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Teilchenphysik: Der Traum vom sterilen Neutrino bestätigt sich nicht

Ein Teilchendetektor bei Chicago registrierte vor einiger Zeit Hinweise auf eine vierte Neutrino-Art. Doch neue Messungen können die vermeintliche Teilchen-Sensation nicht bestätigen. Die Suche geht weiter.
Blick in den Detektor MicroBooNE am Fermilab
Blick in den Kryostaten: Mit dem MicroBooNE-Experiment suchen Teilchenphysikerinnen und -physiker nach Anomalien in Neutrino-Strahlen.

Fachleute handelten den Fund bereits als Sensation, sogar das Wort »nobelpreisverdächtig« fiel: Im Jahr 2018 präsentierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Experiments MiniBooNE am US-Forschungslabor Fermilab bei Chicago einen rätselhaften Überschuss an Elektron-Neutrinos in ihren Messungen, der nicht zum klassischen Standardmodell der Elementarteilchen passte. Doch neue Daten aus dem Folgeexperiment MicroBooNE zeigen nun: nichts. »Die Ergebnisse stimmen entweder mit den Ratenerwartungen des Booster-Neutrinostrahls überein oder liegen leicht darunter, und es wird kein Überschuss an Elektron-Neutrinos beobachtet«, schreibt die Forschungsgruppe in der aktuellen Ausgabe der »Physical Review Letters«. Nobelpreis ade.

Der zunächst im Jahr 2002 gestartete Versuch MiniBooNE sollte das Ergebnis des Neutrino-Experiments LSND am Los Alamos National Laboratory aus den 1990er Jahren bestätigen, bei dem erstmals zu viele Elektron-Neutrinos gemessen wurden. Der Befund hatte damals für Irritationen gesorgt, denn es gab keine nahe liegende Erklärung. Die Experten spekulierten deshalb, es könne sich um »sterile« Neutrinos handeln, die noch weniger mit Materie wechselwirken als ihre ohnehin scheuen Verwandten, die Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Würde sich dies bewahrheiten, so hofften und hoffen die Physiker noch immer, käme man vielleicht einigen offenen Fragen des Universums näher, etwa der Suche nach der Dunklen Materie oder gar der Weltformel. Und tatsächlich war die Aufregung im Jahr 2018 groß.

Bei solchen Messungen untersuchen die Wissenschaftler die so genannte Neutrino-Oszillation – ein quantenmechanisches Phänomen, bei dem sich die Neutrinos permanent ineinander umwandeln. Dieses Verhalten wurde erstmals in den 1960er Jahren beobachtet, als Wissenschaftler deutlich weniger von der Sonne abgestrahlte Neutrinos maßen als erwartet. Aber es dauerte Jahrzehnte und benötigte viel experimentelle Arbeit, um schlüssig zu beweisen, dass diese »fehlenden« Neutrinos auf ihrer Reise zur Erde nicht verschwunden waren, sondern sich lediglich in die beiden anderen Neutrinotypen umgewandelt hatten.

Der Effekt entsteht, weil jedes Neutrino eine Mischung der drei Neutrinotypen ist – Interferenz zwischen ihnen sorgt dafür, dass zu unterschiedlichen Zeiten ein unterschiedlicher Neutrinotyp die Mischung dominiert. Heute können Neutrino-Oszillationsexperimente das »Verschwinden« und das »Auftauchen« von Neutrinos sehr exakt messen. Von der Theorie nicht vorhergesagte Unregelmäßigkeiten in den Daten könnten darauf hindeuten, dass sich in der Neutrino-Mischung ein viertes, exotisches Neutrino versteckt.

Unspektakuläre Erklärung für das Phänomen vermutet

Allerdings gelten die Ergebnisse von LSND und MiniBooNE und ihre Interpretation selbst unter Angehörigen des eigenen Fachgebiets als sehr umstritten. Zwar lässt sich ein lockeres Kabel – manchen Fachleuten in anderem Zusammenhang noch in unguter Erinnerung – als Ursache für die rund 400 zusätzlich detektierten Elektron-Neutrinos wohl ausschließen, ein neues Teilchen oder gar ein ersehnter Hinweis auf eine neue Physik jenseits des Standardmodells allerdings mutmaßlich auch. Wahrscheinlich gibt es eine weit weniger spektakuläre Erklärung für das Phänomen. Das scheint sich nun zu bestätigen.

Verantwortlich dafür ist MicroBooNE, das Schwesterexperiment von MiniBooNE an der gleichen Neutrino-Strahllinie am Fermilab in Illinois bei Chicago. Neutrinos selbst hinterlassen keine Signale in Teilchendetektoren. Vielmehr vermessen Wissenschaftler ihre Eigenschaften, indem sie die Teilchen beobachten, die bei den seltenen Gelegenheiten entstehen, in denen ein Neutrino mit der Materie in einem Detektor wechselwirkt. Während MiniBooNE einen so genannten Tscherenkow-Detektor verwendet, hinterlassen die Teilchen bei MicroBooNE Spuren in einem Flüssigargonteitprojektionskammer-Detektor, die als hochauflösende Bilder der Teilchenflugbahnen erfasst werden.

Die Daten dieses Detektors, ausgewertet von der MicroBooNE-Kollaboration am Fermilab und jetzt in vier Artikeln veröffentlicht, zeigen keine Anzeichen für das Signal, das vom Vorgänger MiniBooNE beobachtet worden war.

Ganz wollen die Forscherinnen und Forscher die Existenz der sterilen Neutrinos jedoch noch nicht ad acta legen. Zwar habe man kein statistisch signifikantes, anomales Signal bestätigen können, unter gewissen Voraussetzungen seien aber dennoch Parameter denkbar, die mit den MiniBooNE-Daten funktionieren und durch die MicroBooNE-Daten nicht vollständig ausgeschlossen werden. Das Neutrino-Rätsel geht also weiter.

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