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Verhalten: Unsere supernormale Welt

Ein künstlicher Reiz löst mitunter eine viel stärkere Reaktion aus als sein natürliches Vorbild. Womöglich deshalb hat sich der Mensch eine Welt voller artifizieller Verlockungen erschaffen, die einige Probleme mit sich bringen.
Bunte Wolke aus farbigem Puder
Bunt, flashy, übertrieben: »Supernormale Reize« triggern uralte Verhaltensprogramme.

Den Schnabel der Silbermöwe ziert ein leuchtend roter Punkt. Gerät dieser ins Blickfeld eines Kükens, fängt es instinktiv an, danach zu picken. Es sagt damit: »Hunger!« und hofft darauf, dass das Elterntier großzügig sein Frühstück hochwürgt. Viel energischer picken die Nestlinge jedoch, wenn man ihnen statt Mamas oder Papas Schnabel eine künstliche Attrappe hinhält. Wozu führt man Möwenbabys derart in die Irre?

Es handelt sich um einen in den 1940er Jahren durchgeführten Versuch des Niederländers Nikolaas Tinbergen, eines Pioniers der Ethologie – der vergleichenden Verhaltenswissenschaft. Tinbergen, der für seine Forschung 1973 den Nobelpreis erhielt, war davon überzeugt, dass angeborene Instinkte bei der Art und Weise, wie Tiere sich verhalten, eine wesentliche Rolle spielen (siehe »Genetisch programmiert?«). Mitte des 20. Jahrhunderts gingen viele Fachleute davon aus, Verhalten sei vor allem erlernt. Tinbergen hingegen glaubte, dass spezielle Schlüsselreize – etwa der Anblick des elterlichen Schnabels – ein evolutionär altes Programm anstoßen und damit Handlungen auslösen, die dem Überleben oder der Fortpflanzung dienen.

Gemeinsam mit einigen Kollegen baute er auf der Arbeit deutscher Biologen auf, die beobachtet hatten, wie stark sich manche Tiere von menschengemachten Objekten angezogen fühlen. Tinbergen und sein Team begannen, mit solchen künstlichen Reizen zu experimentieren. Dabei sahen sie Schmetterlinge, die Papierausschnitte anbalzten und dafür Artgenossen ignorierten, und Austernfischer, die krampfhaft versuchten, überdimensionierte Eier auszubrüten. Für die Fake-Eier, auf denen sie ungeschickt herumrutschten, weil diese viel zu groß waren, um richtig auf ihnen Platz zu nehmen, ließen die Vögel ihr echtes Gelege links liegen.

Genetisch programmiert?

Die Instinkttheorie entstand in den 1930er Jahren. Sie basiert auf der Idee, dass angeborene Instinkte das Verhalten von Tieren steuern. Ihre wichtigsten Begründer, der österreichische Zoologe Konrad Lorenz (1903–1989) und der niederländische Zoologe Nikolaas Tinbergen (1907–1988), gingen davon aus, dass Tiere – einschließlich des Menschen – von Geburt an bestimmte Verhaltensmuster besitzen, die ihnen beim Überleben helfen. Die beiden prägten den Begriff »Schlüsselreiz« für Stimuli, die einen angeborenen Instinkt aktivieren und über einen nicht näher beschriebenen »auslösenden Mechanismus« ein bestimmtes Verhalten in Gang setzen, etwa Balz, Beutefang oder Brutfürsorge. Ein berühmtes Beispiel aus Lorenz' Forschung ist die Prägung bei Gänsen. Er zeigte, dass Gänseküken nach dem Schlüpfen dem ersten beweglichen Objekt, das in ihr Blickfeld gerät, instinktiv folgen. Diese Verhaltensweise ist entscheidend für das Überleben, denn sie sorgt dafür, dass die Jungen in der Nähe des schützenden Elterntiers bleiben. Allerdings kann es so ebenfalls passieren, dass frisch geschlüpfte Gänse einem rollenden Fußball hinterherlaufen oder einen Verhaltensforscher, der sie gerade studiert, für ihre Mutter halten. Inzwischen haben die Erkenntnisse der Psychologie und Hirnforschung allerdings gezeigt, dass die Steuerung von Verhalten deutlich komplexer ist als in Lorenz' und Tinbergens früher Instinkttheorie dargestellt. Fachleute gehen nicht mehr von einer strikten Trennung von genetisch verankertem und erlerntem Verhalten aus: Auch angeborene Verhaltenstendenzen lassen mitunter Spielraum. Die Instinkttheorie hat heute nur noch historische Bedeutung. Sie regte aber zu Experimenten an, die unter anderem Erkenntnisse über supernormale Stimuli lieferten.

