Direkt zum Inhalt

Materialforschung: Kettenhemd-Gewebe wechselt von flexibel zu hart

Die historische Rüstung dient als Inspiration für einen sehr ungewöhnlichen Werkstoff. Dahinter steckt ein physikalischer Effekt, den man in der Küche selbst ausprobieren kann.
Ein Kettenhandschuh liegt auf einem Kettenhemd, im Hintergrund andere Rüstungsteile.

Ein vom Kettenhemd inspiriertes Material wechselt seine Eigenschaften von flexibel zu hart, wenn es unter Druck gesetzt wird. Dabei wird das von einer Gruppe um Chiara Daraio vom California Institute of Technology in Pasadena entwickelte Gewebe bis zu 25-mal so steif wie im Originalzustand, berichtet das Team in »Nature«. Das von der Arbeitsgruppe konstruierte Gewebe besteht aus hohlen Oktaedern, die ineinandergreifen, aber gegeneinander beweglich sind. Seine besonderen Eigenschaften basieren auf einem als »Jamming« bezeichneten Vorgang. Wenn Druck auf das Material wirkt, verkanten sich die Bausteine ineinander und werden unbeweglich – das eigentlich flexible »Kettenhemd« verhält sich, als sei es plötzlich ein fester Körper geworden. Solche strukturierten, beliebig formbaren Materialien, die auf Kommando erstarren und sich wieder lösen können, sind für viele technische Anwendungen interessant. Zum Beispiel könnten sie als leicht zu transportierender Baustoff für provisorische Gebäude oder Brücken dienen.

Daraio und ihr Team konstruierten das Gewebe aus ineinandergreifenden dreidimensionalen Körpern, indem sie es mit einem Laser direkt in einem Stück aus Kunststoffpulver sinterten. Benachbarte Oktaeder sind dabei um 90 Grad gegeneinander gedreht und greifen mit den Ecken ineinander. Um das Material unter Druck zu setzen, packten sie es in eine Plastiktüte, aus der sie die Luft herauspumpten, so dass der Druck auf die Konstruktion der Differenz zwischen Außen- und Innendruck entsprach. Auf diese Weise setzten sie das Material Drücken zwischen 0 und 93 Kilopascal aus, um seine Eigenschaften zu beobachten.

Tatsächlich ist Jamming ein wohlbekannter und weit verbreiteter Effekt bei körnigen Materialien und sogar bei Mayonnaise. Er tritt zum Beispiel auf, wenn man Reis durch einen Trichter schüttet. Kippt man zu schnell zu viel Reis hinein, verkanten sich die Körner und blockieren den Durchlass. Ein ähnliches Verhalten zeigt Sand, der unter Druck hart wird. Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Körnern und kettenhemdartigen Geweben. Während Körner nur bei Einengung Jamming zeigen, können sich die ineinandergreifenden Bestandteile des Gewebes auch unter anderen Belastungen verkeilen, zum Beispiel wenn man es verbiegt oder dehnt.

Anhand von Computersimulationen untersuchte die Gruppe deswegen, wie das Jamming auf der Ebene der einzelnen Bausteine abläuft und welche Faktoren die mechanischen Eigenschaften beeinflussen. Daneben konstruierte sie ähnliche Kettenhemd-Stoffe aus anders geformten Bausteinen, beispielsweise den Ringen des klassischen Kettenhemds, aber auch Oktaeder mit anderen Winkeln oder weniger Querstreben. Dabei stieß das Team auf ein universelles Gesetz: Wie steif die untersuchten Gewebe sind, hängt einzig und allein davon ab, wie viele Kontakte untereinander die Bausteine im Durchschnitt haben – ganz unabhängig von der genauen Struktur.

Demzufolge bergen die Eigenschaften solcher Kettenhemd-Materialien vermutlich noch einige Überraschungen. So weist der Materialforscher Laurent Orgéas von der Université Grenoble Alpes in einem Kommentar in »Nature« darauf hin, dass die Messungen der Gruppe um Daraio Hinweise auf nichtlineares Verhalten unter Belastung zeigen. Außerdem sei das untersuchte Gewebe bisher prinzipiell zweidimensional; in drei Dimensionen ausgedehnte Kettenhemd-Strukturen seien ebenfalls untersuchenswert, ebenso wie Kettenhemd-Materialien, deren Bausteine ihrerseits aus veränderlichen oder gar »intelligenten« Materialien bestehen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.