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»Freiheit für alle«: Von der Arbeits- zur Sinngesellschaft

Selbstlernende Algorithmen könnten viele Berufe im Dienstleistungssektor künftig überflüssig machen. Richard David Precht beschreibt, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen verhindern kann, dass große Teile der Bevölkerung verarmen.
Mann klappt einen Laptop zu und geht weg.

Wussten Sie, dass zur Zeit der industriellen Revolution Menschen durch die Straßen liefen und mit langen Stöcken gegen die Fenster klopften, um die Schlafenden zu wecken? Diese »Aufwecker« waren dringend nötig, denn sie sorgten dafür, dass die Arbeiter morgens rechtzeitig zu ihrer Schicht in der Fabrik waren. Wecker gab es damals kaum, und sie waren sehr teuer. Heute wären »Aufwecker« selbstverständlich arbeitslos.

Es überrascht nicht, dass technischer Fortschritt sich auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Bislang machten sich die Veränderungen vor allem im produzierenden Gewerbe bemerkbar. Doch die nächste große Umwälzung ist Richard David Precht zufolge bereits im Gang und wird vor allem den Dienstleistungssektor verändern. Grund dafür ist der zunehmende Einsatz von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz. In »Freiheit für alle« analysiert der deutsche Philosoph und Publizist Precht die heutige Arbeitswelt. Er stellt fest, dass selbstlernende Algorithmen viele Berufe im Dienstleistungssektor überflüssig machen könnten, etwa bei Banken und Versicherungen. In einem Land, in dem das ausgemachte politische Ziel die Vollbeschäftigung ist, klingt das wie eine Katastrophe. Doch es gelingt Precht, die Entwicklung ins Positive zu wenden: Es bleibe mehr Freiheit für den Einzelnen, wenn die Menschheit als Ganzes bei gleich bleibender Wirtschaftsleistung weniger arbeiten müsse. Der Autor reiht sich damit in eine Reihe von Ökonomen und Philosophen ein, die bereits seit der industriellen Revolution ankündigen, dass wir eines Tages kaum noch arbeiten müssen.

Das passt laut Precht zu einem in der westlichen Welt immer mehr um sich greifenden Mentalitätswandel: Vor allem junge Menschen lehnen Arbeit als Selbstzweck zunehmend ab und fordern stattdessen Sinn stiftende Erwerbstätigkeit. Der bevorstehende epochale Umbruch von einer Arbeitsgesellschaft in eine Sinngesellschaft muss in den Augen des Autors politisch begleitet werden, was große Veränderungen im System beinhaltet. Als Lösung bietet Precht ein bedingungsloses Grundeinkommen an, das verhindert, dass große Teile der Bevölkerung verarmen.

Precht zählt die üblichen Argumente gegen eine solche Maßnahme auf. Er spricht beispielsweise die Finanzierbarkeit eines solchen Projektes an, aber auch mögliche ökonomische Folgen wie Inflation. Außerdem durchdenkt er Lösungswege, wie die Einführung eines Mikrosteuersystems, in dem Finanztransaktionen und insbesondere außereuropäische Geldflüsse stärker besteuert werden und so das bedingungslose Grundeinkommen mitfinanzieren könnten.

Bei vielen Argumenten Prechts handelt es sich um Spekulationen und immer wieder wünscht sich der Leser, der Autor würde realitätsnahe Berechnungen aufstellen. Allerdings werden die Spekulationen mit ökonomischen Studien untermauert, so dass es nicht schwerfällt, den Ausführungen – so utopisch sie auch klingen mögen – Glauben zu schenken. Die sehr gut belegten Argumente sind eine große Stärke des Werks, genau wie der hervorragende Schreibstil des Autors, mit dem er auch ökonomisch wenig vorgebildete Leser in seinen Bann schlägt.

Das Werk kann jedem empfohlen werden, der Fragen zum bedingungslosen Grundeinkommen hat oder zur künftigen Entwicklung von Arbeit und Leben in unserer Gesellschaft. Sie werden hier fundiert beantwortet.

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