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Der Mathematische Monatskalender: Thomas Stieltjes (1856–1894): Ein neuer Integralbegriff

Als junger Student schwänzte er Vorlesungen, um in der Bibliothek zu stöbern. Dadurch fiel er durch einige Klausuren und machte keinen Abschluss.
Thomas Stieltjes

Sucht man im Lexikon über berühmte Persönlichkeiten der Niederlande nach dem Mathematiker Thomas Joannes Stieltjes, dann findet man überraschenderweise stattdessen Hinweise auf einen Wasserbauingenieur – dieser schuf in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Bau des Hafens in Feijenoord die Voraussetzungen dafür, dass Rotterdam heute einer der größten Häfen Europas ist. Auch war er viele Jahre als Abgeordneter der Liberalen Mitglied des Parlaments. Er hatte sieben Kinder – und einem seiner drei Söhne gab er genau die Vornamen, die er selbst hatte.

Thomas Joannes Stieltjes junior nimmt 1873 ein Studium an der Polytechnischen Schule in Delft auf, verbringt aber – statt die Vorlesungen zu besuchen – die meiste Zeit in der Bibliothek, um sich insbesondere in die Werke von Carl Friedrich Gauß und Carl Gustav Jacob Jacobi zu vertiefen. 1876 wird sein erster Beitrag veröffentlicht; dieser beschäftigt sich mit der Darstellung von Funktionen mit Hilfe anderer Funktionen. Und trotz dieser für einen Studenten ungewöhnlichen Leistung geschieht es, dass er eine verpflichtende Prüfung nicht besteht – denn er kennt sich mit den Inhalten der betreffenden Vorlesung nicht genügend aus. Als er dann auch in den Folgejahren noch zweimal bei dieser Prüfung scheitert, erkennt der Vater den Ernst der Lage und sucht nach einem Ausweg.

Dabei nutzt er seine vielfältigen Kontakte: Hendricus Gerardus van de Sande Bakhuyzen, Direktor des Observatoriums in Leiden, richtet für den Sohn seines Freundes eine Stelle als »Assistent für astronomische Berechnungen« ein. So kann der junge Mann erst einmal seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten – und das muss er auch, denn der Vater stirbt im darauf folgenden Jahr.

Nach zwei Beiträgen in den Jahren 1878 und 1880 (über Eigenschaften der Gammafunktion und über eine besondere Folge aus Mittelwerten) veröffentlicht Stieltjes 1882 insgesamt zwölf Beiträge in verschiedenen europäischen Fachzeitschriften – zu unterschiedlichen Themen aus Differenzial- und Integralrechnung sowie zur Zahlentheorie. Gauß hatte im Lauf seines Lebens drei verschiedene Beweise des Fundamentalsatzes der Algebra entwickelt (»Jedes nicht-konstante Polynom n-ten Grades besitzt in der Menge der komplexen Zahlen genau n Nullstellen«). Stieltjes präsentiert eine weitere Beweisvariante.

Zu einem der Themen nimmt er Kontakt zu Charles Hermite auf, der in Paris als Professor für Analysis an der École Polytechnique und an der Sorbonne tätig ist. Aus diesem Kontakt entwickelt sich in den kommenden zwölf Jahren (bis zu Stieltjes' frühem Tod) eine lebhafte Korrespondenz – insgesamt umfasst dieser Briefwechsel 432 Briefe. Immer wieder geschieht es in den Folgejahren, dass Hermite Textpassagen aus den Briefen von Stieltjes unmittelbar nach Erhalt zur Veröffentlichung an die Zeitschrift der Académie des Sciences weiterleitet.

1883 wird ein bedeutendes Jahr im Leben von Stieltjes: Ermutigt auch durch seine Verlobte Elizabeth Intveld, die er im Mai heiratet, bittet er van de Sande Bakhuyzen, ihn von astronomischen Beobachtungsaufgaben zu entbinden, damit er sich ganz den mathematischen Fragen widmen kann – der Freund seines Vaters gewährt ihm diese Bitte. Ende des Jahres übernimmt Stieltjes an der Universität in Delft Vorlesungen über Analytische und Darstellende Geometrie in Vertretung für einen erkrankten Dozenten.

Durch positive Rückmeldungen zu seiner Lehrtätigkeit wächst Stieltjes' Selbstvertrauen, und er wagt die nächsten Schritte: Kündigung der Arbeitsstelle am Observatorium und Bewerbung um eine frei gewordene Stelle als Professor für Analysis an der Universität Groningen. Im Rahmen des Besetzungsverfahrens wird er zwar seitens der Universität vorgeschlagen, aber das zuständige Ministerium beruft nicht ihn, sondern den zweitplazierten Bewerber auf die ausgeschriebene Stelle, da Stieltjes keinerlei akademische Abschlüsse vorweisen kann.

