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Verrückte Neutrinos

Physik ist wie Surfen. Oder wie LSD. In seinem ersten populärwissenschaftlichen Werk nimmt uns Heinrich Päs, theoretischer Physiker an der Universität Dortmund, mit auf einen außergewöhnlichen Trip durch die Geschichte der Teilchenphysik – und zwar vor allem die Geschichte der kreativen Leistungen. Überraschende Anekdoten, Ausflüge in Philosophie und Kosmologie sowie futuristische Spekulationen machen es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Erforschung der Neutrinos, »völlig verrückter Teilchen«, von denen die meisten die ganze Erde durchfliegen, ohne sich je bemerkbar zu machen.

Just zum Erscheinungsdatum des Buchs machten die Nachrichten von überlichtschnellen Neutrinos die Runde. Inzwischen ist klar, dass der Meldung ein Messfehler zu Grunde lag (Spektrum der Wissenschaft 5/2012, S. 21); aber das Buch ist deshalb nicht weniger aktuell. Die Erforschung der Neutrinos könnte viel zur Erweiterung des physikalischen Weltbilds beitragen. Vielleicht liefern sie gar "den Schlüssel zur Entwicklung des Universums", wie der Autor andeutet.

Päs beginnt mit einem Ausflug in die antike Philosophie. Ob die griechischen Denker sich tatsächlich von Drogenerlebnissen beeinflussen ließen, mag man glauben oder nicht; doch offenbar haben sie einige Konzepte der modernen Physik vorweggenommen. So suchen heutige Teilchenphysiker nach Hinweisen, ob alle Teilchen und Kräfte Zustände einer einzigen Urkraft sein könnten – darüber dachte schon Platon nach.

Neutrinos könnten uns dank ihrer besonderen Eigenschaften verraten, ob eine solche Urkraft existiert; doch die »Geisterteilchen« widersetzen sich hartnäckig ihrer Erforschung. Da sie kaum mit Materie wechselwirken, erfordert ihr Nachweis riesige, äußerst empfindliche Detektoren. Der Autor erzählt von den erstaunlichen Anstrengungen, zu denen sich Forscher angesichts der experimentellen Schwierigkeiten inspirieren lassen: Die Detektoren von IceCube befinden sich tief unter der antarktischen Eisdecke, und für ein Experiment wurde sogar Blei von römischen Galeeren vom Meeresboden heraufgeholt!

Die Herkulesarbeit hat bereits spannende Erkenntnisse über die Neutrinos erbracht, obwohl die Messergebnisse nicht leicht zu deuten sind. Eines zumindest ist klar: Neutrinos sind um ein Vielfaches leichter als sämtliche anderen Materieteilchen. Doch warum ist das so, und woher bekommen sie überhaupt ihre Masse? Eine Erklärung könnte auch Antworten auf viele andere offene Fragen liefern – wie diejenige, warum es im Universum überhaupt Materie gibt anstatt nur Strahlung.

Neutrinos könnten sogar durch versteckte Dimensionen reisen, die für unsere Wahrnehmung zu klein sind. Päs spekuliert über Zeitreisen durch solche Extradimensionen und darüber, wie Zeitmaschinen aussehen könnten. Ob diese für Menschen funktionieren würden, ist zweifelhaft, doch wer weiß – vielleicht werden eines Tages Neutrinos Botschaften in die Vergangenheit oder Zukunft übermitteln.

Die Entwicklung und Überprüfung naturwissenschaftlicher Ideen hängt immer vom Einfluss der Kultur ab, in welcher der Forscher zu Hause ist, sowie von dessen Eigenheiten und Träumen. Das zeigt der Autor mit oft haarsträubenden Anekdoten, die Wissenschaftler als Menschen interessant machen. Eine der harmloseren: Werner Heisenberg musste wegen Heuschnupfen zwangsweise einen Urlaub auf Helgoland verbringen. Er bekämpfte die Langeweile mit Klettern, Gedichteauswendiglernen und Rechnen – und erarbeitete ganz nebenbei die mathematische Grundlage der Quantenmechanik.

Auf Geschichten von Surftrips auf Hawaii und von der Hamburger Reeperbahn folgen physikalische Details aus Quantenmechanik oder Supersymmetrie. Und auch wenn sich der Autor öfter in Schwindel erregende Abstraktionshöhen aufschwingt, schafft er es doch auf unnachahmliche Weise, den Leser bei der Stange zu halten. Dank übersichtlicher Hervorhebungen und Zusammenfassungen bleibt diesem stets das Gefühl, zumindest den großen Zusammenhang zu verstehen.

Wer sich vorher wenig mit Teilchenphysik beschäftigt hat, wird allerdings mit einem Wust neuer Begriffe und Konzepte überschüttet. Ein Glossar zum schnellen Nachschlagen wäre hilfreich gewesen – was war noch einmal der "Seesaw-Mechanismus", und was bedeutet die Abkürzung "LSND"? Ein wenig Abhilfe schafft das ausführliche Inhaltsverzeichnis, und wer tiefer in das Thema eindringen will, findet ein gut sortiertes Literaturverzeichnis vor. Rechnen Sie nicht damit, alles beim ersten Lesen zu verstehen, wohl aber mit einem außergewöhnlichen Einblick in die moderne Physik.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 8/2012

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