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Lärmverschmutzung: Lärmterror gegen Wale?

Die Weltmeere werden lauter. Schon seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler vor den akustischen Auswirkungen, die zum Beispiel Schiffsgeräusche und Sonar sowohl auf Meeressäuger wie Wale und Delfine als auch auf Fische, Krustentiere und Zooplankton haben. Auf dieser Liste der maritimen Lärmverschmutzung wird besonders eine Quelle immer problematischer: seismische Untersuchungen des Meeresbodens mit Hilfe so genannter Luftpulser durch die amerikanische Öl- und Gasindustrie.
Nordkaper

Ein kleines Stück Atlantik vor der Küste North Carolinas in den USA hat es dem Meeresbiologen Doug Nowacek besonders angetan. »Offiziell heißt das Gebiet The Point. Ich nenne es die Serengeti des Meeres, denn hier finden wir die sowohl höchste uns bekannte Dichte als auch die größte Vielfalt von maritimen Leben im Nordatlantik«, sagt der Wissenschaftler von der amerikanischen Duke University. Durch den Meeresarm Oregon Inlet passieren Fischerboote die Inselkette Outer Banks und nehmen Kurs auf den offenen Atlantik. Bald darauf treffen sie auf The Point, wo die Labradorströmung mit ihrem kalten, nährstoffreichen Wasser dem Meer Leben eingehaucht hat.

»Hier gibt es allein 30 verschiedene Walarten. Wenn wir mit dem Boot unterwegs sind, können wir manchmal sechs verschiedene Arten an einem einzigen Tag sehen«, schwärmt Nowacek. Auch Meeresschildkröten, Hammerhaie oder sogar fast einen halben Meter lange feuerrote Tintenfische sind keine Seltenheit. Die nahen Küstengemeinden in North Carolina profitieren von dieser Vielfalt. Entlang der gesamten amerikanischen Ostküste spülen Tourismus, Fischerei und andere Freizeitaktivitäten am und im Atlantik so pro Jahr rund 108 Milliarden US-Dollar in die Kassen der beschaulichen Küstenorte.

Doch solche Küstenidyllen sind nun in Gefahr. Fünf amerikanische Energiekonzerne wollen entlang der amerikanischen Atlantikküste, von Delaware Bay im Norden bis nach Cape Canaveral in Florida, auf einer Fläche mehr als zweimal so groß wie Deutschland nach Unterwasserbodenschätzen suchen. Davon wäre auch The Point betroffen.

Wenige Wochen nach Trumps Amtsantritt ist alles anders

Solche Explorationen waren an der Ostküste über drei Jahrzehnte hinweg verboten. Noch im Januar 2017 lehnte die Obama-Regierung als eine ihrer letzten Amtshandlungen entsprechende Anträge von sechs Firmen ab, besonders mit dem Verweis darauf, dass die mögliche Gefährdung maritimen Lebens in keinem Verhältnis zu den dort vermuteten Energiereserven stehe. »Diese existierende Küstenökonomie für ein wenig Erdöl und -gas zu riskieren, macht überhaupt keinen Sinn. Schätzungen gehen davon aus, dass die dort wirtschaftlich erschließbaren Felder den Energiebedarf der USA an Öl und Gas für nur sechs bis sieben Monate decken könnten«, erläutert Sarah Giltz, Meeresökologin von der amerikanischen Naturschutzorganisation Oceana.

Doch nur wenige Wochen nach dem Machtwechsel im Weißen Haus hob Präsident Donald Trump das Verbot auf. Schon im April 2017 unterzeichnete er einen Erlass unter seiner America-First-Strategie, wonach unter anderem Anträge zur seismischen Suche nach Bodenschätzen mit so genannten Luftpulsern, auf Englisch »airguns«, an der amerikanischen Ostküste in einem beschleunigten Prozess genehmigt werden sollten. Die daraufhin von den fünf Firmen beantragten Explorationen würden zusammen über fast 850 Tage solche Luftpulser einsetzen.

