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Tierhandel: Der Dschungel an der Leine

Noch vor wenigen Jahrzehnten befand sich in der niedersächsischen Provinz ein Zentrum des Handels mit Wildtieren aus aller Welt. Das lag an den Unternehmungen zweier Männer.
Ankunft exotischer Tiere in Alfeld
Illustration der Ankunft exotischer Tiere und ihrer Hüter in Alfeld an der Leine.

Alfeld (Leine) liegt in Südniedersachsen, auf halber Strecke zwischen Göttingen und Hannover: Bahnhof, Bundesstraße, Handel, Industrie, Landwirtschaft, Kitas, Schulen sowie eine schmucke Altstadt mit Fußgängerzone und Leerstand. So weit, so gewöhnlich. Die bedeutendste Sehenswürdigkeit der Stadt ist neben einigen bemerkenswerten Fachwerkhäusern das Fagus-Werk, eine 1911 von Walter Gropius (1883–1969) errichtete Fabrik für Schuhleisten. Der erste Industriebau des Architekten und späteren Bauhausgründers wurde 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Davon abgesehen unterscheidet sich das Städtchen mit seinen rund 18 000 Einwohnerinnen und Einwohnern kaum von vielen anderen Kleinstädten im Land. Vor allem aber deutet nichts darauf hin, dass vor noch nicht einmal 100 Jahren ausgerechnet hier eines der bedeutendsten Zentren des Handels mit Wildtieren aus aller Welt lag.

Genau dafür aber stand der Ort. Er war das »Mekka der Zoodirektoren«, wie Richard Müller (1904–1987) es ausdrückte. Der einstige Leiter des Tierparks in Wuppertal schwärmte noch nach Jahrzehnten von der guten alten Zeit, in der sich Leiter von Tiergärten aus ganz Europa in Alfeld »wie der kleine Junge zu Weihnachten im Spielwarengeschäft für seinen Zoo jeden Wunsch erfüllen« konnten. Allein zwischen 1923 und 1933 kamen hier tausende Tiere auf den Markt, erinnerte sich Müller 1963: »230 Elefanten, 30 Flusspferde, 16 Giraffen, 274 Zebras, 248 Löwen, 229 Tiger, 305 Eisbären und über 2000 Alligatoren, um nur einige der besonders bemerkenswerten Tierarten herauszugreifen. Wer von uns älteren Zoodirektoren sich noch der großen, gedruckten Verkaufslisten entsinnt, denkt mit Wehmut an eine Zeit, in der allein auf einer Verkaufsliste hunderte verschiedene Säugetier- und Vogelarten in bald tausenden Individuen zu im Vergleich mit heute sehr günstigen Preisen angeboten wurden.«

Die Ursprünge dieses exotischen Viehmarkts lagen noch ein paar Jahrzehnte tiefer in der Vergangenheit – und sie hatten mit einem weit weniger fremdartigen Tierchen zu tun: dem Kanarienvogel. Bereits im 18. Jahrhundert hatten Bergleute, Glasschmelzer und Waldarbeiter im Harz oder Weserbergland damit begonnen, sich als Vogelzüchter ein Zubrot zu verdienen. Jeweils im Frühjahr transportierten wandernde Vogelhändler die zum Verkauf bestimmten Tiere auf einem Reff genannten Holzgestell, das auf den Rücken geschnallt wurde und beladen mit bis zu 170 kleinen Käfigen rund 50 Kilogramm wog. In tagelangen Fußmärschen trugen die Händler ihre lebende Fracht in die deutschen Seehäfen. Von Bremen, Hamburg oder Lübeck ging die Reise dann per Schiff weiter zu den Bestimmungsorten der zwitschernden Exportware – neben England, Holland und dem Nahen Osten war dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem Sankt Petersburg, wo Singvögel aus Mitteleuropa zu jener Zeit groß in Mode waren.

Berliner Kinder-Zoo | Jungtiere waren bei Tierhändlern ähnlich beliebt wie bei Zoobesuchern – hier eine Szene aus dem Berliner Zoo, wo Kinder mit Jungbären spielen durften: Sie ließen sich leichter zähmen und eingewöhnen. Um sie zu fangen, brachten die Häscher die Elterntiere aber meist um.

