Direkt zum Inhalt

News: Neue Gräber - neue Theorien

Ausgrabungen bei der Mond-Pyramide in Teotihuácan, einer berühmten archäologischen Stätte in Mexiko, haben neue Funde zutage gebracht. Diese könnten vielleicht weiter Licht in die noch immer geheimnisvolle zweitausendjährige Geschichte Teotihuácans bringen, das etwa 40 Kilometer vom heutigen Mexiko City entfernt liegt. Entdeckt wurde eine Grabstätte, welche anscheinend einer bisher nicht bekannten Periode des dortigen Pyramidenbaus entstammt. Dieses Grab enthält fünf menschliche Skelette, Tierknochen, große Muschelschalen, Juwelen und Klingen aus Obsidian und viele weitere Arten von Grabbeigaben.
Das Archäologenteam unter der Leitung von Saburo Sugiyama von der Aichi University in Japan und Ruben Cabrera vom National Institute of Anthropology and History in Mexiko hoffen auf wichtige Erkenntnisse über eine bewegte Periode in der Geschichte Teotihuácans, die vielleicht diese Kultur entscheidend geprägt hat. Die Wissenschaftler fanden die neue Begräbnisstätte in der Nähe der Pyramide des Mondes, des ältesten Monuments in Teotihuácan.

Die Pyramide des Mondes, wie sie heute existiert, wurde ursprünglich in verschiedenen Stufen gebaut. Die Bewohner von Teotihuácan errichteten aufeinanderfolgende größere Pyramiden auf ihren vorherigen Bauwerken, welche sie dabei sogar teilweise zerstörten. Jede folgende Pyramide wurde auf der Spitze der vorherigen plaziert. Den bisherigen Forschungsergebnissen nach existierten fünf Phasen bis zur Pyramide des Mondes, wie wir sie heute kennen. Phase eins, datiert auf das erste Jahrhundert nach Christi Geburt, stellt dabei Teotihuácans ältestes Hauptbauwerk dar.

Die Wissenschaftler gruben nun nördlich entlang der Mittellinie der heutigen Pyramide und anscheinend direkt innerhalb der Nordmauern der fünften (zweitneuesten) Pyramide. Das dabei gefundene Grab wird auf etwa 100 bis 200 nach Christi datiert. Das Grab und die Beigaben unterscheiden sich in verschiedener Weise von einem anderen, welches auf diesem Gelände vor einem Jahr gefunden und klar der fünften Bauperiode der Pyramide (Pyramide Fünf) zugeordnet wurde. Das im Oktober 1998 entdeckte Grab enthielt nur einen Menschen – ein männliches gefesseltes Opfer –, sowie die Skelette von Wölfen, Jaguaren, Pumas, Schlangen und Vögeln. Dazu kamen noch über 400 andere Beigaben wie große Jadesteine, Figuren aus Obsidian, Zeremonienmesser und Speerspitzen. "Der Inhalt der neuen Grabstätte scheint sich signifikant von dem Grab zu unterscheiden, welches wir im letzten Jahr gefunden haben", erklärt Sugiyama. "Aber es finden sich bei dieser Grabstätte eine ganze Menge Aspekte, in denen es einem anderen gleicht, welches wir vor einem Jahrzehnt unter der Quetzalcóatl-Pyramide (Pyramide der gefiederten Schlange) entdeckt haben."

Sugiyama stellte fest, daß das neue Grab viele grüne Obsidian-Klingen enthielt – eine Farbvariante des Obsidian, welche in Gräbern der Pyramide Vier nicht gefunden wurde, wohl aber in den Grabstätten der Quetzalcóatl-Pyramide. Auch ein "Schmetterlings"-Nasengehänge aus Jade entsprach "genau dem Stil wie jenes, welches wir in der Quetzalcóatl-Pyramide gefunden haben". Außerdem fanden sich sehr viele militärische Gegenstände unter den Opfergaben und eine größere Anzahl von Menschenopfern. Beides erinnert an die Gräber bei der Quetzalcóatl-Pyramide, in denen mehr als 130 menschliche Skelette entdeckt wurden – die meisten davon eindeutig Soldaten und eventuell Kriegsgefangene. Nach Sugiyama ist daraus explizit zu schließen, daß es in der untersuchten Kultur seit deren frühesten Anfängen einen Militarismus gegeben hat.