Bei der Verwendung von Luftpulsern zur seismischen Erforschung eines Gebiets zieht ein Schiff eine Anordnung von typischerweise 12 bis 48 solcher Geräte hinter sich her. Die Schiffe bewegen sich über das Meeresareal in einem Muster, das vergleichbar ist mit einem Rasenmäher, der ein Fußballfeld bearbeitet. Alle zehn Sekunden schleudert der Pulser komprimierte Luft in Richtung Meeresboden. Die dadurch erzeugten Schallwellen können kilometertief in die geologischen Schichten des Bodens eindringen. Die von dort zurückgeworfenen Schallwellen werden von Hydrophonen, auch Unterwassermikrofone genannt, aufgezeichnet, die ebenfalls hinter dem Schiff hergezogen werden.

»Diese Luftpulser erzeugen eines der lautesten menschengemachten Geräusche im Meer. Nur Militärsprengstoff ist lauter«Sarah Giltz

Die so entstehenden Schallmuster können in eine dreidimensionale Karte des Meeresbodens verwandelt werden, die Aufschluss über seine geologische Beschaffenheit gibt. Dadurch können zum Beispiel mögliche Ölvorkommen identifiziert werden. Tests können Monate andauern, wobei die Pulser 24 Stunden am Tag solche Zehn-Sekunden-Signale senden. »Diese Luftpulser erzeugen eines der lautesten menschengemachten Geräusche im Meer. Nur Militärsprengstoff ist lauter«, erläutert Giltz. Nowacek, der in mehreren Studien die Auswirkungen der Pulser auf Leben im Atlantik untersucht hat, beziffert ihre Lautstärke auf 260 Dezibel unter Wasser: »Es ist schwierig, dazu ein exaktes akustisches Äquivalent an Land zu beziffern, aber ich würde es mit dem Epizentrum einer Handgranatenexplosion vergleichen.«

Wissenschaftler sorgen sich, dass der von den Geräten so verursachte Lärm ganze Unterwasserökosysteme aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Beispiele betroffener Tiere reichen dabei von Walen und Delfinen über Fische, Tintenfische und Oktopusse bis hin zu Krill. Typische Effekte sind Stress, Unterdrückung lebenswichtiger Kommunikation, Hörschäden bis hin zu Verletzung und Tod kleinerer Arten.

»Ich mache mir dabei besonders große Sorgen um den Atlantischen Nordkaper. Bei seiner hohen Sterblichkeitsrate und niedrigen Reproduktion kann sich jede Fehlentscheidung in Sachen Naturschutz als fatal für die gesamte Art dieses Wals auswirken«, äußert sich Nowacek. Weniger als 500 der von der Weltnaturschutzunion IUCN als stark gefährdet eingestuften Glattwalart existieren noch im westlichen Nordatlantik, und fast alle verbringen den Großteil ihrer Zeit innerhalb des Gebiets der beantragten seismischen Tests in den USA.

Gefährliche Auswirkungen sind bekannt

Nowacek prognostiziert für die Walart, die nach rund 30 Jahren ohne Exploration in dem Gebiet nicht mehr an solchen Lärm gewöhnt sei, »Stress, Vertreibung und stark gestörte Kommunikation«. Gerade beim Atlantischen Nordkaper lässt der Meeresbiologe Zweifel an solchen Zusammenhängen zwischen Unterwasserlärm und Gefährdung nicht zu. »Dies war die erste Walart, bei der ein negativer Einfluss von Lärmverschmutzung präzise belegt werden konnte«, so Nowacek. In einer richtungweisenden Studie von 2012 wiesen Forscher ab 2001 einen starken Rückgang von Stresshormonen bei Nordkapern in der kanadischen Fundy-Bucht nach, nachdem dort Schiffsverkehr und damit verbundener Unterwasserlärm durch die Folgen der Terrorattacke vom 11. September stark zurückgegangen waren.