»Gonysfleck« | Hungrige Möwenküken picken reflexartig auf den roten Punkt am Schnabel des Elterntiers ein.

Besondere Beachtung schenkte Tinbergen jedoch der eingangs erwähnten Silbermöwe. Er präsentierte Hunderten von Küken der Küstenvögel in tausenden Versuchsreihen verschiedene Schnabelnachbauten. Damit wollte er herausfinden, welche Charakteristiken des Schnabels genau das Pick-Verhalten auslösen. Der Verhaltensforscher variierte dabei etwa Form, Farbe, Dicke und Ausrichtung der Attrappe. Ein echter Schnabel ist orange, gebogen und hat einen roten Punkt. Ein bei den Küken weitaus beliebterer Nachbau war ein schlichter bemalter Holzstab, lang und dünn, mit schwarzen und roten Streifen. Auf einen solchen »künstlichen Schnabel« pickten die Küken höchst engagiert ein, obwohl dieser auf den ersten Blick kaum noch etwas mit dem Original gemeinsam hatte. Entscheidend für das Auslösen der Bettelreaktion waren offenbar vor allem zwei Attribute: eine schmale Form und ein möglichst deutlicher Farbkontrast. Noch heftiger hämmerten die Küken auf das Stäbchen ein, wenn man es vor ihren Augen senkrecht auf und ab bewegte, ähnlich der Bewegung der Möwe, die sich über ihren Nachwuchs beugt. Einen solchen künstlichen Reiz, der einzelne Elemente natürlich vorkommender Schlüsselreize auf die Spitze treibt, taufte Tinbergen »supernormaler Stimulus«.

Laut der Evolutionsbiologin T. N. C. Vidya vom indischen Jawaharlal Nehru Centre for Advanced Scientific Research »kapert« ein solcher supernormaler Stimulus die Antwort auf einen normalen Reiz und führt zu einer »supernormalen Reaktion«. Tiere nehmen dabei den Schlüsselreiz, etwa den mütterlichen Schnabel, nicht im Gesamtbild wahr, sondern erfassen entscheidende Aspekte einzeln – beispielsweise dessen Größe, Form und Muster. Aus diesem Grund reagieren sie wie in Tinbergens Versuch auf ungewöhnliche, abstrakte Versionen des Reizes, die nur bestimmte Merkmale herausgreifen und überzeichnen. Übertreibt man gleich mehrere Merkmale, kann sich der Effekt summieren.

Ein zentraler Mechanismus hinter der Wirkung supernormaler Stimuli ist vermutlich der »peak shift«, eine Verschiebung der Präferenz hin zu einem extremeren Reiz. Zum Beispiel kann man Ratten trainieren, zwischen den Farben Rot und Orange zu unterscheiden, indem man sie bei Rot belohnt und bei Orange bestraft. Präsentiert man den Ratten nun ein noch satteres Rot, das auf dem Farbkreis weiter vom negativ besetzten Orange entfernt ist, bevorzugen sie dieses gegenüber dem ursprünglichen Rotton. Die Ratten haben also gelernt »Rot ist besser als Orange« und folgern daraus, dass mehr Rot noch besser sein muss. Über einen derartigen Mechanismus lernen womöglich ganze Spezies im Lauf von Jahrmillionen Regeln wie: Große Eier sind gut, größere sind besser, weil sie noch stärkere Küken versprechen. Maximal kontrastreiche Schnäbel sind am besten, weil sie am leichtesten erkennbar sind. Und möglichst süße Nahrung ist am besten, weil sie am meisten Energie enthält. Mit der Zeit haben sich auf diese Weise Wahrnehmungssysteme und neuronale Pfade ausgebildet, die solchen Regeln folgen. Da supernormale Stimuli in der Natur nicht vorkommen, mussten Tiere keine mentalen Programme entwickeln, um ihre Reaktion auf extreme Reize zu mäßigen. Und so tappen auch wir Menschen heute in so manche supernormale Falle.

