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Artenschutz: Flieg mir einfach nach

Der Waldrapp gehört zu den seltensten Vogelarten weltweit. Das soll sich ändern. Doch wie lernt ein ausgewilderter Vogel, in den Süden zu ziehen? Menschen bringen es ihm bei!
Der Waldrapp ist ein schwarzer Vogel mit kahlem Kopf und langem Schnabel
Der Waldrapp soll vom Menschen lernen, in seine angestammten Winterquartiere zu fliegen.

Aurelius traut sich nicht. Unentschlossen hüpft der Waldrapp auf dem kleinen Steg in der Voliere Stück für Stück nach vorn. Er späht nach draußen, wo seine Artgenossen ihre ersten längeren, noch etwas unkoordinierten Flugversuche machen. Es ist erst neun Uhr morgens, doch die warme, stehende Luft kündigt bereits die anrollende Hitze des Tages an. Aurelius ist einer von 35 jungen Waldrappen, die an diesem hochsommerlichen Tag ihr zweites Flugtraining auf einem kleinen Flugplatz in der Nähe des Bodensees absolvieren.

Der Waldrapp zählt zu den Ibisvögeln. Sein nacktes, rotes Gesicht mit dem sichelförmigen Schnabel und die verstrubbelt abstehenden Nackenfedern verleihen ihm sein schräges Aussehen. Heute gehört er zu einer der seltensten Vogelarten weltweit, aber das war nicht immer so. Bis ins 17. Jahrhundert war der Zugvogel in Europa heimisch, dann wurde er fast ausgerottet, weil er zu viel gejagt wurde. Lediglich in Marokko haben zwei nicht mehr migrierende Kolonien überlebt. Deshalb gilt der Waldrapp heute als stark gefährdet.

Der österreichische Biologe Johannes Fritz hat sich in den Kopf gesetzt, das zu ändern. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er mit einem kleinen Team und einer großen Portion Idealismus an der Auswilderung der Zugvögel in ihr einst natürliches Verbreitungsgebiet: den Alpenraum. »In den 1990er Jahren habe ich in einer oberösterreichischen Forschungsstelle mit Graugänsen und Kohlraben gearbeitet«, erzählt Fritz von den Ursprüngen der Idee. »Zu der Zeit fing man an, dort frei fliegende Waldrappe zu Forschungszwecken zu halten.« Damals habe sich gezeigt: Wenn man Waldrappe lokal aufzieht und hält, zeigen sie – anders als Graugänse – die Motivation, im Herbst wegzufliegen.

»Zuerst war es nur ein Versuch: Kann man Waldrappe dazu bringen, einem Fluggerät nachzufliegen?«Johannes Fritz, Biologe

»Damals wurde uns klar, dass man daraus etwas machen kann in Bezug auf Artenschutz und Wiederansiedlung«, erzählt Fritz. 1996 kam »Amy und die Wildgänse« in die Kinos. Ein Film, der auf wahren Begebenheiten basiert: Bill Lishman, ein Flugpionier und Hobbyvogelkundler, führte 1993 in seinem klapprigen Flieger Kanadagänse in ihr Winterquartier. »Die Geschichte hat uns inspiriert, das ab 2001 mit Waldrappen zu probieren«, fährt der Biologe fort: »Zuerst war es nur ein Versuch: Kann man Waldrappe dazu bringen, einem Fluggerät nachzufliegen?«

Es stellte sich heraus: Man kann! Der Grundstein für das Auswilderungsprojekt mit Zugvögeln war gelegt. Ende August 2023 ist Fritz mit seinem Team und der jüngsten Kolonie zum Überwintern vom Bodensee in den Süden Spaniens aufgebrochen. Im Ultraleichtflugzeug, die Waldrappe hinterher, bis ins andalusische Winterquartier. Doch auch wenn das so einfach klingt: Dafür braucht es Training, denn die Vögel haben ihr natürliches Zugverhalten verlernt. Es klingt nach verkehrter Welt, doch der Mensch muss dem Vogel das Fliegen beibringen. Und das tun an diesem frühsommerlichen Morgen vor allem zwei junge Frauen: die Biologin Barbara Steininger und die Geografin Helena Wehner. Sie sind die Ziehmütter der diesjährigen Handaufzucht und übernehmen für die 35 Waldrappe die Funktion der Elternvögel.