Selbst die US-Behörden sind sich möglicher Auswirkungen der Luftpulser auf maritimes Leben bewusst. Eine der zwei Instanzen in dem Genehmigungsverfahren, die National Oceanic and Atmospheric Adminstration (NOAA), schätzt, dass rund 138 000 Meeressäuger wie Wale und Delfine von den Schallgeräten stark beeinträchtigt oder sogar verletzt werden könnten. Im ersten Schritt des Verfahrens erteilte die NOAA den fünf Antragstellern zwar Auflagen zur Minimierung der Auswirkungen, gleichwohl aber auch eine von der Behörde üblicherweise ausgestellte Genehmigung namens Incidental Harassment Authorization (IHA). Dies bedeutet, dass die NOAA es in Kauf nehmen würde, wenn die Luftpulsertests der Antragsteller Meeressäuger beeinträchtigen oder verletzen würden, solange dies nicht mit Absicht herbeigeführt wurde.

Die für den Beginn der seismischen Untersuchung notwendige zweite Genehmigung von dem Bureau of Ocean Energy Management (BOEM) steht zurzeit noch aus. Derweil haben mehrere Naturschutzgruppen in den USA im Dezember 2018 gegen die Ausstellung der IHA Klage eingereicht mit der Begründung, dass die Genehmigung gegen mehrere Gesetze verstoße. Michael Jasny, ein Rechtsexperte der amerikanischen Umweltschutzorganisation Natural Resources Defense Council wirft der Behörde kreative Buchführung vor: »Sie haben jeden der fünf Anträge so bewertet, als ob es jeweils der einzige sei, anstatt die Auswirkungen aller fünf beantragten seismischen Untersuchen zusammen zu analysieren. Das ist so, als wenn fünf Kohlekraftwerke gebaut werden sollten, die Bewertung der Auswirkungen auf die Luftqualität aber bei jedem einzelnen Kraftwerk so vonstattenginge, als ob die anderen nicht existierten«, erklärt Jasny.

Menschen würden die Ohren schmerzen

Seit Februar 2019 verfolgen die Umweltschützer gemeinsam mit Küstenstaaten und -gemeinden zudem eine einstweilige Verfügung vor einem Gericht in South Carolina, die den Beginn der Tests stoppen würde, bis das Hauptverfahren beginnt. »Wir repräsentieren dabei den Widerstand von mehr als 340 Gemeinden, 2100 gewählten Volksvertretern beider Parteien, 46 000 Unternehmen und einer halben Million Fischerfamilien, die alle ihre Ablehnung von neuen Aktivitäten der Öl- und Gasindustrie an den amerikanischen Küsten zum Ausdruck gebracht haben«, bekräftigt Giltz.

Um die Auswirkungen von Luftpulsern besser zu verstehen, greift Nowacek auf einen Vergleich zurück. Wenn ein solcher Luftpulser über dem Empire State Building in New York hängen würde, würden den Menschen in Manhattans Straßen die Ohren schmerzen. Über ganze Straßenblöcke hinweg würden Fenster zersplittern, und die Menschen hätten große Schwierigkeiten, miteinander zu reden. »Fußgängern auf der Fifth Avenue mit der Luftpulseranlage direkt über ihren Köpfen würde eine sofortige Verletzung drohen, zum Beispiel am Trommelfell. Aber selbst zehn Straßenblöcke davon entfernt wäre das Geräusch immer noch mit einem Presslufthammer zu vergleichen. Mit der Zeit würde jeder einen Hörschaden bekommen«, so Nowacek.

