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Psychiatrie: Eine Standortbestimmung der Psychiatrie

Viele Methoden mit Alleinvertretungsanspruch einerseits, integrierende klinische Praxis andererseits: Das war das beherrschende Thema der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts.

Für kaum eine andere Fachdisziplin ist es so wichtig wie für die Psychiatrie, immer wieder aufs Neue ihre Grundannahmen kritisch zur Disposition zu stellen und zu reflektieren. Denn die Wahrnehmung und Beurteilung psychischen Andersseins wird durch die jeweils aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Sichtweisen in hohem Maß beeinflusst und eingeengt, was die Gefahr einer unkritisch einseitigen Praxis einschließt. Für kaum eine andere Fachdisziplin ist dieser selbstkritische Diskurs aber auch so schwierig. Denn im Nachdenken über nicht "normales" psychisches Verhalten reflektiert das Gehirn über sich selbst, und damit stellen sich alle Probleme der Selbstreferenz. Psychiater haben deshalb guten Grund, die Begrenztheit ihrer Denkschemata zur Kenntnis zu nehmen und immer wieder andere Wahrnehmungs- und Beurteilungsmodelle auf ihre Tauglichkeit zu befragen. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Fachs bietet dafür gute Ansatzpunkte.

Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass sich Heinz Schott, Professor für Geschichte der Medizin und Leiter des Medizinhistorischen Instituts der Universität Bonn, und Rainer Tölle, ehemaliger Lehrstuhlinhaber und Leiter der Klinik für Psychiatrie der Universität Münster, zusammengetan haben, um aus ihren unterschiedlichen Perspektiven "Geschichte und Aktualität der Psychiatrie zusammenzubringen". Sie erfüllen damit ein dringendes Bedürfnis, denn "die gegenwärtigen Lehrbücher der Psychiatrie gehen im Allgemeinen nicht mehr auf die Geschichte des Faches ein, wie auch umgekehrt die psychiatriehistorischen Standardwerke den aktuellen Stand der Psychiatrie in der Regel ausblenden".

Das Buch beginnt mit einem Kapitel über die historischen Voraussetzungen der klinischen Psychiatrie, von der Dämonologie und deren Bedeutung in der gesamten Medizingeschichte über die Ideen der Aufklärung und der Romantik, das Werk von Wilhelm Griesinger (1817 – 1868), der in der Mitte des 19. Jahrhunderts "eine Magna Charta entwarf, auf die sich die Psychiatrie bis heute berufen kann", und die Vorläufer der Psychoanalyse bis schließlich zur Degenerationslehre und Eugenik.

Das 2. Kapitel "Moderne Begründungen, Entwicklungen und Irrwege" beschäftigt sich mit der "klinischen Psychiatrie", deren Beginn die Autoren an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verlegen. Allgemein wird diese Methode Emil Kraepelin (1856– 1926) zugeschrieben. Gemeint ist "die wissenschaftliche Arbeit am Patienten, besser gesagt mit dem Patienten, und zwar nicht a priori theoriebezogen und auch nicht hauptsächlich methodebezogen".

Die Beobachtung stand im Vordergrund; aber naturgemäß blieb die Bildung von Theorien und Methoden nicht aus. Nur entwickelte sich an Stelle eines einheitlichen Systems eine Vielzahl von Ansätzen: Naturwissenschaftlich- biologische, psychodynamische, psychopathologische, phänomenologische und sozialpsychiatrische Theorien und Methoden verstanden sich als unabhängig von den jeweils anderen und beanspruchten, die Psychiatrie zu repräsentieren. Demgegenüber beharrten die Vertreter des Kraepelin’schen Standpunkts darauf, sich nicht vorab auf eine der zahlreichen Methoden festzulegen, sondern sie alle zur Auswahl bereitzuhalten und/oder zu integrieren. In den Augen der Autoren ist das zentrale Thema der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Richtungen und nicht der weitaus bekanntere Gegensatz zwischen biologisch und dynamisch/psychosozial orientierten Ansätzen.

Es folgen ein Kapitel zur Krankenversorgung von den Vorläufern in Orient und Okzident bis zur Psychiatriereform und ihren Folgen sowie ein Kapitel zur Krankheitslehre und den wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen. Eher knapp ist das nachfolgende Kapitel über die therapeutischen Ansätze von Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute gefasst.

Dem Patienten als Person begegnen

Im letzten Kapitel sprechen Schott und Tölle schließlich die grundsätzlichen Fragen an, "die sich aus dem Blickwinkel des psychiatrischen Patienten ergeben und sein Leben, seine Bedürfnisse und Interessen betreffen". Hier geht es um die Stigmatisierung durch Krankheitsdiagnosen mit ihrer "geradezu bedingungslosen Klassifikation" durch die Systeme DSM und ICD und darum, wie bedeutsam es ist, die Subjektivität des Patienten anzuerkennen und ihm als Person zu begegnen. Weitere Themen sind das Problem der Zwangsbehandlung und die unterschiedlichen Aufträge der Patienten und der Gesellschaft an den Psychiater.

Zum Abschluss wird die entscheidende Frage gestellt, nämlich die nach dem Menschenbild der Psychiatrie. Die Autoren nehmen zu der in unserer Zeit dominierenden molekulargenetischen Biologisierung des Menschen kritisch Stellung, bedauern die Anlehnung der heutigen Psychiatrie an die Theoriebildung der Neurowissenschaften und vermissen zu Recht die Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen einer medizinischen Anthropologie.

Tatsächlich ist es ein gravierender Unterschied, wie ein Arzt die Krankheit seines Patienten versteht: im Sinn der Aufklärung als Defektzustand, im Sinn der Romantik als "Kehrseite" oder "Nachtseite" der Normalität oder im Sinn der Postmoderne – von den Autoren gar nicht angesprochen – als eine durchaus kreative Lösung einer eigentlich unlösbaren Situation. Jede dieser Positionen führt zu einer anderen Haltung dem Patienten gegenüber, zumal implizit jeweils eine andere Antwort auf die unausweichliche Frage nach der Schuld an der Krankheit gegeben wird. Die Autoren schließen dieses letzte Kapitel ihres Buchs mit einem Rekurs auf Viktor von Weizsäcker und seine Einführung des Subjekts in die Medizin und fordern implizit, dass die Psychiatrie den Menschen in seiner Subjektivität zu ihrem Gegenstand machen müsse und ihn nicht auf einen Objektstatus reduzieren dürfe.

Den Autoren ist zweifellos eine bedeutende Darstellung der Geschichte der Psychiatrie gelungen, die für jeden Kliniker von hohem Interesse ist oder zumindest sein sollte. Am Ende stellt sich allerdings heraus, dass entscheidende Fragen auf den letzten 15 Seiten viel zu gedrängt behandelt wurden. Ich hätte mir – vielleicht etwas unbescheiden – gewünscht, dass diese Fragen noch stärker die einzelnen Kapitel bestimmt hätten und zum Abschluss wesentlich eingehender behandelt worden wären. Dafür hätte ich auf manche ermüdende Detailangabe gern verzichtet.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 01/2008

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