Alte Gehirne in modernen Gesellschaften

Immerhin sind wir ebenfalls Lebewesen, die sich die allermeiste Zeit ihrer Stammesgeschichte in einer natürlichen Umwelt bewegt haben. In den vergangenen Jahrhunderten hat sich unsere Umgebung jedoch drastisch verändert. Wir haben jede Menge künstlicher Objekte geschaffen, immer intensivere Reize umspielen unsere Sinne – wie supernormal ist unsere Welt? Der Mensch und damit sein Verhalten entstanden ursprünglich in der afrikanischen Savanne, argumentiert die Evolutionspsychologie. Nahrung war dort knapp, folglich entwickelten die ersten Menschen, um zu überleben, eine Vorliebe für möglichst energiereiche Kost. Springt man aber 10 000 Jahre in die Jetztzeit, ist hochkalorisches Essen an vielen Orten im Überfluss vorhanden. Die menschliche Entwicklung blieb zwar nicht in der Steinzeit stehen, doch die Evolution verläuft äußerst langsam. Im Gegensatz zu unserer Gesellschaft haben sich unsere Instinkte seither kaum verändert. Man könnte sagen: In unseren modernen Köpfen steckt noch immer ein prähistorisches Gehirn. Wie die Psychologin Deirdre Barrett, die an der Harvard Medical School lehrt, in ihrem Buch »Supernormal Stimuli« ausführt, gehen die früher hilfreichen Faustregeln – mehr oder größer oder süßer gleich besser – in der heutigen Welt oft nach hinten los. Statt zur Fortpflanzung und Fitness beizutragen, sorgen sie nun für Probleme.

So lieben Menschen zucker-, fett- und salzhaltige Lebensmittel, und das von Geburt an. Auch die meisten Erwachsenen mögen Süßes und Frittiertes. Statista zufolge machte McDonalds 2022 einen Umsatz von zirka 23 Milliarden Dollar, Lindt verdiente im gleichen Zeitraum immerhin knapp fünf Milliarden Schweizer Franken – mit Pralinen, die unsere Rezeptoren um ein Vielfaches stärker ansprechen als jede noch so reife Frucht.

Rein damit | Vieles, was wir Laster nennen, ist die Suche nach supernormalen Reizen. Kartoffelchips sind hyperwürzig und knackiger als alles, was die Natur hergibt.

Sind supernormale Verlockungen also schlicht zu verführerisch, um ihnen nicht zu verfallen? Sind wir unserem evolutionären Erbe hilflos ausgeliefert? Studien zeichnen ein differenzierteres Bild. Die Gründe, warum Menschen sich für ungesunde Lebensmittel entscheiden, sind demnach komplex. Sozioökonomische Faktoren wie Geschlecht, Alter, Einkommen, Bildungsstand und Zeit zum Kochen spielen ebenso eine Rolle wie die Präsentation der Optionen. 2013 untersuchten die Konsumforscher Brian Wansink und Andrew Hanks, damals beide an der Cornell University in Ithaca, wie die Reihung von Gerichten bei einem Frühstücksbüfett beeinflusst, was die Probanden auf ihre Teller legen. 75 Prozent von ihnen nahmen das Erste, das ihnen angeboten wurde, egal, ob es sich um einen »normalen« Apfel oder um »supernormalen« Bacon handelte. Die Lebensmittel an den ersten drei Stationen des Büfetts machten zwei Drittel dessen aus, was die Probanden wählten. Weil so viele Faktoren das Essverhalten beeinflussen, lässt sich schwer ermitteln, welchen separaten Einfluss die Supernormalität von Lebensmitteln hat. Aber selbst wenn wir uns instinktiv zu intensiven Aromen und aufregenden Texturen hingezogen fühlen, es zuckersüß, deftig-würzig und krachend knackig mögen, müssen wir diesen Trieben nicht erliegen. Menschen sind lernfähig, verfügen über Selbstkontrolle und können übergeordnete Vorhaben – abnehmen oder gesund leben – verfolgen, die kurzfristige hedonistische Ziele – etwas Leckeres essen – übertrumpfen. Heißt: Selbst wenn die Chips noch so appetitlich sind, kann man in der Regel Nein sagen und stattdessen zur Karotte greifen.