Dennoch bestreiten Befürworter der seismischen Untersuchungen, hauptsächlich Mitglieder und Lobbyisten der Öl- und Gasindustrie sowie Unternehmer in der Geophysik, die mit ihren Luftpulserschiffen für die Industrie solche Tests durchführen, die Beweisführung der Umweltschützer. »Mehr als 50 Jahre intensiver seismischer Untersuchungen zeigen, dass das Risiko, Meeressäuger physisch damit zu verletzen, extrem niedrig ist«, sagt Gail Adams-Jackson von der Interessenvertretung International Association of Geophysical Contractors (IAGC). Außerdem gebe es gegenwärtig keine wissenschaftlichen Beweise, die biologisch signifikante negative Auswirkungen auf Meeresleben nachwiesen. »Und es gibt auch nur wenige Nachweise von Verhaltensstörungen, und wenn, dann sind die Effekte gering und vorübergehend«, so die Sprecherin der Interessengruppe.

»Es gab dort zwei- bis dreimal so viel totes Zooplankton verglichen mit einem Kontrollbereich, in dem kein Luftpulser aktiviert war. Außerdem vermied anderes Zooplankton das Gebiet großräumig«Robert McCauley

Solche Kommentare bezeichnet Robert McCauley als Müll und Schönfärberei: »Die IAGC müsste einfach nur einmal die ausführliche wissenschaftliche Literatur zu dem Thema lesen.« Der australische Meeresforscher sah sich einer massiven Diskreditierungskampagne der Lobbyistengruppen ausgesetzt, nachdem er als Hauptautor mit seinen Kollegen 2017 in »Nature Ecology and Evolution« eine Studie veröffentlicht hatte, welche die Auswirkungen von Luftpulsern auf Zooplankton untersuchte. Die Kleinorganismen spielen als Fundament der Nahrungsketten im Meer eine lebenswichtige Rolle für die Ernährung von Fischen und Meeressäugern.

Nachdem McCauley und seine Kollegen einen relativ kleinen Luftpulser aktiviert hatten, stellten sie Auswirkungen auf das Zooplankton in einem Radius von 1,2 Kilometern fest. »Es gab dort zwei- bis dreimal so viel totes Zooplankton verglichen mit einem Kontrollbereich, in dem kein Luftpulser aktiviert war. Außerdem vermied anderes Zooplankton das Gebiet großräumig«, so McCauley. Zudem waren alle Krilllarven in dem Testgebiet verendet. Solche Ereignisse könnten in den Nahrungsketten der Ozeane eine Kettenreaktion auslösen, denn »fast alle höher angesiedelten Mitglieder der Meeresfauna sind auf Zooplankton und Krill als Nahrungsquelle angewiesen«, betont McCauley.

»Es gibt hinreichende Beweise, dass Luftpulser schädlich sind«Lindy Weilgart

McCauleys Paper ist eine von insgesamt 115 wissenschaftlichen Studien zur Auswirkung von Unterwasserlärm auf Fische und Krustentiere, welche die Meeresbiologin Lindy Weilgart analysiert hat. In ihrem im Mai 2018 veröffentlichten Report (PDF) belegt die Kanadierin von der Dalhousie University in Nova Scotia an mehreren dutzenden Beispielen die Negativauswirkungen von maritimer Lärmverschmutzung. Dabei drehen sich 28 der von ihr untersuchten Studien um Luftpulser. »Es gibt hinreichende Beweise, dass Luftpulser schädlich sind«, bekräftigt Weilgart.

Die Todesraten von Jakobsmuscheln, die in Unterwasserökosystemen Wasser filtern und als Nahrungsquelle dienen, verfünffachte sich unter dem Einfluss der Geräte. Das Immunsystem von Hummern war selbst noch 120 Tage nach Ende der seismischen Tests erheblich geschwächt. Riesentintenfische wiesen massive innere Blutungen auf. Außerdem zeigten mehrere Studien Schäden an den Statozysten, den Gleichgewichtsorganen wirbelloser Meerestiere. Hörorgane zahlreicher Fischarten waren stark beschädigt. »Und solche Effekte konnten noch acht Kilometer entfernt vom Einsatzgebiet der Luftpulser nachgewiesen werden«, so Weilgart und ergänzt: »Seismische Untersuchungen sollten somit in Gebieten, in dem es starkes Vorkommen von maritimen Leben gibt, nicht zugelassen werden.«