Im Mai 1884 nimmt Hermite an den Feierlichkeiten zum 300-jährigen Bestehen der University of Edinburgh teil; dabei nutzt er die Gelegenheit, in Gesprächen auf Stieltjes' unglückliche Situation hinzuweisen. David Bierens de Haan, einflussreicher Mathematikprofessor der Universität Leiden, stellt daraufhin zusammen mit van de Sande Bakhuyzen einen Antrag an den Senat seiner Universität, Stieltjes für seine Verdienste in Mathematik und Astronomie die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Der Senat stimmt dem Antrag zu: Stieltjes soll im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung feierlich die Urkunde ausgehändigt werden. Durch ein Missverständnis erfährt Stieltjes allerdings erst am Tag nach der Veranstaltung von diesem Termin …

1885 zieht Stieltjes mit seiner jungen Familie nach Paris. Dort wird er mit einer Arbeit über das Konvergenzverhalten von speziellen Reihen an der École Supérieure promoviert (Betreuer: Charles Hermite und Gaston Darboux). In der Zwischenzeit hat er bereits über 50 wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht.

Um seine Bewerbungschancen in Frankreich zu verbessern, beantragt Stieltjes die französische Staatsangehörigkeit. 1886 nimmt Stieltjes eine Stelle an der Universität von Toulouse an; ab 1889 wird er dort auf den Lehrstuhl für Differenzial- und Integralrechnung berufen.

Auch in den folgenden Jahren erscheinen zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften; seine Leistungen finden international Anerkennung. Die Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften nimmt ihn als Mitglied auf.

Von 1890 an beschäftigt sich Stieltjes insbesondere mit komplexwertigen Funktionen, die in Form von Kettenbrüchen dargestellt werden können: \[ f(z) = \frac{1}{a_1 z +\frac{1}{a_2 + \frac{1}{a_3 z +\frac{1}{a_4+ \dots}}}}.\]

Bereits für seine ersten Veröffentlichungen zu diesem Thema wird ihm 1892/93 der »Prix Petit d'Ormoy« der Académie des Sciences zugesprochen (spätere Preisträger sind unter anderem Jacques Hadamard und Henri Léon Lebesgue).

1894 erscheint dann der erste, 120 Seiten umfassende Teil seiner Untersuchungen; der zweite Teil erscheint – posthum – im darauf folgenden Jahr.

Im Rahmen dieser Arbeit führt er ein Integral ein, das später nach ihm benannt wird. Während man beim Riemann-Integral Unterteilungen des Integrationsintervalls [a, b] durch a = x0 < x1 < … <xn-1 = b betrachtet, lässt das Stieltjes-Integral fast beliebige Unterteilungen zu, die sich durch eine monoton wachsende Funktion g (= Integrator) beschreiben lassen, das heißt, an Stelle der Riemann-Summe \(\sum_{i=1}^{n} f(\tau_i) \cdot (x_i-x_{i-1}) \) mit Funktionswerten \(f(\tau_i) \) für \(x_{i-1} \leq \tau_i \leq x_i \) untersucht man die Stieltjes-Summe \( \sum_{i=1}^n f(\tau_i) \cdot \left[g(t_i) -g(t_{i-1}) \right]\) für \(t_{i-1} \leq \tau_i \leq t_i.\) Wenn die Integratorfunktion g stetig differenzierbar ist, ist die Methode der partiellen Integration anwendbar und es gilt: \[ \int_a^b f(x) \ dg(x) = f(b) g(b) – f(a) g(a) – \int_a^b g(x) \ df(x). \]

Die Bedeutung der Verallgemeinerung des Integralbegriffs durch Stieltjes wird erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom ungarischen Mathematiker Frigyes Riesz (1880–1956) erkannt und in der Funktionalanalysis angewandt. Eine weitere Verallgemeinerung des Integralbegriffs erfolgt 1902 durch Henri Léon Lebesgue.

Ende 1889 war in Russland eine Grippeepidemie (Asiatische Grippe) ausgebrochen, die sich in den Wintermonaten der folgenden Jahre in mehreren Wellen immer wieder über alle europäischen Länder ausbreitete und wegen der intensiven Schifffahrtsverbindungen auch Todesopfer in Nordamerika fand – insgesamt sterben über eine Million Menschen.

Im Dezember 1894 wird auch Thomas Stieltjes Opfer der Epidemie; zwei Tage nach seinem 38. Geburtstag stirbt er. Nur wenige Tage vor seinem Tod hatte ihn noch die Nachricht erreicht, dass die St. Petersburger Russische Akademie der Wissenschaften ihn zum korrespondierenden Mitglied ernannt hat.

Thomas Stieltjes

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