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Sexualität: Im Westen kein Sperma

Seit den 1970er Jahren hat die Spermienanzahl von Männern aus westlichen Industrienationen um mehr als die Hälfte abgenommen. Was ist die Ursache dafür? Und stimmen die Zahlen überhaupt? Es ist kompliziert.
Künstlerische Darstellung von gesunden Spermien

Die Sperma-Krise wurde im Sommer 2017 ausgerufen: Wissenschaftler von der Hebräischen Universität Jerusalem hatten in der bis dahin umfangreichsten Analyse zu diesem Thema bestätigt, wofür es bereits einige Zeit Indizien gab: Die Männer der Industrienationen produzieren immer weniger Spermien – im Vergleich zu vor 40 Jahren nur noch halb so viele. ­Und der Rückgang sei über die Jahre relativ konstant gewesen, berichtete das Forscherteam in seiner Publikation, die im Juli 2017 in der Fachzeitschrift »Human Reproduction Update« erschien. Ergebnisse, die Besorgnis erregend klingen und wohl für Aufsehen sorgten – mutmaßlich nicht wegen der angeblich traditionell nachrichtenarmen Sommermonate.

Bereits vorher hatten etliche andere wissenschaftliche Untersuchungen diesen Trend erkannt, aber entweder waren die dabei analysierten Datenmengen zu gering oder die Methoden wiesen gravierende Mängel auf. Bezüglich der Studie aus Israel ließ sich diese Kritik nicht mehr aufrechterhalten: Akribisch hatten die beteiligten Wissenschaftler nach allen bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten wissenschaftlichen Sperma-Studien gefahndet. Insgesamt rund 7500 hatten sie gefunden.

Der Großteil der Arbeiten war jedoch nicht geeignet, um sie in die Metaanalyse einzuschließen. Bei ihnen hatte nämlich eine Vorauswahl der Teilnehmer stattgefunden: Sie litten zum Beispiel an bestimmten Krankheiten oder nahmen Medikamente ein, waren Raucher oder klagten ohnehin über Fruchtbarkeitsprobleme. Solche Selektionen verfälschen das Ergebnis. Daher hatten die Forscher nur diejenigen Studien herausgepickt, bei denen die Probanden nicht auf Grund bestimmter Kriterien teilgenommen hatten. Dazu zählen etwa Spermauntersuchungen von Militärdienstleistenden oder College-Studenten.

Im Westen kein Sperma

Am Ende waren 185 Arbeiten übrig geblieben. Das reicht aus, um statistisch signifikante Ergebnisse zu erhalten – und die haben es in sich: In den westlichen Industrienationen ist die Spermienkonzentration im untersuchten Zeitraum von 1973 bis 2011 um 52 Prozent zurückgegangen und die Spermienanzahl pro Samenerguss sogar um nahezu 60 Prozent, so die alarmierenden Befunde der Studie. Ein weiteres überraschendes Detail: In der restlichen Welt, etwa Südamerika, Asien oder Afrika, gibt es diesen Trend nicht.

Über die Ursachen des Spermienrückgangs machten die beteiligten Wissenschaftler in der Publikation keine Aussage. Sie plädieren lediglich dafür, die Gründe und Auswirkungen dieses Rückgangs dringend zu erforschen.

Als Reaktion auf die Studienergebnisse meldeten sich etliche Experten zu Wort und mahnten zur Besonnenheit. Sabine Kliesch, Chefärztin für Klinische und Operative Andrologie am Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie des Universitätsklinikums Münster, äußerte in einem Statement gegenüber dem Science Media Center etwa, man solle die Daten nicht überbewerten: »Es besteht meines Erachtens kein Grund, beunruhigt zu sein! Die gezeigten Veränderungen befinden sich alle in einem hoch-normalen Bereich (…).«

Unfruchtbarkeit lässt sich daraus nicht ableiten

Der Zellbiologe Artur Mayerhofer, Professor am Biomedizinischem Centrum der Ludwig-Maximilians-Universität München, gab gegenüber dem Science Media Center zu bedenken, dass weder die Spermienfunktionalität wie Beweglichkeit noch morphologische Veränderungen in der Analyse berücksichtigt worden seien. Bezüglich der Fruchtbarkeit sind das aber entscheidende Parameter. Daher lasse sich aus den Daten nicht ableiten, ob Männer tatsächlich unfruchtbarer geworden sind, meint Mayerhofer.

Spermien vor Eizelle | Weniger Spermien bedeuten nicht automatisch eine geringere Fruchtbarkeit. Viele andere Faktoren entscheiden darüber mit, ob ein Spermium eine Eizelle erreicht.

