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Buchkritik zu »Elf ist freundlich und fünf ist laut«

22514 beträgt die Anzahl der Nachkommastellen der Zahl Pi, die sich Daniel Tammet merken kann. Um sie aufzusagen, benötigt der Europarekordhalter in dieser Disziplin fünf Stunden und neun Minuten. Der 28-jährige Engländer ist ein "Savant", ein Mensch mit einer äußerst seltenen so genannten Inselbegabung: Sei es 13 durch 97 oder 37 hoch 4 – das Ergebnis rechnet er wenn nötig auf 100 Nachkommastellen genau – im Kopf. Und Isländisch lernte das Sprachgenie im Auftrag der BBC innerhalb einer Woche immerhin gut genug für ein Live-Interview im isländischen Fernsehen.

Was Daniel Tammet jedoch Schwierigkeiten bereitet, ist die Bewältigung des Alltags: mit seinen kleinen Geschwistern umgehen, Anspielungen verstehen, Busfahrpläne lesen – all das meistert er nur unter großer Anstrengung, denn er leidet am Asperger-Syndrom, einer milden Form von Autismus. Dennoch scheut er, wie in seiner Autobiografie nachzulesen, keine Herausforderung, um seiner Erkrankung ein unabhängiges Leben abzutrotzen.

Wie die Figur des Raymond Babbit in "Rain Man" verlangt es auch Daniel im Alltag beständig nach Ritualen. Lärm und alles Neue machen ihm Angst. Die Welt um ihn herum – und vor allem die Menschen darin – sind Daniel ein Rätsel, ein Chaos, dem er mit seinen wichtigsten Verbündeten Ordnung aufzwängt: den Zahlen. Seit einem epileptischen Anfall in der Kindheit, der ihm die Fähigkeit zu synästhetischer Wahrnehmung hinterließ, sieht er sie plastisch vor sich: "37 ist klumpig wie Porridge, während mich 89 an fallenden Schnee erinnert." Ganze Zahlenlandschaften kann er durchwandern, wenn er sich beruhigen will, vorbei an den Primzahlen – herrlichen, abgerundeten Kieselsteinen.

Seine numerischen Freunde kann Daniel verstehen; bei denen aus Fleisch und Blut tut er sich dagegen schwer. Mangels Intuition benötigt er dazu mentale Krücken: Sagt jemand, er sei traurig, stellt Daniel sich die dunkle Höhle der Zahl Sechs vor. Erst dann kann er mit dem Satz auch ein Gefühl verbinden. Schritt um Schritt hat sich der Heranwachsende scheinbar alltägliche Fähigkeiten erarbeitet – und niemals lockergelassen. Als er zum ersten Mal in einem Zug sitzt, ist er unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch für ein Jahr als Englischlehrer in Litauen.

Die BBC-Dokumentation und Talkshow- Auftritte haben ihn inzwischen zu einer kleinen Berühmtheit gemacht. Vor allem Forscher interessieren sich für seine außergewöhnlich seltene Kombination von Autismus und Synästhesie. Bereitwillig gibt er ihnen über seine Innenwelt Auskunft – im Dienst der Wissenschaft und um seine Leidensgenossen und ihre Angehörigen zu unterstützen. Dem kaum erforschten Asperger-Syndrom, an dem auch sein jüngerer Bruder leidet, will er so die nötige Aufmerksamkeit verschaffen.

Das gleiche Ziel verfolgt er mit seinem Buch, in dem er uns einen Einblick in seine eigenartige Welt gewährt – unerwartet intim für einen Menschen mit seiner Persönlichkeit. Tammet berichtet sachlich, manchmal auch ein bisschen zu nüchtern, ohne stilistische Raffinessen. Aber wovon er erzählt, lässt staunen: über seine außergewöhnlichen Fähigkeiten, aber vor allem über seinen außergewöhnlichen Mut.

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