Der Aufstieg zweier Vogelhändler

Mitte des 19. Jahrhunderts machten zwei dieser Vogelhändler erstaunliche Karrieren. Den einen von ihnen, Karl Reiche (1827–1885) aus dem Glasmacherort Grünenplan im Hils am Rande des Weserberglands, führte im Mai 1840 seine erste Fahrt als Händler ebenfalls nach Sankt Petersburg – mit gerade einmal 13 Jahren. Und schon im folgenden Jahr wagte der Junge als erster Vogelhändler überhaupt den Sprung über den Atlantik, in die Neue Welt. Wobei der Ausdruck »Sprung« in diesem Fall nicht ganz zutreffend ist. »Ich musste mich eines Segelschiffes bedienen und gebrauchte Monate, bevor ich in Amerika ankam«, berichtete Reiche in dem 1872 erschienen Buch »Gefangene Vögel«, einem von Alfred Brehm (1829–1884) zusammengestellten »Hand- und Lehrbuch für Liebhaber und Pfleger einheimischer und fremdländischer Käfigvögel«.

Die Überfahrt war nur eine der Herausforderungen, denen sich Reiche zu stellen hatte. »Es fehlte an allem: an Liebhabern, an Käfigen, an Futter, wie es die Vögel von der Heimat her gewohnt, an Kenntnis sie zu behandeln, an Verständnis für die Leistungen«, erinnerte sich Reiche an vielfältige Widrigkeiten. Dass der junge Handelspionier anfangs auch noch kein Wort Englisch sprach, erleichterte sein Geschäft nicht unbedingt. Dennoch gelang es ihm, über den Winter die 1000 Vögel zu verkaufen, mit denen er in New York eingetroffen war. Damit war der erste Schritt getan – die nächsten folgten prompt. »Schon nach wenigen Jahren war all' dem abgeholfen und die Liebhaberei vermehrte und verbreitete sich von Jahr zu Jahr.«

Boomendes Geschäft in Übersee

Innerhalb eines Jahrzehnts verzehnfachte sich die Zahl der vom Tierhandelsunternehmen Reiche in den USA abgesetzten Kanarienvögel. »Einer der Gründe für die große Nachfrage war die Erschließung des nordamerikanischen Markts durch den Aufbau eines Vertriebsnetzes mit Zwischenhändlern in allen großen Städten von der Ost- bis zur Westküste«, sagt Ina Gravenkamp, die Leiterin des Stadtmuseums Alfeld. Karl Reiche nahm seinen jüngeren Bruder Heinrich (1833–1887) mit ins Geschäft, als dieser zwölf Jahre alt war. 1860 übernahm Heinrich die Niederlassung in New York und besorgte den Vertrieb der Vögel, Karl blieb in Grünenplan und organisierte ihren Einkauf und Versand – bis er 1866 mit seinem Unternehmen nach Alfeld zog.

»Dass es zu einem Zentrum des weltweiten Tierhandels werden konnte, hatte Alfeld nur der Eisenbahn zu verdanken«, so Gravenkamp. 1854 hatte die damals bloß rund 2500 Einwohner zählende Stadt einen Anschluss an die Eisenbahnlinie Hannover-Kassel erhalten – und damit zugleich einen immensen Standortvorteil. »Durch den Bahnanschluss eröffneten sich den Tierhändlern von hier aus direkte und schnelle Transportwege zu den Seehäfen«, so Gravenkamp, die außerdem dem Tiermuseum von Alfeld vorsteht, von dem noch die Rede sein wird.

Reiche lieferte die Vögel bald nicht nur in die USA, sondern auch innerhalb Europas aus, nach Südamerika und sogar bis nach Indien und Australien. Die Transporte übernahmen Handelsreisende aus Deutschland. »In erster Linie waren es Bauhandwerker aus der Umgebung von Grünenplan und Alfeld«, sagt Gravenkamp. Sie konnten so zunächst in den Wintermonaten, in denen einerseits die Baustellen ruhten, andererseits aber die Exportsaison für Kanarienvögel war, als Vogelhändler Geld verdienen. Später beschäftigte das Unternehmen viele von ihnen als hauptberufliche Tierreisende und setzte sie in aller Welt ein.

