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Medizin aus dem Meer: Warum Gesetze gegen Biopiraterie die Forschung behindern könnten

Auf der Suche nach neuen Medikamenten blicken Forscher auch unter den Meeresspiegel. Aber wer darf die Ressourcen unserer Ozeane eigentlich nutzen? Das sollen neue Gesetze regeln.
Hydromedusa

Im Jahr 1945 tauchte ein junger Chemiker namens Werner Bergmann die Küsten Floridas ab. Er war auf der Suche nach unentdeckten Meereslebewesen. Bei einer der Arten, die er fand, handelte es sich um einen eher unscheinbaren braunen Schwamm. Aus Cryptotethia crypta, wie einer seiner Kollegen das neu gefundene Wesen nannte, isolierte Bergmann zwei unbekannte Verbindungen: Spongothymidin und Spongouridin.

Bergmann vermutete bereits, dass sie in der Medizin nützlich sein könnten. Es dauerte aber noch mehr als 40 Jahre, bis ihr tatsächlicher Wert erkannt wurde. 1987 genehmigte die US Food and Drug Administration die erste Therapie gegen HIV. Das Medikament mit dem Namen Azidothymidin (AZT) leitet sich von den Schwammstoffen ab, die Bergmann entdeckte. Mit einem Preis von 8000 US-Dollar pro Patient und Jahr war AZT bis 1989 das teuerste bekannte Medikament. Es brachte dem Arzneimittelhersteller einen Gewinn von über 100 Millionen US-Dollar pro Jahr ein.

Cryptotethya crypta | Chemikalien, die dieser Schwamm herstellt, dienten Forschern als Vorlage für Azidothymidin (AZT), eines der ersten HIV-Medikamente.

Acht andere Naturstoffe aus dem Meer haben zu klinisch zugelassenen Medikamenten geführt; 28 weitere befinden sich derzeit in klinischen Studien. Prognosen gehen davon aus, dass der weltweite Markt für Meeresbiotechnologie bis 2025 auf 6,4 Milliarden Dollar anwachsen könnte. Dazu gehören Produkte für die pharmazeutische und die chemische Industrie, andere könnten bei der Herstellung von Biokraftstoffen nützlich werden. Es besteht sogar die Chance, dass ein Meeresorganismus zur Bekämpfung von Viren – wie dem für die aktuelle Pandemie verantwortlichen – beitragen könnte. Eine aus Rotalgen isolierte Verbindung lieferte in Tests mit verschiedenen Typen von Coronaviren viel versprechende Ergebnisse. Das wirtschaftliche Interesse an den genetischen Ressourcen der Meere war nie größer als heute.

Großes Interesse, große Sorgen

Doch es herrschte auch nie zuvor so viel Uneinigkeit darüber. Sofern die Covid-19-Pandemie nicht dazwischenkommt, will die internationale Gemeinschaft in den nächsten Monaten ein historisches Abkommen schließen. Es soll den Schutz der Meereslebewesen auf der hohen See regeln, also in den Ozeanen, die außerhalb staatlicher Hoheitsgewalt liegen. Diese Gebiete machen 90 Prozent des irdischen Lebensraums aus und beherbergen wahrscheinlich Millionen unentdeckter Arten.

Damit das Abkommen zu Stande kommt, müssen sich die Staaten auf ein System zur Schaffung großer Meeresschutzgebiete einigen und gemeinsame Regeln für industrielle Tätigkeiten in den internationalen Gewässern festlegen. Die kniffligste Frage lautet: Wie regeln wir die Nutzung der genetischen Ressourcen der Meere? Damit sind sowohl die Meerestiere selbst als auch ihre Gensequenzen gemeint. Das übergeordnete Ziel besteht darin, »Biopiraterie« zu verhindern, also Versuche wohlhabender Staaten oder Unternehmen, biologische Ressourcen wirtschaftlich zu nutzen, ohne die Vorteile mit ihren rechtmäßigen Eigentümern zu teilen. Im Fall der internationalen Gewässer sind das alle Nationen der Erde.

Unterwasserfahrzeug | Für die Forschung auf hoher See benötigt man teure Geräte und Ausrüstung. Die können sich bislang nur wohlhabende Staaten oder Unternehmen leisten.