Doch nicht jedem fällt das leicht. Wie gut es gelingt, supernormalen Stimuli zu widerstehen, hängt nicht zuletzt mit der eigenen Persönlichkeit zusammen. Ein Team um die Psychologin Belinda Goodwin von der australischen University of Southern Queensland befragte mehr als 5300 Leute, um herauszufinden, welche Eigenschaften mit einer Schwäche für Supernormales zusammenhängen. Zu den supernormalen Verlockungen, zu denen die Versuchspersonen sich äußern sollten, gehörten zum Beispiel Torten und Kekse, aber auch Instagram-Messages, die unser Bedürfnis nach Aufmerksamkeit schnell und stark bedienen. Laut den Autoren der 2016 erschienenen Studie lässt sich sogar die Lieblingsserie als supernormaler Reiz deuten. Schließlich seien fiktive Geschichten, vom Blockbuster bis zum Pageturner, aufregender als das echte Leben und übten mit ihren übertriebenen Spannungsbögen, jähen Wendungen und idealen Charakteren eine Anziehung aus. Die Begeisterung für diese Dinge stellten Goodwin und ihre Kollegen der für »Normales« gegenüber, das schon unsere Vorfahren genossen, etwa eine schöne Aussicht, den Duft einer Blume, ein lächelndes Gesicht oder gemeinsame Zeit mit Freunden und Familie. Es zeigte sich: Wer zu Impulsivität neigte, hatte eine ungleich stärkere Präferenz für die supernormalen Freuden des Lebens. »Personen mit aufgeprägter Impulsivität haben Schwierigkeiten, Genuss zu erleben«, erklären die Autoren der Studie. »Deswegen brauchen sie eine intensivere und unmittelbarere Stimulation. Supernormale Reize tragen genau diese Eigenschaften.«

Unter bestimmten Bedingungen fällt es jedoch allen Menschen schwer, sich zu zügeln. In einer Studie aus dem Jahr 1999 forderten die Marketing-Wissenschaftler Baba Shiv von der Stanford University und Alexander Fedorikhin von der Indiana University in Indianapolis Probanden dazu auf, sich Zahlenreihen zu merken. Manche Reihen waren kurz, andere lang. Anschließend wurden die Versuchsteilnehmer in einen Warteraum gebracht, in dem Schokoladenkuchen und Obstsalat bereitstanden. Der Kuchen repräsentierte die impulsive, supernormale Wahl, das Obst die kognitiv aufwändigere, normale. Die Teilnehmer, die sich umfangreichere Zahlenreihen merken mussten, entschieden sich öfter für den Kuchen. Die Verhaltensökonomen Eldar Shafir und Sendhil Mullainathan erklären dies mit einer Überlastung der kognitiven Bandbreite: Je mehr Denkleistung aufgebracht werden muss, zum Beispiel um sich etwas zu merken, desto weniger Bandbreite steht für die Selbstkontrolle zur Verfügung. Auch Geldsorgen und Einsamkeit können die Hirnleistung drosseln, genau wie Hunger, Alkoholkonsum oder das Anhören eines Podcasts. Supernormales ist demnach besonders verführerisch für Menschen mit wenig kognitiver Kapazität: die Armen, die Verlassenen, die Hungrigen, die Betrunkenen, die Abgelenkten.