Die Diversifizierung des Angebots

Das Unternehmen wuchs rasant. »Im verflossenen Jahre (1869) habe ich sechsundzwanzigtausend männliche Kanarien- und etwa fünzehnhundert verschiedene andere Singvögel nach New York abgesandt«, berichtete Reiche sichtlich stolz in Tiervater Brehms Buch. »Von New York an bis Kalifornien, von Kanada bis Mississippi – allüberall hat sich in den wenigen Jahren der ›deutsche Kanarienvogel‹ Eingang, Liebhaber und Freunde verschafft.«

Zu diesem Zeitpunkt hatte Reiche sein Angebot allerdings schon erheblich ausgedehnt. Anfangs brachten manche seiner Händler von ihren Reisen nach Übersee nur vereinzelt exotische Vögel mit. Der Unternehmer jedoch erkannte die Chance, die Rückreisen, die bis dahin nur Kosten verursacht hatten, Gewinn bringend zu nutzen. »Wir richten deshalb unser Augenmerk vorzugsweise auf Tiergärten, besorgen für diese außer Luchsen, Bibern, Hirschen, Bisons und anderen Säugetieren Baum-, Schopf- und Zopfwachteln, Truthühner, Kraniche, Enten, Schwäne usw.« Seit Mitte des 19. Jahrhunderts waren in zahlreichen europäischen Städten zoologische Gärten gegründet worden. In Deutschland etwa hatte Berlin 1844 den Anfang gemacht, es folgten Frankfurt am Main, Köln, Dresden, Hannover: Bald schon hatten alle größeren Städte einen Tierpark.

Um die steigende Nachfrage zu bedienen, expandierte das Unternehmen weiter. Zunächst kaufte Reiche von griechischen Zwischenhändlern Tiere aus Afrika ein, bald schon rüstete er eigene Expeditionen aus. »1876 lieferte Reiche das erste Nilpferd nach Deutschland und verkaufte es an den Zoologischen Garten in Berlin«, erzählt Gravenkamp. »Zwischen 1873 und 1883 führte die Firma insgesamt 130 Giraffen, 36 Elefanten, 18 Nilpferde, vier Nashörner, 110 Antilopen und Büffel sowie 180 Raubtiere ein.« Zudem griff Reiche eine Geschäftsidee Carl Hagenbecks (1844–1913) auf, seines heute bekannteren Konkurrenten aus Hamburg, der 1874 eine erste so genannte Völkerschau mit »Lappländern« veranstaltete und damit ein aus heutiger Sicht zumindest verstörend wirkendes Spektakel: die Zurschaustellung vermeintlich wilder, vor allem aber fremder Menschen.

Hagenbecks Idee kam gut beim Publikum an und andere Veranstalter folgten seinem Beispiel. Reiche ließ unter anderem nordamerikanische Ureinwohner durch deutsche Städte touren oder schickte 1879 Afrikanerinnen und Afrikaner, die beim Tiertransport nach Deutschland gearbeitet hatten, mit Kamelen als »Nubier-Karawane« durchs Land. Auch nach Alfeld kam die Karawane. Welcher Art das Spektakel war, überlieferte Hugo Busch in seinen Erinnerungen, ein Neffe Reiches und Sohn eines Tierreisenden. Dabei war er selbst gar nicht dabei gewesen. »Unsere älteren Brüder, unsere Schwestern durften nach Alfeld, um ›düsse Swatten sek antoseien!‹ O, wie sie zu erzählen wussten! Sie hatten auf Kamelen geritten, auf den Elefanten gesessen«, schreibt Busch. Seine Geschwister seien auch vom Aussehen und den Tänzen der Afrikaner angetan gewesen. »Die Schilde und Lanzenspeere! Die Muschelschnüre und die Perlenketten!«

Lokale Konkurrenz

Ludwig Ruhe (1828–1883), der zweite Unternehmer, der den Ruf Alfelds als Zentrum des Wildtierhandels mitbegründete, stammte ebenfalls aus Grünenplan. Auch er hatte als Vogelhändler angefangen und ein aufstrebendes Unternehmen gegründet, dessen Sitz er wenige Jahre später als Reiche gleichfalls nach Alfeld verlegte. Auch er eröffnete Niederlassungen in Übersee, und auch er erweiterte sein Geschäftsfeld um den Handel mit exotischen Tieren. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Konkurrenz zwischen den Alfelder Tierhandelshäusern zu scharf zu werden drohte, schlossen die Unternehmen eine Vereinbarung, nach der sich die Firma Reiche für eine Dauer von zehn Jahren auf das Geschäft mit wilden Tieren beschränken würde und Ruhe auf den Kanarienvogelhandel.