Bei Meeressäugern sind nachgewiesene Auswirkungen vor allem Stress, Panik, Ortswechsel und eine stark eingeschränkte Kommunikation, oft mit massiven Folgeeffekten. »Schall spielt für das Leben in den Weltmeeren, wo optische Wahrnehmung stärker beeinträchtigt ist, eine wesentlich größere Rolle als an Land. Überlebenswichtige Aktivität von Walen bis hin zu Krustentieren hängt von ungestörter Akustik ab. Es ist der wichtigste Wahrnehmungssinn dieser Tiere«, betont auch Doug Nowacek. Der Niedrigfrequenzbereich, in dem die Luftpulser operieren, überschneidet sich dabei erheblich mit dem Kommunikationsspektrum der Meeressäuger, besonders bei Walen.

Luftpulsern mehr als 4000 Kilometer zu hören

»Diese Niedrigfrequenzen bewegen sich unter Wasser extrem gut fort, fünfmal schneller als in der Luft und über größere Distanzen«, erläutert der Amerikaner. 2012 publizierten Forscher um Sharon Nieukirk im »Journal of the Acoustical Society of America« eine Analyse von Tonaufnahmen, die über zehn Jahre hinweg am Mittelatlantischen Rücken aufgezeichnet worden waren. Dabei entdeckten sie die Geräusche von Luftpulsern, die von Schiffen in bis zu 4000 Kilometer Entfernung ausgingen – zum Beispiel an den Küsten Brasiliens und Westafrikas. Durch die Art und Weise, wie der Schall sich über größere Distanzen bewegt und an geologischen Formationen reflektiert wird, verändern sich die zunächst zehnsekündlichen Impulse über größere Entfernungen dabei zu einem permanenten Hintergrundgeräusch. Eine Studie des deutschen Umweltbundesamts (UBA) aus dem Jahr 2014 belegt, dass sich der Schall der Geräte in einer Entfernung von 500 bis 1000 Kilometern zunächst in ein »intervallartiges Geräusch ausdehnt«, das dann ab 1000 Kilometern permanent werde.

Da das Geräusch der Luftpulser also die Hörfrequenzen und die Kommunikation der Wale und anderer Meeressäuger überdeckt, werden diese massiv beeinträchtigt. Forscher sprechen von einer akustischen Maskierung. Mathematische Modelle einer Gruppe von Biologen ergeben, dass bei manchen Walarten bereits eine Maskierung von 80 Prozent ihrer Kommunikation erreicht ist.

Die in der UBA-Studie aufgezeichneten Geräusche schränkten so zum Beispiel die Kommunikation von Blau- und Finnwalen in der Antarktis »auf nur noch ein Prozent des natürlichen Verständigungsraums ein«. Die deutschen Forscher verweisen außerdem darauf, dass durch die hohe Reichweite des Luftpulserlärms dieser dabei auch in gesetzlich geschützte Gebiete eindringen können, zum Beispiel in die Schutzzone der Antarktis südlich des 60. Breitengrads.

Immunsystem und Fortpflanzung beeinträchtigt

Die Folgen sind weit reichend. »Im Golf von Mexiko etwa verringerten Pottwale ihre Futtersuche umso mehr, je näher sie an Luftpulser herankamen«, berichtet Nowacek. Der Stress, den die Tiere empfinden, wirke sich auf ihr Immunsystem aus. Da Kommunikation auch wichtig für die Partnersuche ist, sei es zudem möglich, dass der Lärm negative Folgen für die Reproduktionsraten habe. Eine weitere Studie berichtet von Schnabelwalen, die, von Unterwasserlärm aufgeschreckt, zu schnell an die Oberfläche schwammen und deshalb unter der Dekompressionskrankheit litten. 2008 wurde das Verenden von mehr als 1000 Narwalen in der kanadischen Baffin-Bucht mit Luftpulsern in Verbindung gebracht. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Lärm die Migration der Tiere gen Süden verzögerte, bis sie schließlich unter dem Eis gefangen waren.

