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Biogeografie: Per Anhalter über den Ozean

Um zu Fuß von Hamburg nach Wien zu gelangen, müsste ein Mensch mehrere Wochen einplanen. Wie lange bräuchte eine Schnecke für die achtfache Distanz, wenn sie mit einem Vogel durch die Lüfte fliegen würde? Eine seltsame Frage? Durchaus nicht.
<i>Balea</i>
Sie gilt als das abgelegenste bewohnte Eiland der Welt: die Hauptinsel des Archipels mit dem klingenden Namen Tristan da Cunha. Etwa 300 Menschen leben hier inmitten des Südatlantiks, knapp zweieinhalbtausend Kilometer vom brasilianischen Kap Frio und vom afrikanischen Kap der Guten Hoffnung entfernt. Um die Azoren oder das europäische Festland zu erreichen, müssten die Bewohner der Inselgruppe etwa 9000 Kilometer zurücklegen. Menschen mögen derart riesige Distanzen – zumindest mit Hilfe moderner Transportmittel – spielend überwinden. Wie aber sieht es mit Tieren aus, oder genauer, mit Schnecken?

Als der britische Zoologe John Gray zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwei neue Landschneckenarten auf Tristan da Cunha gefunden hatte, waren sich die Forscher schon bald einig: Auf Grund der geografischen Isolation konnte es sich nur um eine neue Gattung handeln – sie erhielt den Namen Tristania. Später wurden dieser neuen Gattung auf anderen Inseln des Tristan da Cunha-Archipels noch weitere Landschneckenarten zugeordnet. Anatomische Übereinstimmungen mit der Gattung Balea waren zwar offensichtlich. Da Angehörige dieses Genus bisher jedoch nur in der weit entfernten paläarktischen Faunenprovinz – also in Nordafrika und Eurasien bis zum Nordrand des Himalaja – gefunden worden waren, schien es absurd, hier eine Verbindung zu suchen.

Heute gibt es jedoch Diskussionen um die stammesgeschichtliche Vergangenheit dieser Schnecken: Während einige Wissenschaftler fordern, Tristania ein für alle Mal als eigene Gattung anzuerkennen, bleiben Experten von der Universität Cambridge skeptisch. Um herauszufinden, wie eng Balea und Tristania tatsächlich verwandt sind, begaben sich die Zoologen um Richard Preece auf molekulare Spurensuche.

Balea-Arten von Tristan ca Cunha | Von Europa über die Azoren nach Tristan da Cunha und wieder zurück nach Westeuropa: Die Landschneckengattung Balea hat eine weite Reise hinter sich. Hier Exemplare des Inselarchipels im Südatlantik.
Sie untersuchten das Erbgut verschiedener Arten der Gattung Balea und verglichen es mit dem genetischen Material jener Arten, die als Gattung Tristania auf dem fernen Inselarchipel leben. Tatsächlich fanden sie eindeutige Parallelen, die nur einen Schluss zuließen: Bei Tristania und Balea handelt es sich nicht etwa um zwei verschiedene, sondern um ein und dieselbe Gattung.

Für diesen Umstand gibt es, ihrer Meinung nach, wiederum nur eine Erklärung: Die so genannten Schließmundschnecken des südatlantischen Inselarchipels und die der nördlichen Hemisphäre stammen offenbar von einem gemeinsamen, relativ jungen Urahnen ab. Dieser muss auf irgendeine Weise den Äquator überschritten und riesige Entfernungen über das offene Meer zurückgelegt haben.

Die Gattung Balea dürfte so einst von Eurasien oder Nordafrika aus die Azoren und das Tristan-da-Cunha-Archipel erreicht haben, wo sich dann jeweils mehrere neue Arten bildeten. Eine der beiden Arten, die auf den Azoren vorkommen, ist vermutlich über Madeira zurück nach Westeuropa gelangt und existiert dort heute als eigene Art mit dem Namen Balea heydeni.

Doch wie gelingt es den Landschnecken sich über Meere hinweg zu verbreiten? Schon Charles Darwin zerbrach sich über diese Frage den Kopf – auch wenn er noch nicht wusste, wie riesig die Distanzen offenbar sind, welche die Weichtiere überwinden können. Zwei mögliche Formen der Fortbewegung kamen damals für ihn in Betracht: der Transport per Treibholz-Floß und der per Anhalter. Er glaubte, dass möglicherweise Vögel die klebrigen Passagiere befördern.

Noch gibt es wenige Fälle, die diese Art der Verbreitung dokumentieren. Dennoch vermuten Preece und seine Kollegen, dass es tatsächlich Zugvögel waren, welche die Landschnecken auf das isolierte südatlantische Archipel verfrachtet haben. Der extrem klebrige Schleim, den etwa die Zahnlose Schließmundschnecke (Balea perversa) absondert, könnte dabei wertvolle Dienste geleistet haben.

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