Entzückendes Babyface

Laut Evolutionspsychologinnen wie Deirdre Barrett sind inzwischen viele weitere Lebensbereiche »supernormalisiert«, etwa Schönheit und Sex-Appeal. In der Steinzeit sei nicht nur das Essen knapp gewesen, sondern auch die Gruppengröße überschaubar und die Attraktivität einzelner Mitglieder moderat. Folglich entwickelten die ersten Menschen, um gesunde Nachkommen zu zeugen, eine Vorliebe für Anzeichen von Fruchtbarkeit und sexueller Reife wie große Brüste oder breite Männerschultern. Heute begegnen wir jeden Tag auf der Straße oder im Internet mehr Menschen als unsere Vorfahren in ihrem ganzen Leben. Potenzielle Partnerinnen und Partner sind teils übernatürlich schön, ob durch operative Eingriffe oder digitale Filter.

Der Humanethologe James Francis Doyle und der Psychologe Farid Pazhoohi untersuchten in einer Studie, welche Brüste bei Versuchspersonen am besten ankommen. Etwa die Hälfte der knapp 400 männlichen und weiblichen Probanden sprach Farsi, stammte demnach aus einem nichtwestlichen Kulturkreis, was die universelle Aussagekraft der Studie erhöht. Die Forscher gingen von einer »Größer ist besser«-Regel aus, und tatsächlich zeigte sich, dass sowohl Männern wie Frauen im Schnitt mittelgroße und große Brüste als attraktiver bewerteten als kleine. Im Alltag werden Frauen mit größeren Brüsten öfter als Anhalterinnen mitgenommen, bekommen mehr Trinkgeld und werden häufiger vom anderen Geschlecht angesprochen. Außerdem waren in der Studie operierte Brüste beliebter als natürliche. Hier kam es allerdings weniger auf die Größe an als auf die Form: Eine konvexe obere Linie, also eine stärkere Rundung, wurde als schöner empfunden. Ähnliche Studien zeigen, dass bei Frauen ein Verhältnis von 0,7 vom Taillenumfang zum Hüftumfang als sehr attraktiv gilt. Diesem Verhältnis kann sich eine Frau künstlich annähern oder es sogar unterbieten, etwa indem sie eine Stehhaltung namens Kontrapost einnimmt. Dabei wird das Körpergewicht auf ein Bein verlagert, während das zweite Bein entspannt ist. Diese Pose, bei der die Hüfte leicht geneigt steht, nehmen schon antike Statuen ein.

Als die Psychologen Marco Costa und Leonardo Corazza, damals beide an der Universität Bologna, Kunstwerke verschiedener Epochen und Kulturen analysierten und mit Fotos von realen Menschen verglichen, zeigte sich, dass die Augen auf den Gemälden im Schnitt größer und runder waren und die Lippen voller. Ein Gesicht, das diese Anforderungen erfüllt, zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als eines mit dünnen Lippen und kleinen Augen. Wie stark der Drang ist, sich selbst so darzustellen, wollten die Psychologen in der 2006 publizierten Studie ebenfalls testen. Sie ließen Kunststudenten Selbstporträts anfertigen – mal mit, mal ohne Spiegel. In beiden Fällen, vor allem jedoch ohne Spiegel, modifizierten die Studierenden ihre Gesichter anhand genau jener Kriterien und erzeugten so eine »supernormale« Version ihrer selbst. Große Augen und ein voller Mund gehören zur »Neotenie«, der Beibehaltung kindlicher Merkmale über die Geschlechtsreife hinaus. Diese Optik ist typisch für Babys, ruft automatisch Zuneigung hervor und wird selbst bei Erwachsenen noch als schön empfunden – vorausgesetzt, die dazugehörigen Anzeichen sexueller Unreife sind verschwunden. So zeigte sich in der Studie von Costa und Corazza, dass eine runde untere Gesichtskontur, wie sie Kinder und Jugendliche häufig noch aufweisen, jenseits der 20 eher nicht mehr attraktiv wirkt.

