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Freistetters Formelwelt: Das dunkle Mittelalter war gar nicht so finster

Wenn wir heute etwas rechnen müssen, nutzen wir dazu meistens einen Taschenrechner oder Computer. Und vergessen dabei gerne die lange Geschichte der Mathematik, die das überhaupt erst ermöglichte.
Hände fangen Lichtstrahl auf
Die Mathematik des europäischen Mittelalters mag uns nicht so wichtig erscheinen – aber ohne sie wäre die künftige Entwicklung undenkbar gewesen.

In der Antike haben griechische Gelehrte die Grundlage für unser Verständnis der Welt geschaffen. Dann kam das dunkle Mittelalter und der Einfluss der christlichen Kirche hat jeden Fortschritt gestoppt. Erst mit Beginn der Renaissance schufen Genies wie Kopernikus, Galilei, Kepler oder Newton die moderne Wissenschaft. So oder so ähnlich stellen sich viele Menschen die europäische Wissenschaftsgeschichte immer noch vor – obwohl das natürlich nichts mit der Realität zu tun hat. Auch im Mittelalter gab es in Europa jede Menge kluge Köpfe, ohne deren Arbeit die Forschung von Kepler, Newton und Co nicht möglich gewesen wäre.

Es stimmt allerdings, dass die wissenschaftliche Arbeit in Europa während des Mittelalters nicht so bekannt ist, wie sie es vielleicht sein sollte – was auch daran liegen könnte, dass sie im Vergleich zur modernen Forschung auf den ersten Blick wenig zugänglich ist. Schauen wir uns dazu diese Formel an:

So würde man heute aufschreiben, was der Astronom Georg von Peuerbach im 15. Jahrhundert formuliert hat. Mit H wird die so genannte Mittagshöhe der Sonne bezeichnet, also ihr Höchststand über dem Horizont; h ist die aktuelle Sonnenhöhe zum Zeitpunkt t, und b ist der halbe Tagbogen (also der Teil der scheinbaren Sonnenbahn, der über dem Horizont liegt).

»Ja und?«, möchte man angesichts dieser Formel sagen. »Das ist ein bisschen sphärische Trigonometrie, wieso die Aufregung?« Um zu verstehen, warum die Formel so wichtig ist, dass sie sogar auf einem Epitaph für Peuerbach im Wiener Stephansdom geschrieben steht, muss man sich mit der Zeit beschäftigen, in der er gelebt hat.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Georg von Peuerbach wurde 1423 geboren, feiert also dieses Jahr seinen 600. Geburtstag. Er studierte Mathematik und Astronomie, lehrte an der Universität Wien und beschäftigte sich unter anderem mit dem ptolemäischen System der Planetenbewegung. Er arbeitete an einer Neuübersetzung des Werks, das er auch kommentierte und in Details verbessert hat. Mit seinem Schüler Regiomontanus führte er auch konkrete Messungen durch, zum Beispiel von Mondfinsternissen, um die Theorie an die Beobachtungen anzupassen.

Etliche Zahlenwerte von Winkelfunktionen berechnen

Wenn Peuerbach damals Berechnungen durchführte, war das jedoch ein ganz anderes Vorgehen als das, was wir heute darunter verstehen. Wir können zum Beispiel den Sinus eines Winkels einfach mit dem Taschenrechner ausrechnen. Zu Peuerbachs Zeiten war selbst das Konzept der Winkelfunktionen aber noch vergleichsweise neu – zumindest in Europa. In Indien und der islamischen Welt gab es dieses Wissen schon lange und Forscher wie Peuerbach begannen gerade erst, es von dort zu übernehmen. Die Arbeit von Astronomen und Mathematikern bestand unter anderem darin, zahlreiche Werte der verschiedenen Winkelfunktionen für möglichst viele Winkel zu berechnen. Mit solchen Tafelwerken konnten dann ebenso lange Listen für die Positionen von Planeten zu verschiedenen Zeitpunkten berechnet werden, die dann einerseits der Beobachtung dienten, andererseits Grundlage für die Entwicklung von theoretischen Modellen der Planetenbewegung waren.

Es war unter anderem die Arbeit von Peuerbach, die überhaupt erst gezeigt hat, wie wertvoll Tabellen von Winkelfunktionen für die Astronomie sind; und es war seine Arbeit am ptolemäischen System, auf deren Basis später die kopernikanische Revolution überhaupt stattfinden konnte. Formeln wie die zum Zusammenhang von Mittagshöhe und aktuellem Sonnenstand mögen uns heute simpel erscheinen. Das tun sie aber nur, weil im »dunklen Mittelalter« die Grundlage dafür gelegt wurde. Renaissance und Humanismus sind nicht aus dem Nichts gekommen, sondern von Menschen wie Georg von Peuerbach vorbereitet worden.

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