»Ich freue mich, dass die UN diese Anstrengungen unternimmt, um den Schutz und die Überwachung der Hochsee sicherzustellen«, sagt Peter Girguis, Meereswissenschaftler und Evolutionsbiologe an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Er sei aber auch sehr besorgt, »dass uns dadurch allen der Zugang zur Forschung erschwert wird.«

Die letzte Etappe

Seit mehr als einem Jahrzehnt drängen Naturschützer und Wissenschaftler auf einen Vertrag für die Hochsee – nun sind sie sozusagen auf der Zielgeraden. Für die vierte und letzte Gesprächsrunde hätten sich die Verhandlungspartner am 23. März in New York treffen sollen. Wegen der Covid-19-Pandemie wurde das Treffen aber bis auf Weiteres verschoben. Das Abkommen würde eine beträchtliche Lücke im bestehenden Netz internationaler und nationaler Gesetze schließen. In Gewässern, die bis zu 200 Seemeilen von ihren Küsten entfernt sind, haben die jeweiligen Länder das Exklusivrecht, zu fischen und Rohstoffe abzubauen. Dahinter liegt die hohe See. Bestimmte Aktivitäten, die dort stattfinden, wie Bergbau und Kabelverlegung, sind derzeit durch die UN-Seerechtskonvention geregelt. Es gibt aber kein Gesetz zum Schutz der Lebewesen, die in dem riesigen Gebiet leben.

Bis heute sind etwa 34 000 Naturprodukte aus dem Meer bekannt, die möglicherweise in der Medizin, der Lebensmittelindustrie und der Kosmetik eingesetzt werden könnten. Von den acht existierenden Arzneimitteln richten sich fünf gegen Krebs. Weil der globale Markt der Meeresbiotechnologie rasch wächst, nimmt die Sorge um die Eigentumsverhältnisse an den Ressourcen zu. Gegenwärtig ist es für jeden möglich, aus biologischen Proben aus dem Meer ein Produkt zu entwickeln und damit Gewinne zu erwirtschaften. Einige Entwicklungsländer treibt darum die Sorge um, dass wohlhabende Staaten oder Unternehmen den größten Teil der Gewinne einheimsen, die eigentlich aus globalem Allgemeingut stammen.

12 998 genetische Sequenzen von Meerestieren sind bereits patentiert. Annähernd die Hälfte davon, nämlich 47 Prozent dieser Gensequenzen, hat der Chemieriese BASF mit Sitz in Ludwigshafen zum Patent angemeldet. Von einem Besorgnis erregenden Trend sprechen Experten wie Robert Blasiak, der am Stockholm Resilience Centre in Schweden Hochseepolitik erforscht. Immer mehr Ressourcen aus den Meeren würden unter die Kontrolle von Unternehmen gelangen.

Diese Grundlagenforschung mündet durchaus in marktfähige Produkte. So wurde zum Beispiel eine Erbgutsequenz einer Alge verwendet, um Rapsöl aus der Rapspflanze mit Omega-3-Fettsäuren anzureichern. Wenn die Vertreter der Staaten zusammenkommen, um den Vertrag auszuhandeln, müssen sie entscheiden, ob das neue Gesetz sich nur auf physische Proben wie die Alge und ihre DNA bezieht oder ob es auch für digitale Informationen wie eine Gensequenz aus einer Alge gilt.

Im Zusammenhang mit der Biopiraterie werden sie zwei weitere Fragen berücksichtigen müssen: Wie kann der gleichberechtigte Zugang zu den genetischen Ressourcen des Meeres sichergestellt werden? Und: Wie können erzielte Gewinne geteilt werden? Die neuen Bestimmungen würden die durch das so genannte Nagoya-Protokoll festgelegten Schutzmaßnahmen ergänzen. Die 2010 beschlossene Vereinbarung regelt, wie Wissenschaftler Zugang zu Gebieten anderer Staaten, einschließlich deren Küstengewässer, erhalten. Es wurde von der internationalen Gemeinschaft entworfen, um Unternehmen daran zu hindern, einheimische Medikamente zu patentieren, ohne die Gewinne zu teilen.

Die Bestimmungen des Nagoya-Protokolls haben bislang allerdings nur in einem einzigen Fall, bei südafrikanischem Rooibostee, zu einer Gewinnbeteiligung geführt. Anders sieht es zum Beispiel bei der Rosafarbenen Catharanthe (Catharanthus roseus) aus, die in Afrika und China seit Jahrhunderten als Medizin verwendet wird. Verbindungen aus der Pflanze und Abkömmlinge davon sind heute Bestandteile zahlreicher Medikamente. Sie werden ausschließlich von großen Pharmaunternehmen patentiert und verkauft.