Es existieren auch weitere Hinweise auf eine kulturelle Verschiebung zwischen den Zeiten der beiden Begräbnisse. Der neuere Fund scheint in die Phase des Pyramidenbaus zu gehören, welche dem Bau von Pyramide Vier folgte – einem Geschichtsstadium, welches bis heute nicht verstanden war. Die Ausgrabungen zeigen einen großen Sprung in der Größe und der Komplexität bei der Konstruktion der Pyramide Vier. Außerdem einen Wechsel der Ausrichtung, durch welchen sie sich der einheitlichen und präzisen Gitterstruktur anpaßt, die heute die etwa 13 Quadratkilometer Ruinen beherrscht.

Sugiyama und Cabrera schließen aus ihren Funden, daß eine prägende Umgestaltung der Pyramide Vier vor ihrer endgültigen Fertigstellung stattfand – eine fünfte Bauperiode. Dieses neue, fünfte Stadium, in welches das nun gefundene Grab gehört, scheint sich durch signifikante Veränderungen gegenüber der Architektur der vierten Phase auszuzeichnen. Teil der Umgestaltung war auch, daß hier in der Pyramide des Mondes das erste Mal der architektonische sogenannte Talud-Tablero-Stil auftrat. Es handelt sich dabei um einen senkrechten, vorspringenden Sims über einer niedrigen Böschungsmauer. Diese Dekorationsform ist überall im Einflußbereich der Teotihuácan-Kultur zu finden, inklusive der Quetzalcóatl-Pyramide und der Pyramide der Sonne.

Die Unterschiede in den Grabbeigaben zwischen der Pyramide Vier und der umgestalteten Version, der Pyramide Fünf, zeigt einen wichtigen Umbruch der Kultur an, der sich vielleicht auch in der Bauweise der Quetzalcóatl-Pyramide und der Pyramide der Sonne widerspiegelt. Beide Pyramiden wurden zum großen Teil zur gleichen Zeit erbaut und sind neueren Ursprungs als die frühen Stadien der Pyramide des Mondes.

"Wir haben bis jetzt nicht genug Informationen, um irgendwelche weitreichenden Schlüsse zu ziehen, aber es ist eine faszinierende Sache, daß die mythischen Bilder, die wir in den kriegsähnlichen Wandgemälden aus der letzten Periode Teotihuácans sehen – Jaguare, Coyoten und Adler mit Schildern und Kopfschmuck –, tatsächlich in diesen viel älteren Gräbern vorhanden sind," sagt Sugiyama. "Was dort geschah, scheint einen langanhaltenden Effekt gehabt zu haben."

Obwohl sich Archäologen schon lange mit dieser Stätte beschäftigen, liegt die Kultur und Geschichte Teotihuácans noch zu weiten Teilen im Dunkeln. Diese Zivilisation hat große Ruinen hinterlassen, aber bis jetzt wurden noch keine Hinweise auf Schrift gefunden. Es ist auch sehr wenig über die Bewohner bekannt, denen erst die Tolteken und dann die Azteken folgten. Die Azteken lebten nicht in der Stadt, aber sie gaben dem Ort und seinen wichtigsten Bestandteilen deren heutige Namen. Sie betrachteten ihn anscheinend als den "Ort der Götter" – den Platz an dem nach ihrer Meinung die Welt geschaffen wurde.

Auf seinem Höhepunkt etwa 500 Jahre nach Christi wurde Teotihuácan schätzungsweise von etwa 200 000 Menschen bewohnt. Es war eine strenge Planstadt über fast acht Quadratmeilen und damit größer und fortgeschrittener als jede europäische Stadt dieser Zeit. Ihre Zivilisation gehört zu den Hochkulturen Lateinamerikas und war mit derjenigen des antiken Rom vergleichbar, aber sie hatte länger Bestand – mehr als 500 Jahre.

Die gegenwärtige Ausgrabung unter der Pyramide des Mondes scheint eine gute Gelegenheit zu sein, weitere Antworten auf Fragen über diese vergangene Zivilisation zu finden. Die zugrundeliegende ältere und primitive Konstruktion aus lockerem Gestein hat bisher vielleicht einige Grabgeheimnisse bewahrt, da sie ein Graben schwierg macht und so Plünderer abgeschreckt haben könnte. Sugiyama hofft auf den Fund weiterer Gräber. "Wir haben bemerkt, daß dieses Grab sich ein paar Fuß [Anm.: 1 Fuß = 0.3048 Meter] östlich von der Nord-Süd-Achse der Stadt befindet", erklärt der Wissenschaftler. "Diese Menschen waren normalerweise sehr präzise und taten selten etwas Asymmetrisches. Auf diese Weise hoffen wir aufgrund unserer exakten Karten weitere Grabstätten zu finden."

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.