Kaum war im Jahr 1900 das Gentlemen's Agreement ausgelaufen, nahm Hermann Ruhe (1861–1923), der Sohn des Firmengründers, den Handel mit wilden Tieren wieder auf und expandierte. Am Stadtrand ließ er Stallungen für seine exotischen Importwaren bauen, die lange Jahre auch als Quarantänestation dienten. Noch heute entsinnen sich über 50-jährige Alfelderinnen und Alfelder an das Brüllen der Löwen und das Kreischen der Affen, das sie hörten, wenn sie ihr Schulweg an dem Anwesen der Firma Ruhe vorbeiführte.

»Ein Ereignis und Erlebnis ganz besonderer Art brachte immer die ganze Bürgerschaft in Aufregung«, so hatte sich auch Alfred Glenewinkel 1900–1996) an seine Kindheit erinnert, der in Alfeld geborene spätere Leiter verschiedener Zoos. »Das war die Ankunft einer der großen Überseetransporte der Tropenreisenden und Tierfänger der Firma Reiche und Ruhe. Männer mit großen Tropenhüten, braun gebrannt, gewichtig in dem Bewusstsein, nach monatelanger erfolggekrönter Arbeit in fremden Erdteilen nun wieder in der Heimat zu sein, im Kreise der Familie und Freunde. Vorüber zog an mir die Karawane. An Halftern geführte Zebras, Giraffen, Büffel, Antilopen, begleitet von eingeborenen Helfern und Pflegern.« Letztere blieben meist namenlos, während wir Glenewinkels Lebensweg vom Tierreisenden in Ruhes Diensten zum Zoodirektor verfolgen können.

Da war es nur noch Ruhe

Nachdem sich Carl Reiche jun. (1854–1925), der die Firma nach dem Tod seines Vaters geführt hatte, 1909 aus dem Tierhandel zurückzog und keiner seiner Erben das Unternehmen weiterführen wollte, übernahm Ruhe den Konkurrenten kurzerhand. Bis heute heißt es in Alfeld zu dieser Fusion: »Als Reiche sich zur Ruhe setzte, wurde Ruhe reich.« Zwar brach bald darauf mit dem Ersten Weltkrieg und den politischen und ökonomischen Wirren während der frühen Jahre der Weimarer Republik der Tierhandel komplett ein. Doch ab 1923 lief das Geschäft schnell wieder besser und die Ruhe KG florierte nunmehr unter der Führung von Hermann Ruhe jun. (1895–1978) in dritter Generation. »In den nächsten Jahren entwickelte sich die Firma zum größten Tierhandelshaus der Welt«, so Gravenkamp. Das waren die Jahre, von denen Zoodirektor Müller geschwärmt hatte.

Tiertransport | Die Bedingungen, unter denen die Tiere gefangen, transportiert und gehalten wurden, waren lange weder artgerecht noch im Sinne des Artenschutzes. Enge Kisten und Käfige waren an der Tagesordnung.

Die Firma Ruhe schickte Expeditionen nach Afrika und Sibirien, nach Indonesien und in den Himalaja. Niederlassungen gab es in England, Indien sowie Nord- und Südamerika. 1927 erregte die Einfuhr von mehr als 100 Orang-Utans einiges an Aufsehen. In der Folge erließ Sumatra für die Menschenaffen ein Ausfuhrverbot. Auch Menschen wurden wieder ausgestellt: 1926 zeigte das Unternehmen eine »Lappen-Schau«, im Jahr darauf die »Somali-Schau«. »Darüber hinaus war die Ruhe KG an der Entwicklung und Errichtung von Tiergärten in aller Welt beteiligt«, so Gravenkamp. »Zum Teil lieferte sie den Einrichtungen auch gleich den gesamten Tierbestand.« 1931 übernahm die Firma Ruhe zudem den Zoo Hannover, den sie die nächsten vier Jahrzehnte leitete und der in dieser Zeit als eine Art Schaufenster für die große Auswahl und weit reichenden Geschäftsverbindungen des Unternehmens diente.