Grundsatzkonflikte könnten verhindern, dass die Staaten nicht wie erhofft in diesem Jahr noch ein Abkommen schließen können. Länder wie Russland, die USA und Japan, die über die notwendigen technologischen und finanziellen Mittel verfügen, um die Tiefsee nach Substanzen für neue Medikamente, Kosmetika oder Nahrungsmitteln zu durchforsten, sind Verfechter einer »Hochsee ohne Grenzen«. Sie wünschen sich uneingeschränkten Zugang, Patentschutz und die gemeinsame Nutzung nichtfinanzieller Mittel, zum Beispiel Daten.

Die Entwicklungsländer, verkörpert durch die afrikanischen Staaten, argumentieren, dass die genetischen Ressourcen des Meeres unser gemeinsames Erbe sind. Es bedürfe einer gewissen Aufsicht, um ihre Nutzung zu überwachen und etwaige Gewinne und andere Privilegien teilen zu können. »Wenn es kaum Regulierung gibt, besteht für uns keine Möglichkeit, zu verfolgen, wann etwas vermarktet wird«, sagt Michael Kanu, stellvertretender ständiger Vertreter bei der UN für Sierra Leone und Koordinator der afrikanischen Gruppe bei den Vertragsverhandlungen.

Christian Tiambo, ein Wissenschaftler, der sich am International Livestock Research Institute in Nairobi mit Nutztieren beschäftigt, stimmt dem zu. Es sei durchaus berechtigt, dass sich Entwicklungsländer und die indigene Bevölkerung Sorgen um Biopiraterie machten. Um die unrechtmäßige Aneignung zu verhindern, sei es sehr wichtig, den Zugang zu den internationalen Gewässern zu regulieren.

Ein globales Genehmigungssystem

Aber wie genau diese Regulierung aussehen könnte, ist nach wie vor offen. Der Textentwurf schlägt unter anderem vor, ein globales Gremium einzurichten, das Wissenschaftler für die Forschung an Lebewesen auf hoher See autorisiert oder ihnen womöglich sogar immer nur einzelne Genehmigungen erteilt, was ein absolutes Novum in der Meeresforschung wäre. Ein anderer Vorschlag lautet, dass Wissenschaftler ihre Daten, Forschungsergebnisse und vereinzelte Fortschrittsberichte nach einer Expedition einem Ausschuss oder einer von den Vereinten Nationen geschaffenen Plattform vorlegen. Es gibt auch eine Idee, die vorsieht, dem Genmaterial aller Meeresorganismen bei ihrer Entdeckung eindeutige Identifikatoren zuzuweisen, so dass ihre Verwendung nachverfolgt werden kann.

Laut Siva Thambisetty, die sich an der London School of Economics mit Patenten und Biotechnologie beschäftigt, gibt es im Wesentlichen zwei Philosophien: nur leicht einzugreifen – man verlangt von Forschern und Unternehmen, ihre Pläne vorzustellen, und ermutigt sie gewonnene Erkenntnisse freiwillig zu teilen – oder aber harte Regeln einzuführen. Zugang zu den internationalen Gewässer bekäme etwa nur der, der bereit ist, seine Daten oder den finanziellen Ertrag aus neuen Produkten zu teilen.

Thambisetty selbst favorisiert solche an Auflagen geknüpften Genehmigungen. Ein fairer Preis für eine Genehmigung könnte ihrer Meinung nach sein, dass man Wissenschaftlern nur für einen kurzen Zeitraum Exklusivrechte an ihren Daten gewährt, vielleicht für ein oder zwei Jahre.

Viele Forscher sind misstrauisch

Während die meisten Forscher Kontrollen vom Grundsatz her befürworten, fürchten manche jedoch eine Überregulierung.

Muriel Rabone, Ökologin und Kuratorin am Natural History Museum in London, gibt zu, dass es mit dem derzeitigen System Probleme gibt. Den geplanten Veränderungen steht sie aber skeptisch gegenüber. »Dieses große Nord-Süd-Gefälle in Sachen Forschungskapazität ist nicht gut für die Wissenschaftsgemeinschaft«, sagt sie. »Wir brauchen Dinge, die die Prozesse verschlanken, anstatt sie zu erschweren.«

»Die Vorstellung, dass eine Forschungsfahrt der Genehmigung einer Aufsichtsbehörde bedarf, wirft eine Menge Fragen auf: Wer genehmigt das, wie und warum? So etwas wird ohne Engpässe nicht abgehen«, sagt sie.

Die Forschergemeinde ist misstrauisch, weil ähnliche Antibiopirateriegesetze und allen voran das Nagoya-Protokoll ausländischen Forschern den Zugang zu bestimmten Ländern wie Kolumbien und Sri Lanka bereits verwehrt haben. »Fast alle, die an biologischer Vielfalt forschen, sind wegen Nagoya ein bisschen mitgenommen«, sagt Rabone.

