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Teilchenphysik: Was kommt nach dem LHC?

Europas Teilchenphysiker suchen eine Strategie, welcher neue Beschleuniger auf den Large Hadron Collider folgen soll. Doch die Zeit ist ungünstig. Nicht nur wegen Corona.
Der Tunnel des LHC

Rund oder gerade? Teuer oder sehr teuer? Mit Elektronen oder mit Protonen? In Europa, in Japan oder in China? Die Suche nach dem nächsten großen Beschleuniger, die sich Europas Teilchenphysiker für dieses Frühjahr in den Kalender geschrieben hatten, war von Anfang an ein schwieriges Unterfangen. Es galt, Lösungen zu finden für eine physikalische Fragestellung, deren Antworten die Forscher nicht einmal ansatzweise kennen – für ein Vakuum des Wissens, das die Beschleuniger zuletzt hinterlassen hatten. Es galt abzuwägen zwischen Wünschen und Visionen, zwischen Machbarkeit und finanziellen Ressourcen. Und dann kam auch noch das Coronavirus.

Die Verkündung einer neuen Strategie für Europas Teilchenphysik, vom Genfer Forschungszentrum CERN für Ende Mai 2020 geplant, ist daher erst einmal abgesagt worden. Verschoben, um mindestens einen Monat. Die Probleme aber bleiben – und mit ihnen die Ungewissheit über die Zukunft der Teilchenphysik.

Planungen aus einer anderen Welt

»Gerade ist nicht die richtige Zeit, um über Milliardenprojekte zu reden, und schon gar nicht, um dafür großen Applaus zu erwarten«, sagt Siegfried Bethke, Direktor am Münchner Max-Planck-Institut für Physik und deutsches Mitglied im CERN-Council. Dem obersten Entscheidungsgremium des Forschungszentrums liegt der geplante und noch immer geheime Entwurf einer Strategie seit Ende Januar vor. Damals, das Coronavirus war noch weit weg, hatten gut 70 Physikerinnen und Physiker in Bad Honnef fünf Tage lang an dem Entwurf gefeilt. »Das Ganze geschah noch in einer anderen Welt«, sagt Bethke.

»Wenn wir eine neue Maschine bauen, wollen wir schon um den Faktor fünf bis zehn besser werden, um wirklich Neuland zu beschreiten«Siegfried Bethke, MPI für Physik

Herausgekommen ist eine Strategie für die komplette Teilchenphysik – eine Vision, wie es mit dem Feld in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weitergehen soll. Untrennbar damit verbunden ist die Frage nach künftigen Beschleunigern, den wichtigsten Werkzeugen der Teilchenphysiker. Die riesigen Maschinen sind eine Art Mikroskop. Sie lassen subatomare Teilchen, die sie zuvor auf immense Energien beschleunigt haben, miteinander kollidieren. Dabei, so die Hoffnung, sollen neue, unbekannte Partikel entstehen, die dann mit hausgroßen Detektoren untersucht werden können.

Derzeitiges Flaggschiff unter den Beschleunigern ist der Large Hadron Collider (LHC) am CERN, ein ringförmiger, unterirdischer Koloss mit einem Umfang von knapp 27 Kilometern. Im Jahr 1994 hatten Physiker das Projekt genehmigt, 14 Jahr später nahm der LHC den Betrieb auf, Ende der 2030er Jahre soll er in den Ruhestand gehen. Höchste Zeit, über einen Nachfolger nachzudenken. Doch der Augenblick ist ungünstig, nicht nur wegen Corona.

Orientierungslose Teilchenphysik

Das Problem: Die Teilchenphysik ist orientierungslos, und daran ist der LHC nicht unschuldig. Im Jahr 2012 entdeckten Forscher mit Hilfe der Supermaschine das so genannte Higgs-Boson, das letzte noch fehlende Teilchen in einem Theoriegebilde, das Physiker als »Standardmodell« bezeichnen.

Es ist eine logische, in sich geschlossene Beschreibung der Teilchenwelt. Allerdings umfasst das Standardmodell keineswegs die gesamte Realität: Es kann weder erklären, warum sich Materie und Antimaterie nach dem Urknall nicht komplett ausgelöscht haben. Noch weiß es, was hinter der Dunklen Materie steckt, die Galaxien zusammenhält, und woraus die Dunkle Energie besteht, die das All immer schneller expandieren lässt. Es muss also eine Physik jenseits des Standardmodells geben, und der LHC sollte sie aufstöbern.

CLIC | Einer der möglichen LHC-Nachfolger ist ein Beschleuniger, der Elektronen und Positronen in einem geraden Tunnel im Norden von Genf kollidieren lassen würde. Je nach zu erreichender Energie wäre die Maschine unterschiedlich lang (rot, orange, gelb).