Nun gibt es jedoch auch von Natur aus Menschen mit großen, ausdrucksstarken Augen oder einer Wespentaille. Darf man dann überhaupt von Supernormalität sprechen? Hier offenbart sich eine Unschärfe des Begriffs. Laut Definition ist ein supernormaler Stimulus einer, auf den Lebewesen stärker reagieren als auf den natürlichen Reiz. Das lässt sich aber ebenso durch die Modifikation des ursprünglichen Reizes erreichen. So baute Tinbergen nicht nur ganz neue künstliche Schnäbel aus Holz, er nutzte außerdem deutlich lebensechtere Attrappen oder veränderte echte Möwenschnäbel so, dass sie ein stärkeres Bettelverhalten auslösten. Auf diese abgeschwächte Weise können etwa Make-up oder Push-up-BHs als Schmuck verstanden werden, der einen normalen zu einem supernormalen Stimulus macht. Dank Photoshop und anderer digitaler Bildbearbeitungsmöglichkeiten sind Models, Pornostars, Schauspielerinnen oder Influencer ebenfalls meist supernormale Versionen ihrer selbst. Und dank Apps, die Augen vergrößern und Nasen begradigen, kann jeder sein Antlitz supernormal optimieren.

Kulleraugen und Riesenkopf | Micky Maus treibt das Kindchenschema auf die Spitze.

Das Kindchenschema und andere Attraktivitäts-Booster werden nicht nur auf Instagram & Co. eingesetzt, um Körper ansprechender zu gestalten. Das Gleiche gilt für Film und Fernsehen. 1979 veröffentlichte der Biologe Stephen Jay Gould den Essay »A Biological Hommage to Mickey Mouse«. Darin führte er aus, wie Disneys Vorzeigecharakter sich über die Jahrzehnte wandelte, weg von einer mehr oder weniger realistischen Darstellung einer Maus hin zu einer supernormalen Babyversion mit riesigen Augen, kurzer Schnauze und einer großen, runden Stirn. Mittlerweile wird nahezu jeder Comic-Charakter nach diesem Prinzip gezeichnet, es sei denn, es handelt sich um den Bösewicht.

Die Psychologin Deirdre Barrett deutet bereits das Bewegtbild an sich als supernormale Reizlandschaft. Auf Grund der Zooms, der schnellen Schnitte und der Lautstärkeveränderungen könnten Menschen kaum anders, als ihre Aufmerksamkeit auf ein Fernsehprogramm – oder ein Youtube- oder Tiktok-Video – zu richten. Ähnlich wie bei einer Tüte Chips bedarf es größerer Selbstdisziplin, um sich abzuwenden. Auch der soziale Aspekt von Social Media ist laut dem Psychologen Adrian Ward von der University of Texas in Austin ein Kandidat für einen supernormalen Stimulus. Soziale Kontakte aktivieren das neuronale Belohnungssystem. Doch genauso können stellvertretende Zeichen für Zuwendung, etwa Fotos lächelnder Menschen oder Likes unter einem Post, dieses System in Schwung bringen. Menschen reden gern über sich selbst und erhalten dafür Bestätigung. Wie Ward im 2015 erschienenen Fachbuch »The Psychology of Desire« schreibt, hat »das Internet dieses extreme Bedürfnis der Selbstmitteilung gekapert«. Er verweist auf Schätzungen, denen zufolge zirka 80 Prozent der Aktivitäten auf Social Media darin bestehen, eigene Erfahrungen zu teilen. Zum Problem wird all das, wenn Onlinekontakte echte soziale Interaktionen ersetzen, so Ward.

Die Liste an potenziell Supernormalem ließe sich noch lange fortsetzen. So aktivieren etwa synthetische Drogen das Belohnungssystem im Gehirn schlicht auf Grund ihrer molekularen Struktur stärker als »natürliche« Glückserfahrungen und werden deswegen gelegentlich als supernormal beschrieben. Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen supernormalen Reizen und pathologischem Verhalten besonders deutlich. Allerdings lässt sich nicht jede Sucht oder jede zwanghafte Handlung – zum Beispiel, sich die Hände zu waschen – auf supernormale Stimuli zurückführen, und nicht jeder übernormale Reiz führt gleich in eine Abhängigkeit.

