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»Das Ende des Individuums«: Das Ende der Objektivität

Ein Philosoph scheitert an dem Versuch, sich mit neuesten Entwicklungen der künstlichen Intelligenz unbefangen auseinanderzusetzen. Eine Rezension
Ein mehrschichtiges künstliches neuronales Netzwerk

Die meisten Politiker in Deutschland waren vor ihrem parteilichen Engagement entweder Juristen – wie etwa Olaf Scholz – oder haben eine universitäre Ausbildung genossen, die sie auf die Zukunft als Berufspolitiker vorbereitet – man denke an Annalena Baerbock. Philosophen gibt es unter ihnen dagegen wenige. Robert Habeck ist einer von ihnen. Oder der Franzose Gaspard Kœnig, Autor von »Das Ende des Individuums«. Er ist seit einigen Jahren Vertreter einer liberale Partei und leitet den von ihm gegründeten Thinktank »Génération libre«.

Auch in seinem Buch ist in nahezu jeder Zeile zu spüren, dass die Freiheit des Einzelnen und der freie Wille des Menschen für den Autor das höchste Gut darstellen. Daher leuchtet auch ein, warum die KI für ihn eine Gefahr darstellt. Die meisten Menschen bemerken kaum, wie sehr sie tagtäglich mit künstlicher Intelligenz in Kontakt kommen. Dafür muss man keinen »intelligenten« Sprachassistenten wie Alexa oder Siri zu Hause haben. Egal ob die Musik- oder Filmauswahl bei digitalen Streaminganbietern, personalisierte Werbung im Internet oder die Ergebnisse einer Google-Suche: All das wird mit Hilfe selbstlernender Algorithmen gesteuert. Solche aktuellen Einschränkungen des freien Willens sieht der Autor höchst kritisch. Er befürchtet, dass sich die KI künftig auf alle Bereiche des Lebens ausdehnen wird – und in letzter Konsequenz den freien Willen des Menschen abschafft.

Kœnig hat mit vielen Personen aus der Informationstechnik, der Computerforschung und Tech-Unternehmen gesprochen und zeichnet diese Unterhaltungen in seinem Buch nach. Sein Blick ist allerdings selten objektiv. Er verlässt den Blickwinkel des Humanisten und Geisteswissenschaftlers zu keiner Zeit. Der zu Beginn geäußerte Wunsch, der »wohlfeilen Versuchung der Technophobie« zu widerstehen, ist schon im nächsten Satz vergessen.

Gängige Klischees, apokalyptische Vorhersagen

Der Autor reiht gängige Klischees aneinander, etwa vom moralfreien Großkapital, das die Tech-Unternehmen führt. Zudem lässt er ein Unverständnis für das, was Programmierer in ihren dunklen Kellern am PC erschaffen, und ein kindlich anmutendes Staunen erkennen, etwa wenn er mit großen Augen die »wunderlichen Gebäude der Abteilung für Computer Science am MIT« betrachtet. Damit ironisiert er den technischen Sektor und die Arbeit der Menschen darin.

Es hilft auch nicht, dass Kœnig jeden zweiten Satz mit einem Zitat des großen Philosophen und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) garniert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor eine Art Wohlfühlklima für Freunde und Kenner der klassischen europäischen Philosophie schaffen möchte, um dann in dieser Blase hemmungslos mit apokalyptischen Vorhersagen vom Kollaps der individuellen Freiheit um sich zu werfen.

Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich hier mehr um eine Kampfschrift gegen den technischen Fortschritt der KI handelt als um eine nüchterne Betrachtung selbiger. Immerhin: Wer über den überheblichen Duktus und die akademische Sprache hinweglesen kann, findet in dem Werk viele interessante Gedanken zur Zukunft der künstlichen Intelligenz, die sich aus den zahlreichen Unterredungen mit Spezialisten dieses Fachgebiets ergeben. Leider betrachtet der Autor sie alle im Licht seiner Endzeitstimmung. Letztlich fragt man sich, ob der Autor seinen subjektiven, ideologisch geprägten Blick, der als Politiker im Wahlkampf durchaus seine Berechtigung hat, nicht im falschen Gebiet angewandt hat.

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