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Natur in der Stadt

Josef H. Reichholf, Professor für Naturschutz an der Technischen Universität München und Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München, schöpft aus langjähriger wissenschaftlicher Erfahrung, wenn er sich im vorliegenden Buch mit der Ökologie seiner Heimatstadt beschäftigt. Gleich im Vorwort bekennt er sich zu der persönlichen Beziehung zu seinem Wirkungsort, das vorliegende Werk ist sein persönliches Anliegen, seine Auswahl an besprochenen Tier- und Pflanzenarten ist persönlich gefärbt – Aspekte, die dem Buch von Anfang an sympathische Züge verleihen.

Auf das erste Kapitel mit Faktenwissen über Städte als Ökosysteme ("Befunde") folgen "Vorurteile", die dem Leser die kritische Auseinandersetzung mit "Gerüchten" ermöglichen. So sei zum Beispiel Stadtnatur eine nur zweitklassige Natur? Reichholf sieht das anders und weiß seinen Standpunkt zu begründen.

In "Unerwartetes" geht es unter anderem um die unbeliebten, aber intelligenten Stadtkrähen, die Mistel mit ihren Wirtspflanzen oder den Artenreichtum an Brutvögeln, jeweils in Relation zur Größe einer Stadt. Die spannend geschriebenen Aufsätze des folgenden Kapitels "Besonderheiten", deren salopp formulierte Titel zum Lesen einladen, enthüllen Verblüffendes. Was mag sich wohl hinter "Unsichtbare Schönheiten" verbergen? Es geht um nachtaktive, mottenartige Schmetterlinge!

Alle Aufsätze sind reich bestückt mit gut recherchierten und belegten Daten, Fakten sowie Literaturquellen. "Berlin – Hauptstadt der Nachtigallen" beschränkt sich nicht etwa auf die Singvögel der Bundeshauptstadt, sondern bezieht auch ausführlich andere geografische Regionen wie die Stadt München und Ferienanlagen am Mittelmeer ein. "Die Rushhour bei Vögeln" liefert umfassende Informationen zum Zugverhalten von stadttypischen Vögeln. Dabei lässt es sich der Autor nicht nehmen, ironisch- kritisch diese wohlkoordinierte Verhaltensweise als eine "ungleich bessere Lösung" dem täglichen Stau im Straßenverkehr gegenüberzustellen.

Im Kapitel "Probleme" wendet Reichholf sich gestörten Wechselbeziehungen und Gefahren zu, die in ähnlicher Form in vielen Großstädten anzutreffen sein dürften. Dass viele Tierarten in der Stadt besser gedeihen als auf dem Land, ist in seinen Augen unproblematisch bei den Enten – er verspottet sogar die Verfechter der Reinrassigkeit, die nach seinen Untersuchungen gar nicht gefährdet ist; es ist lästig bei den Nacktschnecken und ernsthaft problematisch bei den Mardern, die in zunehmendem Umfang Autoschläuche zerbeißen, den Füchsen, die Bandwürmer und Tollwuterreger übertragen, und den Igeln, die Zecken verbreiten.

Unter "Ausblicke" bietet der Autor Prognosen zur Zukunft von Restbiotopen und -populationen, konstruktive Thesen zu Stadtentwicklung und Naturschutz mit Aufforderungscharakter und schließlich ("Natur erleben in der Stadt") eigene Naturerlebnisse in München und Umgebung – einen affektiv gefärbten Lesetext von dem und für den Naturliebhaber.

Das Buch endet mit einem Aufruf an Biologielehrkräfte und Naturschützer, sich in den Stadtnatur-Schutz einzubringen und dabei das natürliche Interesse von Kindern und Jugendlichen an der Natur zu nutzen. Die "Ganzkörper-Biologie" sollte sich im Unterricht nicht von den Genen und dem Ablauf der Photosynthese in den Hintergrund drängen lassen.

In allen Texten wird dem Leser die Komplexität ökologischer Beziehungen verdeutlicht. Reichholf wird durchgängig seinem eigenen Anspruch gerecht, den Blick für das Ganze zu wahren. Trotz der hohen Informationsdichte bleiben die Sätze zumeist kurz und stets klar strukturiert. Man muss wirklich kein Fachmann sein, um diesem Buch viel Wissenswertes zu entnehmen.

Je nach Interesse kann der Leser sich für einen der inhaltlich voneinander unabhängigen Aufsätze entscheiden oder – das dürfte bei diesem Werk der Fall sein – gleich die ganze "Stadtnatur" lesen.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2008

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