»Leider haben wir mit dem LHC bislang keine neuen Effekte ankratzen können, was schon ein bisschen enttäuschend ist«, sagt Bethke. Diese Sackgasse, in die der LHC die Teilchenphysik manövriert hat, wirkt sich auch auf die Suche nach einem Nachfolger aus. Niemand kann sagen, bei welchen Energiewerten die erhofften Effekte auftauchen: Bei der zehnfachen Energie des LHC? Bei der 100-fachen Energie, was auf absehbare Zeit nicht zu erreichen sein wird? Oder wird sich die »neue Physik« erst bei unvorstellbar großen Energien zeigen, die jenseits der Möglichkeiten menschlicher Teilchenbeschleuniger liegen?

Theoretiker wissen das schlicht nicht – sie können daher letztlich nicht viel mehr tun als Wetten abschließen. Will man es herausfinden, führt jedoch kein Weg an leistungsfähigeren Beschleunigern vorbei, argumentieren Teilchenphysiker. »Wenn die Theorie ratlos ist, muss man auf das Experiment vertrauen«, sagt Bethke. »Man muss in unbekannte Regionen schauen – denn wer nicht guckt, wird nichts finden.«

Vom LHC zum Super-LHC

Die wahrscheinlich praktikabelste Lösung wäre, den bestehenden LHC einfach auszubauen. Bereits 2013, als die derzeit gültige Strategie verabschiedet wurde, hatten die Physiker ein Update ihres Beschleunigers beschlossen. Es soll, Verzögerungen durch Corona nicht berücksichtigt, 2027 fertig sein. Allerdings wird der Ausbau lediglich mehr Teilchenkollisionen möglich machen, keine höheren Energien.

Hierfür wären leistungsfähigere Magnete nötig, die die Protonen im 27 Kilometer langen Tunnel auf eine Kreisbahn zwingen. Doch selbst die besten denkbaren Magnete könnten die Energie des bestehenden LHC lediglich verdoppeln – zu wenig für die hoch fliegenden Pläne der Teilchenphysiker. »Wenn wir eine neue Maschine bauen, wollen wir schon um den Faktor fünf bis zehn besser werden, um wirklich Neuland zu beschreiten«, sagt Siegfried Bethke.

Zuvor wollen die Physiker aber noch etwas. »Höchste Priorität«, heißt es in einer Stellungnahme des deutschen Komitees für Teilchenphysik, habe der Bau eines so genannten Elektronen-Positronen-Beschleunigers. Die neue Maschine, die auch in den meisten weiteren Ländern ganz oben auf der Prioritätenliste steht, soll sich zunächst der Produktion von Higgs-Teilchen widmen, die dann im Detail untersucht werden können.

Im Unterschied zum LHC, der schwere Teilchen wie Protonen kollidieren lässt, eignen sich für solch eine »Higgs-Fabrik« vor allem Elektronen und Positronen – Elementarteilchen, die nicht aus anderen Partikeln zusammengesetzt sind. Das verspricht saubere, gut zu analysierende Kollisionen. Und im Gegensatz zum LHC, dem ringförmigen Koloss, lässt sich die Aufgabe besonders gut mit linearen Beschleunigern erledigen.

Japans »verschobenes« Prestigeprojekt

Japan wollte genau solch eine Maschine bauen, den mindestens 20 Kilometer langen International Linear Collider (ILC). Im März vergangenen Jahres beschloss die japanische Regierung allerdings, die Entscheidung über das mindestens sechs Milliarden Euro teure Programm auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Eine höfliche Variante des Projektstopps? »Müsste ich wetten, würde ich sagen, dass es in Japan auf absehbare Zeit keine positive Entscheidung geben wird«, sagt Bethke.

Future Circular Collider | Der FCC soll einen Umfang von 91 Kilometern haben – die maximal denkbare Größe für einen Kreisbeschleuniger im Genfer Seebecken.

Was also tun? Selbst bauen? Immerhin arbeitet das CERN seit mehr als einem Jahrzehnt am Konzept eines eigenen kompakten Linearbeschleunigers, kurz auf gut elf Kilometer Länge – etwas mehr als der Durchmesser des LHC – genug Energie für eine Higgs-Fabrik erzeugen. Mit Kosten von fünf bis sechs Milliarden Euro würde der CLIC zudem im finanziellen Rahmen des LHC bleiben. Liefe alles optimal, könnte sein Bau bereits 2026 beginnen, zehn Jahre später wäre die Maschine einsatzbereit.