Zwei Frauen als Ziehmütter für den Waldrapp

Von den ersten Tagen bis zu ihrer Auswilderung darf niemand außer den beiden Frauen in die unmittelbare Nähe der Vögel. Die Waldrappe sollen die Ziehmütter als ihresgleichen akzeptieren, ohne sich an Menschen im Allgemeinen zu gewöhnen. Denn wo Menschen sind, lauern Gefahren wie Strommasten oder illegale Jäger. Die Küken sind bereits ab dem Alter von drei bis acht Tagen in der Obhut ihrer Ziehmütter, die sie aus dem Tierpark Rosegg in Kärnten bekommen. Für die zweite Etappe der Aufzucht geht es für die beiden Frauen mit ihren Zöglingen in den Zoologischen Stadtgarten Karlsruhe. »In dieser Phase beginnen wir um 6.30 Uhr und verlassen den Zoo um 22 Uhr«, erklärt Helena Wehner. In der Zeit finden nicht nur zahlreiche Fütterungen statt, die Ziehmütter beginnen auch, Sozialkontakt zu den Tieren aufzubauen. Besonders entscheidend sind die ersten 10 bis 14 Tage im Leben der Vögel. »Das ist die Phase der Prägung – ohne die Prägung durch uns Zieheltern funktioniert alles Weitere nicht«, so Wehner. Nur wenn die Bindung eng genug ist, sind die jungen Waldrappe motiviert, den Ziehmüttern im Ultraleichtflugzeug hinterherzufliegen.

»Es ist sehr wichtig, Zeit mit ihnen zu verbringen und auf die Vögel einzugehen«, erklärt Barbara Steininger: »Sie merken schnell, dass wir sie füttern, doch das Soziale kommt erst nach und nach.« Inzwischen suchen die Jungvögel aktiv die Nähe der jungen Frauen, sie kuscheln und interagieren mit ihnen wie mit ihren Artgenossen. »Wenn man zwölf Stunden täglich mit Waldrappen verbringt, kommt das ganz natürlich«, lacht Steininger. »Das sind zwar keine Säugetiere, doch von der Sozialstruktur harmonieren sie gut mit Menschen.«

Der Waldrapp | Bis zum 17. Jahrhundert war dieser Zugvogel in Europa heimisch. Doch durch die Jagd wurde er bei uns ausgerottet. Heute gibt es ihn nur noch in Marokko. Das soll sich ändern.

Kurz bevor die Vögel flügge werden, steht ein erneuter Umzug an, ins Trainingscamp, das an einem kleinen Flugplatz in der Nähe des Bodensees aufgebaut wurde. Dort ist eine 100 Quadratmeter große Voliere zunächst das ganze Universum der jungen Waldrappe. Die Ziehmütter verbringen ebenfalls den Großteil ihrer Tage dort. Dort sitzt Barbara Steininger auch jetzt auf dem Boden, während es sich Waldrapp Rabauke auf ihrem Bein gemütlich macht. Er pickt vorsichtig in Richtung des Smartphones in ihrer Hand. Helena Wehner liegt daneben und döst in der Vormittagshitze. Um die beiden herum herrscht eifriges Gewusel und Geflatter, ein Suchen und Scharren nach essbaren Insekten.

Die Vögel kuscheln mit den Ziehmüttern

»Wir fangen im Trainingscamp an, die Vögel an das Geräusch unseres Fluggeräts über Lautsprecher zu gewöhnen«, sagt Wehner. »Wenn alle flügge sind und mit uns in der Voliere sitzen, starten wir den echten Motor.« Eine Ziehmutter fährt das Fluggerät im Kreis und macht durch Rufe auf sich aufmerksam. Auf die Gewöhnungsphase folgt das erste Training im Freien. Wehner beschreibt es als riesiges Durcheinander, denn die Waldrappe müssen erst lernen, wie sie mit der Thermik und dem Wind umgehen.

Während des zweiten Trainings geht es schon geordneter zu. Fritz sitzt etwa 150 Meter von den Ziehmüttern entfernt in seinem Auto am Rand der Flugbahn. Ein Fernglas hilft ihm, das Treiben besser zu beobachten. Die Waldrappe ziehen im Schwarm über den hellblauen Himmel – bis auf zwei Ausreißer, die sich ins nächste Dorf verirrt haben, entfernen sie sich nicht weit. »Komm, komm, Waldi, komm, komm«, singt Barbara Steininger mit klarer, kräftiger Stimme. Der Vogelschwarm folgt ihrem Lockruf, und ein junger Waldrapp nach dem anderen landet neben den beiden jungen Frauen auf der Wiese. »Ja, sehr schön!«, murmelt Fritz mit Tiroler Akzent und nickt anerkennend. Er ist zufrieden – dass die Vögel auf die Stimmen der Ziehmütter reagieren, ist wichtig für den Ernstfall.