Auch das für die Partnersuche so wichtige Singen der Wale verstummt unter dem Einfluss der Geräte. Oceana verzeichnete in einem Umkreis von 250 000 Quadratkilometern um Luftpulseraktivitäten, dass Finn- und Buckelwalen nicht miteinander kommunizieren. »Bei Buckelwalen können sich außerdem Mutter und Kalb verlieren«, warnt Nowacek. Studien haben nachgewiesen, dass schon Störgeräusche von nur 106 Dezibel deren Kontakt beeinflussen können.

Auch eine Analyse von Studien, die über zehn Jahre hinweg die Reaktion von Grönlandwalen auf Luftpulser untersucht hatten, zeigt, wie heftig die Tiere auf den Einfluss reagieren. Die Wale sendeten mehr Rufe aus, wenn die Störgeräusche 94 Dezibel überschritten. Ab 127 Dezibel gingen die Rufe zurück, bei 160 Dezibel schließlich trat komplettes Schweigen ein. »Das ist wie beim Menschen. Zuerst versucht man, gegen Lärm anzuschreien, und wenn man sich nicht verständlich machen kann, gibt man schließlich auf«, sagt Nowacek.

Schutzmaßnahmen greifen nicht

Auch wenn Interessenverbände wie die IAGC immer wieder versuchen, Zweifel an solchen Beweisen aufkommen zu lassen und Lücken in Forschung und Argumentation zu finden, müssen die Energiekonzerne zumindest doch eine gewisse Möglichkeit von Beeinträchtigung für maritimes Leben zugeben. Außerdem gelten in den USA die Genehmigungsauflagen der Behörden. »Unsere Maßnahmen umfassen die Vermeidung von Brutgebieten der Wale, Migrationsrouten und Zeiten von besonderer biologischer Bedeutung. Zudem haben die Schiffe wissenschaftliche Beobachter, die nach Meeressäugern Ausschau halten«, berichtet Gail Adams-Jackson. Meeresbiologin Weilgart nennt solche Verpflichtungen Schaueinlagen für die Öffentlichkeit. »Sehr viele Lebewesen im Meer migrieren überhaupt nicht. Was dann? Und die Beobachter können während der Nachtzeiten der seismischen Untersuchungen auch nicht viel sehen. Vielleicht setzen einige freiwillig Infrarotgeräte ein. Aber das alles hilft sowieso nur einigen Meeressäugern und weder Fischen noch Krustentieren«, so die Forscherin. Hinzu komme die enorme Reichweite der Geräusche, während die Maßnahmen nur am unmittelbaren Einsatzort greifen.

In Deutschland und dem restlichen Europa werden Luftpulser ebenfalls diskutiert. Hier geht es neben der Suche nach Energiereserven etwa um die Untersuchung des Meeresbodens für den geplanten Bau von Windfarmen im Meer. Hinzu kommt die geologische Erforschung der Antarktis, an der sich auf deutscher Seite das dafür zuständige Alfred-Wegener-Institut beteiligt. »Auch in europäischen Gewässern finden sehr viele seismische Untersuchungen mit Luftpulsern statt«, sagt Nicolas Entrup von der in der Schweiz ansässigen Umweltschutzgruppe Ocean Care.