Auch für Stefan Schlatt, Direktor des Zentrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster, bestand auf Grund der Ergebnisse kein Grund zur Panik. »Der Mann stirbt nicht aus.« Die Männer in den westlichen Industrienationen hätten im Schnitt immer noch rund 47 Millionen Spermien je Milliliter Ejakulat. »Das ist eine stolze Zahl; damit ist der Mann sehr fertil«, äußerte sich der Biologe damals. Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt als Grenze 15 Millionen Spermien pro Milliliter an. Alles darunter gilt als niedrig und kann mit Problemen bei der Fortpflanzung einhergehen.

»Der Mann stirbt nicht aus«Stefan Schlatt

Erneute Nachfrage bei Schlatt, zwei Jahre später. Ist der Rückgang denn wirklich nicht bedenklich? Auch weiterhin sieht der Reproduktionsmediziner die Fruchtbarkeit des Mannes nicht in Gefahr. Die Abnahme der Spermienanzahl hält er jedoch für eine Tatsache – auch wenn nicht alle systematischen Fehler beseitigt wurden: »Die heute angewendeten standardisierten Verfahren haben sich erst über die Jahrzehnte entwickelt – und selbst heute hat man teilweise noch Schwierigkeiten, Messungen aus unterschiedlichen Laboren miteinander zu vergleichen.«

Besonders die Referenzdaten aus den 1970er Jahren stünden auf sehr wackligen Füßen. Gleichwohl könnten diese Mängel in den Messungen nicht den beobachteten Rückgang erklären. »Die Anzahl der Spermien bei Männern in den westlichen Ländern sinkt tatsächlich – und dafür muss es Ursachen geben«, sagt Schlatt. Aber welche, das wisse man noch nicht.

Der Reproduktionsexperte vermutet, dass etliche Faktoren eine Rolle spielen könnten. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Funktionsweise des Hodens. Der Mensch habe die Fähigkeit, die Spermienanzahl zu modulieren – und zwar mittels zweier Hirnareale, des Hypothalamus und der Hypophyse. »Hier wird gewissermaßen abgefragt, wie viele Spermien produziert werden sollen.« Die Antwort hängt von verschiedenen Parametern ab. Bei Krankheit, Stress oder Übergewicht produzieren die Hoden zum Beispiel deutlich weniger oder sogar fast keine Spermien. Etliche Faktoren können also die Menge der Spermien verringern.

Ein Konglomerat aus Einflüssen

Zudem hänge die Spermienanzahl stark davon ab, wie oft ein Mann ejakuliere, so Schlatt. Etwa sieben Tage dauert es, bis der Nebenhoden, das Speicherorgan, in dem die Spermien auf ihren Einsatz warten, komplett gefüllt ist. Männer, die diesen Speicher aber täglich entleeren, haben viel weniger Spermien im Ejakulat als solche, die dies nur einmal pro eine Woche tun. »Jetzt nehmen wir mal an, dass wir in den westlichen Industrienationen häufiger ejakulieren als noch vor 40 Jahren.«

Gründe dafür ließen sich wohl finden, etwa: geringerer Einfluss der Kirche, mehr Pornografie, größere sexuelle Freiheit. Das Resultat: »Die Portionen werden kleiner – aber nicht so klein, dass sie in einen abnormalen Bereich rutschen«, so Schlatt. Unsere heutige Spermienanzahl entspreche einfach derjenigen eines regelmäßig ejakulierenden Mannes, spekuliert der Forscher. Das wäre eine ziemlich banale Erklärung für die »Spermakrise«.

Beunruhigender wäre es hingegen, wenn die zunehmenden Fälle von Hodenkrebs beim Rückgang der Spermien eine Rolle spielen würden. Bislang gibt es zwar noch keine Hinweise darauf – denkbar wäre aber auch das, so Schlatt. Den Ursprung für steigende Zahlen an Hodenkrebs vermuten Experten in der Entwicklungsphase des Hodens im Embryo. »Offenbar passiert irgendetwas in der Frühschwangerschaft, was die Hodenaktivität und die so genannte Keimzelldifferenzierung beeinflusst.« Das kann dann zu Krebs im Erwachsenenalter führen – und vielleicht auch zu einer verringerten Spermienproduktion.

Hodengröße beeinflusst Spermienanzahl

Wie schwierig es allerdings ist, den Rückgang der Spermien richtig einzuordnen, wird deutlich, wenn man die Variabilität der Spermienanzahl bei unterschiedlichen Gruppen von Männern analysiert: Je größer die Hoden, desto mehr Sperma produzieren diese. Und die Größe variiert offenbar signifikant zwischen verschiedenen Völkern: Schweden hätten beispielsweise ziemlich große Hoden, Finnen und Dänen eher kleine, erzählt Schlatt.