Die ersten Testflüge mit Piloten sind nur ein paar 100 Meter lang. Bevor die menschengeführte Migration startet, werden sie allerdings auf 60 bis 80 Kilometer ausgeweitet. Dann fliegt das Team mit zwei Ultraleichtflugzeugen, in denen jeweils ein Pilot und eine Ziehmutter sitzen. Wie schon im Trainingscamp tragen die Ziehmütter zur Erkennung gelbe T-Shirts, auch die Gleitschirme sind mit gelbem Stoff bespannt. Ein Fluggerät führt den Vogelschwarm an, das andere bildet das Schlusslicht. Seit August dokumentiert das Waldrapp-Team die Flugreise in den sozialen Medien, wo man die Formation in den Sonnenuntergang fliegen sehen kann.

Klimawandel gefährdet das Überleben des Waldrapps erneut

Die britische Verhaltensforscherin Jane Goddall hat dem Waldrapp-Projekt zu zusätzlicher Popularität verholfen. Im Jahr 2023 erschien der Dokumentarfilm »Reasons to hope«, in dem die Britin ihre Gründe zur Hoffnung vorstellt und erfolgreichen Natur- und Umweltschutzprojekten eine Bühne gibt: Eines davon ist das Waldrapp-Projekt. Es macht zwar Hoffnung, ist aber auch wahnsinnig aufwändig. »Wir sind seit über 20 Jahren tätig für eine Tierart, die noch nicht selbstständig überlebensfähig ist, auch wenn wir laut Modellierungen nahe dran sind«, resümiert Fritz. Anfang des Jahres lebten mittlerweile rund 200 Waldrappe im Alpenraum. »Doch jetzt treffen die Folgen des Klimawandels diese Population und gefährden ihr Überleben.«

15 erfolgreiche Migrationen hat das Waldrapp-Team bereits durchgeführt, bisher ging es allerdings über die Alpen in die Toskana. Die nach und nach selbstständig migrierenden Vögel sind in den letzten Jahren wegen des milden Klimas allerdings immer später ins Winterquartier aufgebrochen und hatten vermehrt Schwierigkeiten, die Alpen zu überqueren. Über die Gründe gibt es bisher nur Vermutungen. Fritz glaubt, dass die veränderte Thermik im Herbst eine Rolle spielt: Diese ist entscheidend für den Auftrieb der Vögel.

Barbara Steininger mit Waldrapp | Als Ziehmutter der handaufgezogenen Waldrappe übernimmt die Biologin Barbara Steininger die Funktion der Elternvögel. Und das heißt auch: ihnen das Fliegen beizubringen.

Auf Grund klimatischer Veränderungen musste also ein Winterquartier gefunden werden, das sich ohne Alpenüberquerung erreichen lässt. Und in Andalusien freut man sich schon auf die Waldrappe aus dem Norden, denn dort baut das Partnerprojekt Proyecto Eremita seit 20 Jahren eine sesshafte Population aus Artgenossen auf. Die zurückzulegende Strecke von 2300 Kilometern ins neue Quartier ist jedoch wesentlich länger, und die Dauer der Reise hängt von verschiedenen Faktoren ab – der Fitness der Vögel, dem Wetter, der Logistik. Auf dem Landweg fährt ein zehnköpfiges Bodenteam mit, das bei jeder Etappe eine mobile Voliere und ein kleines Camp aufbaut.

»In Europa verändern wir die Lebensräume der Tiere seit rund 500 Jahren massiv. Vor allem die Landwirtschaft hat die Natur stark zurückgedrängt«Volker Homes, Geschäftsführer im Verband der Zoologischen Gärten

Dabei sei das Auswilderungsprojekt keine Antwort auf das Artensterben, sondern eine Reparatur, betont Volker Homes, Geschäftsführer im Verband der Zoologischen Gärten. In erster Linie sei es wichtig, die Bedrohungsfaktoren zu minimieren. »Arten sterben aus, weil ihre Lebensräume verschwinden, weil sie gejagt und übernutzt werden oder weil der Klimawandel zuschlägt«, erklärt er. Die Zukunftsfrage laute daher: Wie kann man Lebensräume erhalten?