Besonders im Mittelmeer spiele sich derzeit ein regelgerechtes Rennen ab, noch unerschlossene Ölreserven zu finden. Manche Regionen Südeuropas haben sich dabei in ausgemachte Hotspots für Unterwasserlärm verwandelt (PDF). »An der Küste Montenegros sind die Explorationen gerade zu Ende gegangen. Im Ionischen Meer Griechenlands versuchen Wissenschaftler, solche Tests zu verhindern. Außerdem hegt die norwegische Ölindustrie große Begehrlichkeiten für die großen Energiereserven Grönlands«, so Entrup.

Europäische Gesetze werden schlecht umgesetzt

Die Ironie: Nach Einschätzung der Naturschützer gehören die Gesetze der Europäischen Union im Hinblick auf Lärmverschmutzung im Meer im globalen Kontext zu den besten und strengsten. »Sie werden aber von den Mitgliedsstaaten nur schlecht implementiert«, klagt der Rechtsexperte. Insbesondere Umweltverträglichkeitsstudien seien oft nur schwach oder gar nicht vorhanden (PDF).

Für die Nordsee reguliert seit 2013 das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) den Einsatz von Luftpulsern bei der Errichtung von Windfarmen, um so vor allem dort vorkommende Schweinswale zu schützen. Während die Situation dort nicht allzu problematisch ist, gibt es nach Einschätzung des UBA vor allem in den Polarregionen Handlungsbedarf. »Im Gegensatz zur Anzahl heimischer mariner Säugetiere, Schweinswal, Kegelrobbe und Seehund, finden sich in der Antarktis 15 Walarten und sechs Robbenarten, die unterschiedliche Hörvermögen und Sensibilitäten aufweisen«, erläutert eine UBA-Sprecherin. Die Festlegung von Schutzwerten sei somit aufwändiger.

Solche Schutzwerte und weitere Vorschriften des UBA wären und sind vor allem für das deutsche Alfred-Wegener-Institut (AWI) verbindlich. Die Stiftung ist zuständig für die deutsche Polarforschung, besonders unter Aspekten wie Geologie, Klimaforschung und Biologie. Bei den AWI-Projekten kommen auch Luftpulser zum Einsatz, zum Beispiel bei entsprechenden Antarktisexpeditionen in den Jahren 2010 und 2017. Das BMU hatte zu deren Regulierung eine Antarktiskommission berufen, deren Mitglieder laut UBA »ihre Erfahrung hinsichtlich der Funktionsweise und Einsatzparameter hydroakustischer Geräte« einbringen sollen. Ein ehemaliges Mitglied dieser Kommission berichtet von erheblichen Unstimmigkeiten zwischen UBA und AWI. Selbst das Amt räumt ein, dass zwischen den Institutionen »noch kein gemeinsames Verständnis über das Ausmaß der zumutbaren Schallbelastung entwickelt werden konnte«.

Deutsche Polarforscher zweifeln Beweisführung der Luftpulsergegner an

2012 waren Vorwürfe laut geworden, das AWI habe sich den strikten deutschen Vorschriften entzogen, indem seine Forscher an einem Luftpulsereinsatz auf einem russischen Forschungsschiff teilnahmen. Das UBA bestätigt jedoch, dass der Einsatz rechtens war. Ähnlich wie die IAGC zweifeln auch die deutschen Polarforscher die Beweisführung der Luftpulsergegner zumindest teilweise an: »Es existieren bislang keinerlei wissenschaftlichen Nachweise über Verletzungen, Strandungen oder gar Tötungen von Meeressäugern auf Grund seismischer Vermessungsarbeiten«, teilt das AWI auf Anfrage mit.

»Die Luftpulseranlagen für die Ölsuche sind größer, als sie sein müssten«Doug Nowacek

Auch die Liste des AWI, wie Beeinträchtigungen zu vermeiden seien, gleicht jener der amerikanischen Interessengruppe und nennt den Einsatz von wissenschaftlichen Beobachtern, Einhalten von Mindestabständen, Anpassen der Energie an die Einsatztiefe oder das Verwenden von Infrarotsystemen. Das Institut betont weiterhin die Wichtigkeit seiner Forschung und den Mangel an Alternativtechnologien. So können Luftpulser laut AWI helfen, »wichtige Fragen in der Klimaforschung« zu beantworten, beispielsweise zum »künftigen Beitrag der abschmelzenden Eisschilde zum Anstieg des Meeresspiegels«. Andere geophysikalische Möglichkeiten als die Erzeugung von Schallwellen für solche Forschung existieren laut AWI nicht. »Somit ist Seismik die einzige Methode«, konstatiert das Institut in seiner Stellungnahme.

