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»Über dem Orinoco scheint der Mond«: Mensch und Natur haben nur gemeinsam eine Zukunft

Wir brauchen Zeit. »Zeit, uns mit uns selbst und der Welt zu beschäftigten«, heißt es in »Über dem Orinoco scheint der Mond«. Dann kann es Menschen als Teil der Umwelt besser gehen. Eine Rezension
Der Orinco ist der zweitwasserreichste Fluss Südamerikas.

»Warum sind wir nicht in der Lage, unser Handeln und Denken so zu ändern, dass das Leben von uns Menschen und der Erhalt unseres Lebensraums auf diesem Planeten nachhaltig gesichert sind?« Dieser Frage hat der Astrophysiker und TV-Moderator Harald Lesch gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer und Autor Klaus Kamphausen rund 150 Buchseiten gewidmet. »Über dem Orinoco scheint der Mond« heißt das Werk, das viele gute Gedanken versammelt, in der Form aber nicht überzeugt.

Wir leben in einer »Diktatur der Wirtschaft«

Einen ersten Teil der Antwort geben die Autoren direkt am Anfang: »Sie wissen nicht, was sie tun.« Immer wieder führt Lesch aus, wo überall natürliche Prozesse durch menschliches Tun gestört und zerstört werden und wie wenig das den meisten Menschen bewusst ist – obwohl die Fakten hinlänglich bekannt sein könnten. Hinzu komme die Orientierung am schnellen Glück und ein mangelnder Gemeinsinn. »Doch es fehlen auch die richtigen Rahmenbedingungen, die weder von der Politik gesetzt noch vom Großteil der Gesellschaft gefordert werden und von der Ökonomie offensichtlich nicht gewünscht sind«, heißt es. Wir lebten in einer »Diktatur der Wirtschaft«.

Lesch und Kamphausen gehen weiter und fragen, weshalb Menschen heute die Augen vor Problemen verschließen. Die Autoren vergleichen dazu unsere Weltsicht mit der des Forschungsreisenden Alexander von Humboldt und widmen ein ganzes Kapitel den großen Moralphilosophen. »Wenn uns das Wunderwerk Natur nicht zum Weinen bringt, wenn uns die vom Menschen verursachte Zerstörung der Natur keine Tränen in die Augen treibt, dann ist es höchste Zeit, dass wir uns selbst als Teil der Natur wiederentdecken …«, schreibt Kamphausen. Wie sehr wir untrennbarer Teil der Natur sind, das führen die Autoren umfassend vor Augen.

Den zentralen Lösungsansatz beschreibt Lesch so: »Wir müssen heraus aus diesem ökonomisch getriebenen Takt, zurück zu einem Rhythmus, der nicht nur für unser Wesen, sondern auch für die Natur verträglicher ist.« Hinzu komme eine »Ambiguitätsintoleranz«, wir suchten immer einfache, eindeutige und damit radikale Positionen. Das »Immer mehr« der Ökonomie biete genau das. Mitgefühl und Mitleid hingegen seien »absolut gelebte Ambiguitätstoleranz«. Die Fähigkeit zu Kompromissen, einen Konsens zu erarbeiten, sei »zentrales Merkmal menschlichen Zusammenlebens«.

Das Fazit der Autoren, wo wir ansetzen müssen, um die Missstände zu beheben, lässt sich einfach auf den Punkt bringen: Wir brauchen Zeit. »Zeit, uns mit uns selbst und der Welt zu beschäftigten. Männer und Frauen, die vor allem damit beschäftigt sind, sich und ihre Familien zu ernähren, haben dazu überhaupt nicht die Möglichkeit.« Sich diese Zeit nehmen zu können, »hätte sowohl ökologische Auswirkungen als auch Auswirkungen für jeden Einzelnen in Bezug auf sich selbst und insbesondere in Bezug auf die Interaktion mit anderen«. Wir müssten eine Vorstellung davon schaffen, wie wir in zehn Jahren leben wollen: »Eine andere Welt wird nur mit einer anderen Vorstellung möglich.«

Damit reihen sich die Autoren ein in den heutigen Duktus zahlloser Menschen, die Klimaschutz, Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit fordern – auch wenn man das Gefühl nicht los wird, dass insbesondere Lesch der Digitalisierung einen übertrieben großen Anteil der Schuld am Verlust freier Zeit zuweist.

Dadurch, dass Lesch bei Weitem den größeren Textanteil bestreitet, ist man beim Lesen nie ganz sicher, ob Kamphausen eher die Rolle eines Interviewers hat, dem manchmal der eigene Part zu lang gerät, oder ob der Koautor von Anfang an eher die Rolle eines Stichwortgebers für den monologisierenden und zeitweise dozierenden Lesch haben sollte. Besonders ärgerlich ist das dort, wo Kamphausen Gedanken resümiert, die Lesch eben erst in aller Ausführlichkeit dargelegt hat. Und auch die fiktive Rahmenerzählung, die den Titel erklärt und unter anderem Alexander von Humboldt in den Kontext einführt, wirkt aufgesetzt und deplatziert.

Dennoch: Wer sich an der Struktur und der ein oder anderen Redundanz nicht stört, wird in »Über dem Orinoco scheint der Mond« wertvolle Überlegungen finden, wie wir als Menschen zu uns, unseren Mitmenschen und der Natur zurückfinden können, um an Stelle von Dauerkrisen eine lebenswerte Zukunft zu erleben. Das ist inzwischen nicht mehr originell, aber dadurch nicht weniger zutreffend.

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