»Stellen Sie sich vor, wir stehen wenige Tage vor einer Expedition, die uns Hunderttausende von Dollar kostet, und uns fehlt noch immer die Genehmigungen der Länder, in deren Gewässer wir fahren wollen« (Shirley Pomponi, Florida Atlantic University Harbor Branch)

Ihr Team habe immer Proben aus der ganzen Welt gesammelt, sagt etwa Shirley Pomponi, die im Bereich der marinen Biodiversitätsforschung an der Florida Atlantic University Harbor Branch in Fort Pierce forscht. Bis das Protokoll in Kraft trat. Seitdem müssten sie ihre Arbeit in einigen Ländern wie Brasilien und Kolumbien einstellen.

»Es wurde immer schwieriger«, sagt sie. »Stellen Sie sich vor, wir stehen wenige Tage vor einer Expedition, die uns Hunderttausende von Dollar kostet, und uns fehlen noch immer die Genehmigungen der Länder, in deren Gewässer wir fahren wollen. Das ist die Mühe einfach nicht wert. Darum dachten wir ›Konzentrieren wir uns lieber auf die USA‹.«

Obwohl einige Forscher sagen, das Nagoya-Protokoll habe ihre Arbeit eingeschränkt, sieht Tiambo bereits viele Vorteile des Abkommens. Die Wissenschaftler würden darauf geschult, den Wert genetischer Informationen mehr zu schätzen, sagt der Forscher aus Nairobi. »Dieses Verständnis sickert auch zu den Einheimischen durch, die nun von den genetischen Ressourcen profitieren können, um die sie sich seit Generationen kümmern.« Forscher, die sich mit dem Erbgut von Milchvieh beschäftigen, haben beispielsweise Daten und Fachwissen mit afrikanischen Wissenschaftlern und Gemeinschaften geteilt. Dadurch konnten diese ihre nationalen Zuchtprogramme verbessern.

Rachel Wynberg, Bioökonomie-Expertin an der Universität Kapstadt in Südafrika, findet auch, dass die Gesetze zur Bekämpfung der Biopiraterie, einschließlich des Nagoya-Protokolls, Vorteile haben. »Wie biologische Vielfalt in der Forschung wahrgenommen wird und wie man damit umgeht, das hat sich definitiv gewandelt. Auch die Unternehmen haben ihre Praktiken deutlich verändert«, sagt sie. Ob das Nagoya-Protokoll einen wesentlichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung, den Naturschutz und die indigene Bevölkerung hat, stellt sie jedoch in Frage.

Nicht nur Einschränkungen, auch neue Chancen

Trotz dieser Bedenken halten es viele für möglich, ein Abkommen zu schließen, das sowohl die Biopiraterie einschränkt als auch die Forschung voranbringt. Würde jeder Probe ein eindeutiges Identifizierungsmerkmal zugewiesen, so könnte bei der Entwicklung eines Produkts ein Teil der Gewinne in einen Topf fließen, der zwischen den Nationen aufgeteilt wird. Dieses Geld könnte zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beitragen. »Das würde es erlauben, die Materialien vom Meeresboden bis zur Vermarktung zurückzuverfolgen«, sagt Marcel Jaspars, Biotechnologe an der Universität im schottischen Aberdeen. Er berät die Vereinten Nationen bei der Ausgestaltung des Vertrags.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Zugang zur hohen See zu unterstützen statt einzuschränken. Wissenschaftler aus Entwicklungsländern könnten sich an Forschungsreisen anderer Nationen beteiligen und über ein internationales Register verfügbare Plätze auf Forschungsschiffen finden. »Das könnte allen interessierten Wissenschaftlern den Zugang zur Hochsee erleichtern und ihnen ermöglichen, bei Entdeckungen dabei zu sein«, sagt Girguis. Wenn aus dieser Forschung Patente hervorgehen, hätten auch Wissenschaftler aus Entwicklungsländern ihren Anteil daran.

Anstatt sich querzulegen, müssten sich die Meereswissenschaftler den Veränderungen stellen und akzeptieren, dass neue Rahmenbedingungen für die Forschung nötig sind, sagt Thambisetty.

Forscher, die die Verhandlungen verfolgt haben, sehen die Zeit für Veränderung gekommen. »Wenn wir es richtig anstellen, könnte dieser Vertrag viel bewegen«, sagt Jaspars. »Wir wüssten am Ende mehr über die tiefen Ozeane als je zuvor.«

Dieser Artikel erschien unter dem Titel »Why a landmark treaty to stop ocean biopiracy could stymie research« bei »Nature News«.

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