscher betonen aber, der Klimawandel mache effektive Naturschutzmaßnahmen umso wichtiger.

Und Müllers Veröffentlichung enthält noch eine weitere erstaunliche Behauptung: Seit einigen Jahren sei bei der Biomasse eine Trendumkehr zu beobachten, heißt es. Dies hätte die Auswertung von Insektenfallen in Bayern zwischen 2016 und 2022 ergeben. Allerdings müsse man, so heißt es, deutlich unterscheiden zwischen der reinen Biomasse, also dem Gewicht der gefangenen Insekten, und der Artenvielfalt, das heißt der Zahl unterschiedlicher Insekten. Dass die Biodiversität deutlich zurückgeht, bezweifelt die neue Studie nicht.

»Die aktuelle Studie ist in ihrer Kernaussage absolut fatal und hätte von ›Nature‹ in dieser Form nicht publiziert werden sollen«Christoph Scherber, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels

Eine ganze Reihe prominenter Forscher, die an der Studie nicht beteiligt waren, äußerten in Stellungnahmen für das Science Media Center (SMC) teils fundamentale Kritik. Am weitesten geht dabei Christoph Scherber vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Bonn: »Die aktuelle Studie ist in ihrer Kernaussage absolut fatal und hätte von ›Nature‹ in dieser Form nicht publiziert werden sollen«, erklärt er. Dass das Wetter Insektenpopulationen beeinflusse, sei schon lange bekannt. Schließlich seien die Tiere wechselwarm und ihre Aktivität sei stark von Temperatur und Feuchtigkeit geprägt. Daraus sollte man aber keinesfalls folgern, dass andere Einflussgrößen unbedeutend seien, »im Gegenteil«. Es gebe eine Unmenge an experimentellen Studien, die negative Auswirkungen etwa von Düngung, Pflanzenschutz und Bodenbearbeitung dokumentierten.

Wie Johannes Steidle, Direktor des Zoologischen Museums an der Universität Hohenheim, betont, erlaubt es die neue Studie nicht, den Insektenschwund auf die Witterung zu reduzieren. Müllers Analyse zeige, dass die Landwirtschaft einen etwa gleich großen Einfluss hat. Wie beim Wetter lasse sich damit rund ein Fünftel der Schwankungen in den Daten erklären. »Je höher der Anteil landwirtschaftlicher Nutzfläche ist, desto niedriger die Masse an gefundenen Insekten«, sagt Steidle. Er äußert sogar Zweifel daran, dass »die Studie korrekt durchgeführt wurde«.

Wetter hat Einfluss auf landwirtschaftliche Praktiken

Der Ökotoxikologe Carsten Brühl von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau merkt an, dass das Wetter zudem einen erheblichen Einfluss auf die landwirtschaftliche Praxis habe – »zum Beispiel auf die Termine des Pflügens, der Aussaat und des Mähens, die alle relevant für Insekten sind«. Auch Pestizide würden je nach Wetter mehr oder weniger eingesetzt. Das könne bedeuten, dass die Wetterdaten zwar statistisch mit den Rückgängen korrelieren, aber eben nicht deren wahre Ursachen sind, sondern nur Begleitfaktoren. Daten über die landwirtschaftlichen Praktiken hat Müllers Team nicht ausgewertet.

Brühl war an mehreren Studien beteiligt, denen zufolge Insekten, die in Naturschutzgebieten leben, mit einer Vielzahl von Pestiziden belastet sind. Wie andere Kritiker sieht er das Risiko, dass die neue Studie eine reine Korrelation fälschlicherweise als kausale Ursache darstellt. Und auch der Biostatistiker Hans-Peter Piepho gibt zu bedenken, dass es viele Variablen gibt, die statistisch gut zu den Trends passen, aber gar nichts mit Insekten und ihrer Biomasse zu tun haben.

Von anderen Experten kommt hingegen Zuspruch. So zeigt sich Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für Biodiversitätsforschung in Halle »beeindruckt von der Gründlichkeit der Analyse«. Und Josef Settele, wegen seiner führenden Rolle im Weltbiodiversitätsrat IPBES einer der wichtigsten deutschen Forscher auf diesem Gebiet, spricht von einem »wesentlichen Erkenntnisgewinn«. Settele hält es aber für problematisch, dass in den Analysen nur für das Wetter detaillierte Daten eingesetzt worden seien, nicht aber zum Beispiel für den Pestizideinsatz. Er bekräftigt, dass man zwischen Veränderungen der Biomasse und Veränderungen der Artenvielfalt klar unterscheiden müsse: »Beim Befall durch Borkenkäfer in eher monotonen Forsten können wir über eine zu geringe Insektenbiomasse kaum klagen.« Im Rahmen des koordinierten Tagfalter-Monitorings in Deutschland habe man in den vergangenen Jahren nur einen leichten Rückgang der Biomasse beobachten können, dagegen aber einen deutlichen Rückgang der Artenzahl.

Dass die neue Studie leicht dazu instrumentalisiert werden kann, die Landwirtschaft von ihrer Mitverantwortung für den Zustand der Natur in Deutschland freizusprechen, ist Erstautor Jörg Müller bewusst: »So was ist zu erwarten«, teilt er auf Anfrage mit. Er verweist auf das Begleitpapier seines Teams in deutscher Sprache, das die Verantwortung der Landwirtschaft thematisiere.

»Die Studie erweckt den Eindruck, dass sich die Trends auf einen einzigen Faktor zurückführen lassen«Thomas Hörren, Vorsitzender des Entomologischen Vereins Krefeld

Darin heißt es, die neuen Ergebnisse, die auf die Witterung und den Klimawandel als wichtige Ursache hinwiesen, stünden »nicht in Widerspruch zu früheren Untersuchungsergebnissen zur Rolle von Landnutzung bei Artenverlusten«. Je intensiver die Landschaft bewirtschaftet werde, desto kleiner und anfälliger seien vor allem Restpopulationen bereits seltener Arten. Es brauche unbedingt mehr und höherwertige Habitate für Insekten, »damit Teilpopulationen während Phasen mit großräumig ungünstiger Witterung nicht aussterben, sondern fortbestehen und sich wieder erholen können«. Auch die Autorinnen und Autoren der »Nature«-Studie geben also nicht jene Entwarnung, die nun mit hoher Wahrscheinlichkeit von Bauernverbänden in sie hineingelesen wird.

Widerspruch erntete die Gruppe um Müller auch von Mitgliedern des Entomologischen Vereins Krefeld. Die Studie erwecke den Eindruck, dass sich die Trends auf einen einzigen Faktor zurückführen ließen, erklärte der Vorsitzende Thomas Hörren. Das sei falsch. Zudem könne man eine Zunahme der Biomasse in Insektenfallen, wie Müllers Team sie für den Zeitraum von 2016 bis 2022 in Teilen Bayerns angibt, »anhand deutlich umfangreicherer Forschungsprojekte zu Insektenbiomassen nicht bestätigen«. Wohl nicht ganz zufällig publizierte der Entomologische Verein Krefeld fast gleichzeitig zur »Nature«-Studie ein noch nicht begutachtetes Preprint auf »bioRxiv«, das Messungen an 21 Standorten in bundesweit verteilten Schutzgebieten analysiert. »Unsere Studie bestätigt das niedrige Niveau der Insektenbiomasse in deutschen Naturschutzgebieten im Vergleich zu den verfügbaren Daten von vor zwei bis drei Jahrzehnten«, heißt es darin. Den von Müllers Team beobachteten Zuwachs an Biomasse gebe es bundesweit betrachtet definitiv nicht.

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