Das Problem: Auf absehbare Zeit dürfte sich mit einem derartigen Linearbeschleuniger eine Kollisionsenergie von etwa 0,5 Teralektronvolt (TeV) erreichen lassen, gerade mal 3,5 Prozent der Energie, die der LHC derzeit erreicht. Damit würde sich der CLIC zur Herstellung (und genauen Analyse) von Higgs-Bosonen eignen. Aber er würde definitiv nicht in einen Energiebereich vorstoßen, der für eine Physik jenseits des Standardmodells nötig wäre. Hoffen dürften die Forscher in diesem Fall nur auf kleine Abweichungen in den Eigenschaften des Higgs-Teilchen, die in Richtung neuer Naturgesetze deuten.

Der Traum der Teilchenphysiker

Also doch ein neuer, riesiger Ringbeschleuniger? Stolze 100 Kilometer lang soll der Future Circular Collider (FCC) werden, an dessen Konzept Europas Physiker ebenfalls arbeiten.

»Vom physikalischen Standpunkt aus wäre das die Traummaschine der Community«, sagt Siegfried Bethke. »Ob sie realisierbar ist, werden wir sehen.« Eingezwängt zwischen den Bergen des Jura und teilweise unter dem Genfer See verlaufend, könnte die Mammutmaschine in einem ersten Schritt Elektronen beschleunigen – als Higgs-Fabrik. Später, in den 2050er Jahren, wenn die nötigen Hochleistungsmagnete entwickelt wären, würde sie dann Protonen im Kreis beschleunigen, bei der siebenfachen Energie des LHC.

Kleiner Schönheitsfehler: Für fünf bis sechs Milliarden Euro – der Betrag, den das CERN aus eigener Tasche aufwenden könnte – wäre gerade einmal der Tunnel zu haben. Der Elektronenbeschleuniger würde weitere vier Milliarden Euro verschlingen, die Protonenmaschine sogar 15 Milliarden Euro. Trotzdem haben sich Ende 2019 mehr als 50 Physiker, darunter ehemalige CERN-Direktoren und Chefs des CERN-Councils, offen für den FCC ausgesprochen. Der Ringbeschleuniger sei die »vielversprechendste Option innerhalb sowie jenseits des Standardmodells« und ein »visionäres Projekt für die Zukunft des CERN«, sagte Ex-Council-Präsident Michel Spiro laut einer Mitteilung des CERN.

Konkurrenz aus China

Mit dieser Vision sind die Europäer allerdings nicht allein. Auch China träumt von einem bis zu 100 Kilometer langen Ringbeschleuniger, zunächst für Elektronen, dann für Protonen. Bereits 2022 könnte der Bau beginnen, 2030 wäre der Circular Electron-Positron Collider (CEPC) einsatzbereit, hieß es in den vergangenen Jahren immer wieder. Vorausgesetzt, die kommunistische Regierung stimmt dem Projekt zu, was keinesfalls sicher ist. »Zwar belebt Konkurrenz das Geschäft«, sagt Siegfried Bethke. »Angesichts des Preisschilds eines solchen Beschleunigers dürfte es aber schwer genug werden, einen gebaut zu bekommen.« Dass es künftig zwei geben werde, stehe »praktisch außer Diskussion«.

Wang Yifang, Direktor des Pekinger Instituts für Hochenergiephysik, wirbt deshalb in einem Interview mit dem Fachmagazin »Nature« dafür, den chinesischen CEPC in die künftige CERN-Strategie aufzunehmen. Bethke hingegen hält wenig davon, bei den Chinesen zwar mitmessen, aber nicht mitplanen und nicht mitbestimmen zu können: »Das ist nicht die europäische Strategie.«

Letztlich bleiben Europas Teilchenphysikern somit zwei Optionen: Die neue Strategie, die zwar Prioritäten setzen, aber noch keine Entscheidungen treffen soll, könnte sich vorrangig für den Bau des Linearbeschleunigers CLIC aussprechen – in der Hoffnung, später auch noch Geld für einen großen Ringbeschleuniger zu bekommen, sofern China bis dahin nicht Fakten geschaffen haben sollte. Oder sie könnte sich direkt für die große, schwer zu finanzierende Lösung des Future Circular Colliders aussprechen. Für die Traummaschine.

Einfach dürfte beides nicht werden. Der LHC habe mit der versprochenen Entdeckung des Higgs-Teilchens eine »Killeranwendung« gehabt, wodurch er leichter zu vermitteln gewesen sei, schreiben die FCC-Befürworter in ihrer Stellungnahme. Einem künftigen Riesenbeschleuniger, der notgedrungen im physikalischen Dunkeln stochern würde, fehlt dieser Aspekt.

Erfolgreich könne er daher nur sein, wenn die Physikerzunft »überwältigende Unterstützung« für das Programm zeige – und wenn dessen wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Auswirkungen »sehr viel überzeugender« kommuniziert würden. In der neuen Corona-Welt könnte allein dies um einiges schwieriger werden als die eigentliche Suche nach unbekannten Teilchen.

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