»In Europa verändern wir die Lebensräume seit rund 500 Jahren massiv: Die Auen werden verbaut, Moore gehen verloren«, fährt Homes fort: »Vor allem die Landwirtschaft hat die Natur stark zurückgedrängt.« Jetzt gehe es darum, einen Ausgleich zwischen Lebensräumen für heimische Tierarten und der Agrarwirtschaft zu finden. Erst im Juli hat das EU-Parlament dem von der Kommission vorgeschlagenen EU Nature Restoration Law zugestimmt, das alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, zerstörte Natur wieder in einen guten ökologischen Zustand zu bringen und so die Biodiversität zu sichern. Bis 2030 sollen mindestens 30 Prozent der Lebensräume in Land-, Küsten-, Süßwasser- und Meeresökosystemen wiederhergestellt werden.

»Wie aber bringt man die Tiere zurück in die Ökosysteme?«, fragt Holmes. »Da kommen die Zoos ins Spiel.« Das Potenzial von Auswilderungen sieht er weniger bei exotischen als vielmehr bei kleineren, heimischen Arten. Homes nennt als Beispiele für bereits laufende Wiederansiedlungsprogramme die Europäische Sumpfschildkröte, den Feldhamster und den Bartgeier: »Man kann Tiere nur zurückbringen, wenn man die Lebensräume hat und die Bedrohung minimiert.«

Ungewisse Investition in die Zukunft

Dazu gehört ein umfassendes Management sowie Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. »Wenn man den Feldhamster wieder ansiedelt, braucht es Verträge mit der Landwirtschaft«, erklärt Homes. »Damit er eine Überlebenschance hat, müssen gewisse Getreidearten länger stehen.« Im Fall des Bartgeiers, der seit 2021 im Berchtesgadener Land ausgewildert wird, merkt er an: »Das ist ein Aasfresser. Man muss also dafür sorgen, dass da tote Tiere sind, die er fressen kann.« Ein Auswilderungsprogramm sei letztlich eine ungewisse Investition in die Zukunft.

Zentral sei, dass man einen Bestand an gesunden Tieren hat. Es gibt mehr als 400 Erhaltungszuchtprogramme (EEP) des Europäischen Zooverbands EAZA (European Association of Zoos and Aquaria). Im Rahmen der Programme versuche man durch Bluttests und den Austausch von Tieren die genetische Vielfalt zu erhalten. Es folgen weitere Herausforderungen: »Bei vielen kleineren Arten weiß man gar nicht, wie man die züchten soll«, sagt Homes. »Was brauchen die Tiere? Wie kommen die in Brutstimmung?« Im Rahmen der Projekte arbeiten Zoos mit Naturschutzbehörden, NGOs und regionalen Programmen zusammen, Monitoring-Programme müssen etabliert werden.

»Ich finde den Gedanken, dass sie ein abenteuerliches Leben in der freien Wildbahn führen können, sehr schön«Barbara Steininger, Ziehmutter und Biologin

Das ist teuer, aufwändig und je nach Tierart und Lebensraum unterschiedlich erfolgversprechend. Aber: »Auswilderung kann funktionieren – im Fall der Waldrappe und auch bei manchen anderen Arten«, so Biologe Fritz. Ein Grundpfeiler ist die Finanzierung: Die Wiederansiedlung der Waldrappe wird seit 2012 als LIFE-Projekt durch die EU unterstützt. Mit dem Projekt hofft Fritz wertvolle methodische Erfahrungen für den Artenschutz zu sammeln: »Wir sind momentan die Einzigen, die die menschengeführte Migration in dieser Form umsetzen. Wir entwickeln die Methode weiter, können das Potenzial zeigen.« Das sei für viele andere Tierarten ebenfalls anwendbar. »Und wir probieren auch andere Methoden, um Brutvögel aus einer künstlichen in die natürliche Brutstruktur zu überführen«, ergänzt er.

Wenn die Waldrappe in Andalusien ankommen, heißt es für die Ziehmütter Abschied nehmen. Die ziehen sich, genau wie es Elternvögel tun würden, langsam zurück. »Das Ziel ist, dass sich die Waldrappe in die dort ansässige Population integrieren«, erklärt Steininger. Sie sollen die Ziehmütter zurücklassen so wie im natürlichen Prozess die Elternvögel. Für Steininger und Wehner, die sich ein halbes Jahr fast ausschließlich diesen Vögeln gewidmet haben, wird das ein emotionaler Moment. »Es gehört aber zum Prozess dazu«, sagt Steininger, »und ich finde den Gedanken, dass sie ein abenteuerliches Leben in der freien Wildbahn führen können, genauso schön.«

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