Wenig artgerecht

Die Wildtierjagd an sich war meist erbarmungslos und brutal. »Quellen belegen, dass die Tierfänger teilweise 40 ausgewachsene Tiere töteten, um vier Jungtiere einzufangen«, sagt die Historikerin Charlotte Hoes, die zu den Alfelder Tierhändlern und ihren Handelsnetzen promoviert. »Das Verhältnis der Firma Ruhe und ihrer Beschäftigten zu ihrem Handelsgut war ein sehr pragmatisches.« Jungtiere wurden bevorzugt gefangen, da sie leichter zu transportieren und besser zu verkaufen waren. Auch war zu hoffen, dass sie die Strapazen der Verbringung nach Europa eher überstanden als ältere Artgenossen. »Die Tiere erhielten ihren Wert nahezu ausschließlich durch den Gegenwert Geld«, so die Historikerin von der Georg-August-Universität Göttingen.

Lebendige Ware ist jedoch empfindlich. Verluste konnten daher zwar nicht komplett ausgeschlossen, sollten aber möglichst gering gehalten werden. Dennoch verstarben viele Tiere schon während des Transports in die Seehäfen ihrer Heimatregionen, auf der Überfahrt nach Europa und natürlich auch noch nach der Ankunft in Alfeld, dem »Dschungel an der Leine«, wie die Stadt nun scherzhaft genannt wurde. Eine mit rund 200 Exponaten beachtliche Auswahl von in der hiesigen Quarantänestation verstorbenen Tieren wurde bereits in den 1920er Jahren präpariert und in ihrem vermeintlich natürlichen Lebensumfeld nachgebildeten Dioramen zusammengestellt, die heute noch im Tiermuseum der Stadt zu besichtigen sind – flankiert von Informationen zur Geschichte der beiden Tierhandelsunternehmen.

Im Depot des Museums lagern zudem rund 100 ethnologische Objekte, die wahrscheinlich im Gepäck der Tierreisenden von einst ihren Weg hierher fanden. Ihre genauen Verbindungen zu den Tierhandelsunternehmen Reiche und Ruhe werden 2022 im Rahmen eines am Seminar Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen angesiedelten Forschungsprojekts untersucht. Dieses wurde auf Initiative des Alfelder Tiermuseums und des Netzwerks Provenienzforschung in Niedersachsen ins Leben gerufen und wird vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gefördert.

»Sowohl Kontextforschung zu den Tierhandelsunternehmen als auch zur Sammlung sollen langfristig helfen, die Provenienz der Zoologica und Ethnografica zu klären«, sagt die Historikerin Hoes, die in den vergangenen Monaten im Rahmen des Forschungsprojekts in US-Archiven recherchiert hat und ihre Erkenntnisse noch auswertet. Obwohl die Geschichte der beiden Firmen in ihren Grundzügen recht gut bekannt ist, seien viele Details bislang unklar. »So wissen wir wenig über die personellen wie institutionellen Beziehungen der Firmen«, sagt Hoes. »Genauso wenig ist über die genaue Logistik auf den Hauptrouten bekannt, die sie für den Import nutzten und welches die zentralen Regionen des Tierfangs waren.« Klar ist aber, dass die Tierhändler schon auf die koloniale Infrastruktur von Briten und Franzosen zurückgriffen, noch ehe Deutschland im Ersten Weltkrieg seine Kolonien verlor.

Mit dem nächsten Weltkrieg brach das Geschäft erneut zusammen. »Erst im Jahr 1955 erreichte die Firma Ruhe wieder das Handelsvolumen der Vorkriegszeit«, sagt Museumsleiterin Ina Gravenkamp. Doch bereits ab den 1960er Jahren machte dem Handelsunternehmen die immer strengere Gesetzgebung in den Herkunftsländern der Tiere zu schaffen, die mit strikten Fang- und Exportbeschränkungen einherging und im Zuge von Dekolonisierungsprozessen zunehmend durchgesetzt wurde. Außerdem sank die Nachfrage in den zoologischen Gärten, die inzwischen immer häufiger Züchtungserfolge vermeldeten und sich ihren Nachwuchs selbst heranziehen konnten. Mit dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1973, das seit 1976 auch in der Bundesrepublik gilt und die Jagd nach bedrohten Tieren untersagte sowie den Handel mit nicht gefährdeten einschränkte, wurde es erheblich schwerer, legale Geschäfte mit wilden Tieren zu machen. Einige Jahre lang konnte das Unternehmen sich noch mit dem Betrieb von Safari-Parks über Wasser halten. Als Ende 1993 die Firma Ruhe in Konkurs ging, schlossen sich auch deren Pforten für immer.

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