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Der genügsame Zweite

Neid gilt als verwerfliche Empfindung. So zählt er seit alters her zu den Hauptsünden der Römisch-Katholischen Kirche. Tatsächlich führt er mitunter zu hässlichen Auswüchsen, auch in der Wissenschaft. Ein Beispiel hierfür ist der Streit zwischen den amerikanischen Paläontologen Othniel Charles Marsh (1831-1899) und Edward Drinker Cope (1840-1897). Beide wollten als Alleinentdecker so berühmter Dinosaurier-Arten wie Allosaurus, Diplodocus oder Triceratops in die Geschichte eingehen. Um dies zu erreichen, stritten sie sich gegenseitig jeden Erfolg beim Rekonstruieren der "Schreckensechsen" ab. Keiner erkannte die wissenschaftliche Leistung des anderen an, von Wertschätzung ganz zu schweigen. Ihre heftigen Debatten, die durchaus auch persönlich wurden, waren in der damaligen Öffentlichkeit weithin unter dem Begriff "Bone Wars" (Knochenkriege) bekannt.

In seinem neuen Sachbuch "Am Ende des Archipels" zeigt der Berliner Zoologe und Evolutionsforscher Matthias Glaubrecht, dass es auch anders geht. Darin befasst er sich mit dem britischen Biologen Alfred Russel Wallace (1823-1913). Dieser musste mit 14 Jahren die Schule verlassen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und konnte nie eine Universität besuchen. Dennoch machte er sich einen Namen als Biodiversitätsforscher, Systematiker, Zoo-Geograph, evolutionärer Anthropologe, Begründer der Astrobiologie und der Neo-Darwin'schen Theorie sowie als Humanist und Freidenker.

Im Alter von 35 Jahren hatte Wallace, der damals auf den Molukken lebte, eine wichtige Einsicht bezüglich der Artentransformation, heute als Evolution bezeichnet. Im Fieberrausch kam er darauf, dass sämtliche Veränderungen, die für die Anpassung der Arten an ihre Umwelt erforderlich sind, durch Überleben der besser geeigneten Individuen hervorgebracht werden – ein Gedanke, der auf das Prinzip der natürlichen Selektion hinausläuft. Wallace schrieb seine Ideen nieder und sandte sie 1858 an den 14 Jahre älteren Charles Darwin (1809-1882). Dieser stellte fest, dass Wallaces These seiner eigenen Theorie, an der er bereits seit 20 Jahren gearbeitet hatte, stellenweise sehr ähnelte. Deshalb fühlte er sich dazu gedrängt, sein Hauptwerk "On the Origin of Species" (Über die Entstehung der Arten) zu veröffentlichen, was er im darauf folgenden Jahr auch tat. Zuvor jedoch veranlasste Darwin eine gemeinsame Publikation von Wallaces Abhandlung und seinen eigenen Schriften. Darin wurde die Prioritätenfrage klar beantwortet: Darwin trat als Erstentdecker des Selektionsprinzips in der Natur auf, während Wallace die Position eines Mitentdeckers zugewiesen wurde.

Glaubrecht beschreibt das Leben dieses "Mannes im Schatten von Charles Darwin" in seinem brillant verfassten Buch ausführlich. Er schildert zahlreiche Episoden, die in bisherigen Darstellungen gefehlt haben. Seinen Schwerpunkt legt er auf Wallaces frühe Jahre, also die Zeit bis etwa 1862. Detailliert geht er auf die "zweifache Entdeckung der Evolution durch Wallace und Darwin" ein. Nach sorgfältiger Analyse der Dokumente kommt er zu dem Schluss, Darwin habe sich nicht ganz korrekt verhalten. Der berühmte Forscher habe Wallaces Manuskript zu einem früheren Zeitpunkt bekommen, als er zugab, und Inhalte daraus abgeschrieben, um sein Hauptwerk vor der Veröffentlichung nachzubessern. Das zielt ein wenig in die Richtung einer populären "Verschwörungstheorie", wonach Darwin sich als Erstentdecker der natürlichen Selektion in den Vordergrund gedrängt habe.

Dieser These ist entgegenzuhalten, dass Darwin bereits zwei Jahrzehnte zuvor das Selektionsprinzip entdeckt und dokumentiert hatte, und dass Wallace zeitlebens die Priorität von Darwin akzeptierte, wie er etwa in seinem Bestseller "The Malay Archipelago" (1869) zum Ausdruck brachte. Die neidlose Anerkennung des Älteren zieht sich durch Wallaces gesamte zweite Lebenshälfte. Er betonte sie erneut, als er im Jahr 1908 die "Darwin-Wallace-Medaille" verliehen bekam. Wallace stellte Darwin in zahlreichen Schriften etwa mit dem Physiker Isaak Newton (1642-1727) auf eine Stufe. Hätte er sich hintergangen gefühlt, so wäre er spätestens nach Darwins Tod in der Lage gewesen, dies offen zu artikulieren – was er nicht tat.

Unabhängig davon, ob man Glaubrechts These zuneigt oder nicht: Sein Buch ist jedem zu empfehlen, der sich für Darwin, Wallace und die Entdeckung der natürlichen Selektion interessiert. Es kann dazu beitragen, Wallace einen ebenbürtigen Platz neben Darwin einzuräumen. Heute gibt es eine "Darwin-Buchindustrie", aber Wallace, der zeitlebens anstellungslos gebliebene Autodidakt mit spiritistischer Nebenbeschäftigung, führt noch immer ein Schattendasein. Er ist ein Vorbild für Ehrlichkeit und Fairness in den Naturwissenschaften, während andere – etwa Othniel Charles Marsh und Edward Drinker Cope – ein trauriges Beispiel dafür abgeben, wie man sich als Forscher nicht verhalten sollte.

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