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Netzwerkfieber ist nicht heilbar

Urs Stäheli entwickelt in seinem neuen Buch eine Sozialtheorie über Vernetzung und die Möglichkeiten des Ausstiegs.

Unsere Gesellschaft besteht aus Netzen: sei es das Internet oder soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verbindung zwischen Personen. Die Vernetzung ist dem Soziologen Urs Stäheli zufolge kein Phänomen der heutigen Zeit, denn Menschen stehen schon lange miteinander in Beziehung. Durch die Digitalisierung erfährt das Phänomen jedoch eine Zuspitzung, die der Autor mit Begriffen wie »Übervernetzung« oder »Netzwerkfieber« beschreibt.

Vom Homo oeconomicus zum Homo connectus

Der Professor für Soziologie von der Universität Hamburg, der sich in seiner Forschung mit digitalen Kulturen der Entnetzung beschäftigt, stellt fest, dass jedes Streben danach innerhalb des bestehenden Systems passiert. Jeder Ausbruch geschieht aus »etwas« heraus, was durch sein Verlassen gegründet wird. Wie eine Theorie der Entnetzung trotzdem aussehen kann, beschreibt er in seiner kultursoziologischen Analyse.

Aus dem Homo oeconomicus, der nach im wirtschaftlichen Erfolg strebt, sei der Homo connectus geworden, der seine Ziele durch Vernetzung erreichen will. Demgegenüber stehen Introvertierte oder Schüchterne, die sich gern aus sozialen Zusammenhängen herausziehen. Fundamente seiner Ideengeschichte findet der Autor schon bei Bruno Latour, Georg Simmel oder Niklas Luhmann, um nur einige wenige zu nennen, aus deren Ansätzen Stäheli seine Ideen akribisch entwickelt.

Ein Herausziehen aus Netzen erscheint heute fast schon als Fauxpas und Verdachtsfall, dass etwas nicht stimmen könnte, resümiert Stäheli. Hier geht es beispielsweise um Menschen, die sich durch die Coronakrise von den lauten Großraumbüros und stetigen Meetings befreit fühlen. Ohne tiefer in den Pandemie-Diskurs einzusteigen, liefert er damit ein eingängiges Beispiel für die übervernetzte Arbeitswelt, in der die hohe Konnektivität in Unternehmen ein Zeitfresser ist, und lässt dabei Ansätze aus der Organisationslehre einfließen.

Inzwischen gibt es Digital Detox Camps, die dem Extrem der Vernetzung gegenüberstehen. Sie sollen das Netzwerkfieber heilen, das durch die stetig wachsenden Verbindungen um sich greift. Eine Flucht daraus scheint vielen attraktiv, denn die ständige Erreichbarkeit, Reizüberflutung und geforderte Selbstpräsentation im Privaten sowie im Beruf stresst und überfordert zahlreiche Personen. Die Camps finden meist an Orten ohne Empfang statt. Eine ähnliche Kulisse schaffen französische Kinobetreiber, die mit einem WiFi-Jammer das Handy-Signal stören, damit Ruhe während der Vorstellung herrscht.

In der Welt der Daten und Organisationen birgt die Übervernetzung aber auch andere Gefahren, etwa wenn Atomkraftwerke oder militärische Einrichtungen dadurch angreifbar werden. Ein Hackerangriff kann dort fatale Konsequenzen haben. Wie sicher demgegenüber eine entnetzte Kommunikation sein kann, zeigt Stäheli am Beispiel von Osama Bin Laden, der so lange unentdeckt blieb, weil er offline aus seinem Versteck heraus Daten auf USB-Sticks über das so genannte »SneakerNet« versendete: auf leisen Sohlen von Menschen transportiert.

So zeichnet der Autor ein Bild der vernetzten Gesellschaft und den Möglichkeiten des Ausstiegs oder Konsequenzen eines »Abschaltens«, wie es im Arabischen Frühling passierte, als die ägyptische Regierung den Internetzugang des Landes unterbrach: Menschen kamen auf den Straßen zusammen und nutzten »alte« Kommunikationsmöglichkeiten wie Festnetztelefone oder Faxgeräte zur Verbindung – ein weiteres Beispiel für eine Vernetzung ohne Internet.

Im letzten Kapitel bemüht Stäheli verschiedene Sciencefiction-Romane, deren Autoren vorausschauend die Möglichkeiten und Probleme einer übervernetzten Welt thematisierten und dadurch auf Schreckensszenarien blicken lassen, die Stäheli teilweise als realistisch betrachtet. Der wissenschaftliche Stil des Buchs ist der Komplexität des Themas angemessen, immerhin entwickelt der Autor einen neuen Ansatz. Es eignet sich daher eher für soziologisch vorgebildete Leser, die sich für stichhaltige Gesellschaftsanalysen begeistern können.

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