In den USA gibt es je nach Region signifikante Unterschiede, was daran liegt, dass dort jeweils andere Völker eingewandert sind. Das bedeutet: Die durchschnittliche Anzahl an Spermien hängt auschlaggebend davon ab, wo man die Daten erhebt. Gut konzipierte Studien können diesen Einfluss eliminieren, jedoch sind derartige Untersuchungen bislang Mangelware. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Variable nur eine unter vielen ist, die es zu kontrollieren gilt. Schlatt glaubt daher: »Es ist fast unmöglich, Studien zu entwerfen, die alle Faktoren berücksichtigen.«

Über eine weitere mögliche Ursache der abnehmenden Spermienmenge spekulierte die an der israelischen Studie beteiligte Wissenschaftlerin Shanna H. Swan in einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2017: Die Tatsache, dass man den Rückgang nur in der westlichen Welt beobachte, deute stark darauf hin, dass kommerziell eingesetzte Chemikalien eine kausale Rolle spielen könnten.

Weichmacher schaden den Spermien

Eine Kausalität zwischen dem Einsatz bestimmter Chemikalien und dem Rückgang sei sehr schwierig nachzuweisen und erfordere weitere, breit angelegte Forschungsanstrengungen, erklärte Sabine Kliesch gegenüber dem Science Media Center. Und auch Schlatt vertritt eine ähnliche Meinung: »Es gibt keine Evidenz dafür, dass es irgendwelche bestimmten Chemikalien sind.« Unbestritten sei jedoch, dass bestimmte Stoffe, so genannte endokrine Disruptoren, negative Auswirkungen auf die Spermienqualität haben. Wenn solche Stoffe in den Körper gelangen, können sie bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen. Sie werden daher auch als Umwelthormone bezeichnet.

Dass solche Stoffe einen negativen Einfluss auf die Fruchtbarkeit haben, ist bereits in etlichen Untersuchungen gezeigt worden. Relativ aktuelle Beweise lieferte etwa das Forscherteam um Richard G. Lea, Professor für Reproduktionsbiologie an der University of Nottingham: Es hatte herausgefunden, dass die Spermienqualität auch bei Hunden, die als Haustiere gehalten wurden, über die letzten drei Jahrzehnte hinweg deutlich nachgelassen hat. Die Forscher schließen daraus, dass Stoffe in der direkten Umgebung der Tiere und deren Herrchen die Spermien schädigen. In einer Publikation, die im Frühjahr 2019 im Fachblatt »Nature« erschien, stellten die Wissenschaftler dann den Einfluss zweier Chemikalien, DEHP und PCB153, auf die Spermienqualität von Hunden und Menschen vor.

DEHP ist einer der prominentesten Weichmacher in Plastikprodukten, der in die Nahrung übergehen kann. PCB153 ist in bestimmten fettigen Lebensmitteln enthalten. Bereits in niedrigen Konzentrationen, so die Wissenschaftler, beeinflussen die Stoffe die Spermienqualität von Mensch und Hund negativ. Dass DEHP die Fruchtbarkeit verringert, ist allerdings schon lange klar. Daher ist in vielen Ländern die Verwendung dieses Weichmachers bereits massiv eingeschränkt worden. Innerhalb der EU darf die Industrie DEHP beispielsweise bereits seit Anfang 2015 nicht mehr ohne spezielle Zulassung verwenden.

Nur der Westen betroffen?

Schlatt glaubt jedoch nicht daran, dass lediglich einzelne Stoffe den Spermienrückgang zu verantworten haben. Dann müsste auch in vielen nichtwestlichen Ländern ein ähnlicher Rückgang zu verzeichnen sein. Denn er ist der Meinung, dass in manchen Teilen der Erde die Menschen solchen Schadstoffen noch mehr ausgesetzt sind als in der westlichen Welt.

Allerdings gibt es begründete Zweifel daran, dass der Rückgang tatsächlich nur in den westlichen Industrienationen zu beobachten ist: »In Asien und Afrika finden kaum Studien statt. Die allermeisten Daten haben wir aus Europa und den USA.« Sinnvolle Vergleiche gelingen jedoch nur, wenn in allen Teilen der Erde über mehrere Jahre standardisierte Daten erhoben werden. Gleichwohl gibt es solche Arbeiten nicht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO plant, dies in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu ändern. Erst dann wird sich zeigen, ob die Spermienanzahl tatsächlich nur in der westlichen Welt rückläufig ist.

Die Frage, was mit unserem Sperma los ist, kann also bislang nicht zufrieden stellend beantwortet werden. Dazu sind erst umfangreichere und global erhobene standardisierte Daten nötig. Auf dieser Basis kann dann eine gezielte Suche nach Ursachen stattfinden. Bevor es so weit ist, rät Schlatt den Männern – ganz unabhängig von einer angeblichen »Spermakrise« –, ihre Lebensgewohnheiten zu überdenken: Ein wenig Sport treiben, nicht rauchen und kaum Alkohol trinken wirke sich zum Beispiel sehr positiv auf die Spermienqualität und somit die Fruchtbarkeit des Mannes aus.

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