Supernormale Stimuli sind nicht automatisch maladaptiv oder problematisch. Der Philosoph Andreas De Block von der Katholischen Universität Löwen in Belgien und der Evolutionsforscher Bart Du Laing, damals an der Universität Gent, verweisen in einer 2010 erschienenen Veröffentlichung darauf, dass der Mensch seine entsprechende neuronale Veranlagung kontrollieren und mit Gewinn nutzen kann, nämlich zum Genuss. Außerdem fordern sie, die Rolle der Kultur nicht zu vergessen. In nichtindustriellen Gesellschaften sei der Hedonismus weniger stark ausgeprägt. Hier gäben sich die Menschen weitaus seltener schädlichen Amüsements hin. Stattdessen dominierten Werte, die die eigene Gesundheit und den Reproduktionserfolg der Gemeinschaft fördern. Interessanterweise könne man das evolutionspsychologische Erklärungsmodell daher passender auf eine hochmoderne Industrienation anwenden als auf eine Agrargesellschaft.

Obwohl das Konzept der supernormalen Stimuli einige Unschärfen aufweist und gelegentlich theoretisch unsauber oder auf eine empirisch nur schwer überprüfbare Art angewandt wird, kann es helfen, einige drängende Probleme besser zu verstehen. Wie könnten also individuelle und gesellschaftliche Maßnahmen aussehen, die der Supernormalität unserer Welt Rechnung tragen? Vieles ist denkbar, nicht alles lässt sich leicht umsetzen. Auf einer politischen Ebene empfiehlt der Marketing-Forscher Michał Folwarczny, Anreize für Lebensmittelhersteller zu schaffen, gesundes Essen schmackhafter zu machen und den Zugang dazu zu erleichtern. Außerdem liegt es mittlerweile im Ermessen der Schulen, ob sie Handys auf ihrem Gelände zumindest teilweise verbieten. Und schließlich kann jeder Einzelne darauf achten, beim Einkaufen nicht hungrig oder durch das Handy abgelenkt zu sein, um supernormalen Verlockungen besser widerstehen zu können – wenn er das denn will. Womöglich hilft es auch, sich vorzustellen, dass man sich beim obsessiven Essen von Chips und beim Scrollen durch Instagram ähnlich merkwürdig verhält wie ein Möwenküken, das ein Stück Holz anbettelt.

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  • Quellen

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Costa, M., Corazza, L.: Aesthetic phenomena as supernormal stimuli – the case of eye, lip, and lower-face size and roundness in artistic portraits. Perception 35, 2006

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Goodwin, B. et al.: Measuring preference for supernormal over natural rewards – a two-dimensional anticipatory pleasure scale. Evolutionary Psychology 13, 2015

Goodwin, B. et al.: Rash impulsivity predicts lower anticipated pleasure response and a preference for the supernormal. Personality Differences 94, 2016

Gould, Stephen Jay: A biological hommage to Mickey Mouse. Natural History 197

Mullainathan, S., Shafir, E.: Scarcity – why having too little means so much. Times Books, New York 2013

Pazhoohi, F. et al.: Waist-to-hip-ratio as supernormal stimuli – effect of contrapposto pose and viewing Angle. Archives of Sexual Behavior 49, 2017

Shiv, B., Fedorikhin, A.: Heart and mind in conflict – the interplay of affect and cognition in consumer decision making. Journal of Consumer Research 26, 1999

Tinbergen, N., Perdeck, A. C.: On the stimulus situation releasing the begging response in the newly hatched herring gull chick. Behaviour 3, 1950

Vidya, T. N. C.: Supernormal stimuli and responses. Resonance 23, 2018

Wansink, B., Hanks, A.: Slim by design – serving healthy foods first in buffet lines improves overall meal selection. PLOS ONE 8, 2013

Ward, A.: Supernormal. How the internet is changing our memories and our minds. Psychological Inquiry 24, 2013

Ward, A. et al.: Media usage diminishes memory for experiences. Journal of Experimental Social Psychology 76, 2018

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