Dennoch beharren Forscher wie Lindy Weilgart oder Doug Nowacek darauf, dass es durchaus weniger schädliche Alternativen zu den momentanen Praktiken gebe. In einem Paper von 2016 (PDF) verweist Weilgart dabei auf vibroseismische Sweeps. »Vibroseis wird bereits seit Jahren für seismische Untersuchungen an Land eingesetzt«, sagt die Forscherin. Wie Wissenschaftler 2013 nachwiesen, werden bei Luftpulsern rund 30 Prozent der Schallenergie nicht genutzt. Dieser Teil trägt also nicht zur seismischen Untersuchung bei, schadet jedoch den Tieren.

»Im Gegensatz dazu gibt es bei Vibroseis praktisch keine Energie über 100 Hertz. Daher erwarten wir nur geringe bis überhaupt keine Auswirkungen auf Tiere wie Delfine, Meeresschildkröten, Orcas, Belugas, Narwale oder Schnabelwale«, erläutert Weilgart. Ein wissenschaftlicher Test verglich eine Luftpulseranlage mit einer realistisch vergleichbaren Vibroseisanlage und ermittelte, dass die Vibroseismethode 13 bis 22 Dezibel leiser war. Eine kanadische Studie schätzt (PDF), dass eine solche Energieeinsparung die Quote der betroffenen Tiere auf bis 20 Prozent der Auswirkungen eines Luftpulsereinsatzes reduziere. Auch das Umweltbundesamt führt derzeit nach eigenen Angaben Tests mit Blauwalen vor Island durch, um die Vibroseismethode zu erforschen.

Gerade im Hinblick auf ungenutzte Energie bei Luftpulsereinsätzen betont Doug Nowacek, dass es durchaus möglich sei, die Anlagen zu verkleinern und dennoch die gewünschten Testergebnisse zu erzielen. »Besonders die Luftpulseranlagen für die Ölsuche sind oft um ein Vielfaches größer als zumindest die meisten, die für wissenschaftliche Untersuchungen oder beim Bau von Windfarmen gebraucht werden. Damit sind sie auch dramatisch lauter. Dabei sind sie größer, als sie sein müssten.« Der Meeresforscher berichtet über erfolgreiche Versuche an der Ostküste Russlands, wo kleinere Anlagen die gleichen Resultate erbrachten.

Auch sonst verweisen Forscher auf andere Methoden, mit denen der Meeresboden erforscht werden könnte und die dabei zumindest die Seismik ergänzen könnten. »Zum Beispiel wären elektromagnetische Methoden möglich. Außerdem gibt es sogar neue Techniken mit Gravitationsmessungen aus der Luft, mit Hilfe hochpräziser Beschleunigungsmesser, die ähnliche Daten produzieren können wie seismische Tests«, erläutert Nowacek.

Doch sowohl beim möglichen Einsatz von Vibroseis als auch bei der Entwicklung solch neuer Methoden versetzt ein simpler wirtschaftlicher Fakt den Hoffnungen der Tierschützer einen Dämpfer. Die Unternehmer, die im Auftrag der Öl- und Gasindustrie die seismischen Untersuchungen durchführen, haben große Summen in hochmoderne Schiffe mit Luftpulseranlagen investiert. So sagt Doug Nowacek voraus: »Die werden sie jetzt nicht einfach verschrotten, nur weil es eine neue Technologie gibt.«

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