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Leseprobe »Eine andere Geschichte der Popkultur«: Zuviel Licht

In den 1960er Jahren entwickelte sich die Popkultur aus dem Widerstand gegen die vorherrschenden Gesellschaftsformen und Werte. Dabei setzte sie vielfach auf betont aggressive Ausdrucksformen in der Musik, betont vielfältige Ausdrucksformen des eigenen Körpers und betont ironische Ausdrucksformen in der Kunst. Das alles – und noch viel mehr – hat dazu geführt, dass Pop als zeitgeistiges Phänomen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das gesamte Spektrum der kulturellen Äußerungen erfasst und sich als Lebensgefühl in der westlichen Welt etabliert hat.
Mann macht einen Breakdance Move

Wenn der Mond eine Diskokugel wäre, würden wir ihn nicht sehen. Zu weit entfernt liegt er im Weltraum, um als fragmentierte Oberfläche das Licht der Sonne bis zur Erde zurückzuwerfen. Denn eine Diskokugel besteht nicht allein aus Spiegeln, die das Licht reflektieren, sondern aus Spiegeln, die unterbrochen werden von nicht reflektierenden Rahmen. So hat es auch der Erfinder des 1917 sogenannten Myriad Reflector, Louis Bernard Woeste, in seinem Patentantrag festgehalten:

»Wesentliches Merkmal meiner Erfindung ist die Anordnung von Spiegeln oder reflektierenden Flächen zu einem Polyeder, wobei die genannten Flächen wiederum durch nicht reflektierendes Material voneinander getrennt sind.«

Die polyedrische Form der Diskokugel ist Einheit und Vielzahl zugleich. Sie wird permanent unterbrochen und fortgesetzt, so wie die Bilderreihen der analogen Filmproduktion, wie eine blinkende Lichtreklame oder eine serielle Erzählung.

Leuchtende Kugeln

Die Erfindung der Diskokugel reagierte auf die weitreichende Etablierung der Massenkünste zur Jahrhundertwende. Sie leuchtete an den Orten des Vergnügens, die buchstäblich durch die Elektrifizierung der Großstädte im späten 19. Jahrhundert ermöglicht wurde und die Nacht zum Tage machten. Dennoch kam die große Zeit der Diskokugel erst in den 1920ern und dann vor allem den 1970er Jahren. Patentiert in Cincinnati, Ohio, kurz vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, war blitzendes Licht 1917 nicht unbedingt das, was den Menschen Vergnügen bereitete. Otto Dix, wie so viele deutsche Künstler Freiwilliger bei der Feldartillerie, malte in diesem Jahr sein Bild Leuchtkugeln mit sich krümmenden, makaber tanzenden Skeletten unter blitzenden Kugeln. Für den Literaten Ernst Jünger wiederum stellten dieselben Leuchtkugeln ein ästhetisches Ereignis dar, wie er in seinem Kriegstagebuch In Stahlgewittern im Juni 1916 notierte:

»Ein Feuerwerk von Leuchtkugeln strahlte Mittagshelle auf das mit dichten Rauchschwaden behängte Vorgelände. Diese Augenblicke, in denen die volle Besatzung in höchster Spannung hinter der Brüstung stand, hatten etwas Zauberhaftes; sie erinnerten an jene atemlose Sekunde vor einer entscheidenden Vorführung, während die Musik abbricht und die große Beleuchtung eingeschaltet wird.«

Die ‚große Beleuchtung‘ wurde in den Städten Europas während des Krieges allerdings ausgeknipst: Es herrschte Verdunkelung. Auch die Energieknappheit nach Kriegsende verführte nicht unbedingt zu einem übermäßigen Einsatz von Leuchtmitteln – unabhängig davon, ob dafür noch Gas oder schon elektrischer Strom genutzt wurde. Es ist somit wenig verwunderlich, dass die ersten erhaltenen Werbeanzeigen der Firma Myriad Reflector Company von Louis Woeste und seinem Geschäftspartner William Stephens aus den 1920er Jahren stammen. 1928 etwa bewarb die Firma in einem eigenen Prospekt »Weltweit neuartige Lichteffekte für Ballsäle, Nachtclubs, Tanzpavillons, Eislaufbahnen«. In der Anzeige sind einige der Lokalitäten verzeichnet, die sich diese »besondere Attraktion« bereits angeschafft hatten, darunter so klingende Namen wie »The Light House« und »Cinderella Ball Room«.

Der Krieg mit seinen Leuchtkugeln und Leuchtpistolen, mit Flakscheinwerfern und Signallampen war zu dieser Zeit seit zehn Jahren vorbei. Statt in den Gräben des Ersten Weltkriegs tauchte das Blitzlicht nun in einer zivilisierten Form und an ebensolchen Orten auf. Im Residenz-Casino an der Hasenheide in Berlin zum Bei- spiel: Auf Postkarten ist der Innenraum des »Resi« zu sehen, Damen und Herren unterhalten sich angeregt, während auf der Bühne Wasserspiele aufgeführt werden und eine Diskokugel über allem strahlt.

Es scheint also offensichtlich, warum die Diskokugel zum Populären und zur Popkultur gehört. Sie steht für Glamour und Spektakel, für die Verlockungen der Nacht. Unter ihr versammeln sich die Schönen und Reichen, die Vergnügten und Vergnügungssüchtigen. John Travolta tanzte unter einer Diskokugel und Madonna ritt auf ihr. Doch die Verzögerung zwischen der ersten Popularisierung und der eigentlichen popkulturellen Entdeckung in den 70ern ist erklärungsbedürftig: Die Diskokugel steht für zwei sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Populäre. Ging es der industriellen Moderne der 1920er Jahre um die Etablierung eines gemeinsamen Raumes der Unterhaltung, so stand die Popkultur in den 1970er Jahren unter dem Druck zunehmender Individualisierung des Vergnügens. Zwei Filme, in denen die Diskokugel eine unterschiedlich große Rolle spielt, sollen das verdeutlichen.

Fragmentierte Wahrnehmung

In Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, gedreht zehn Jahre nach der Patentierung des Myriad Reflector, sieht das Publikum nicht nur zum ersten Mal Diskokugeln im Film, es bekommt vor allem einen Einblick in die elementaren Bedingung des Mediums Film: Es sieht gebrochenes Licht, das zu bewegten Bildern wird.

»Der Ursprung der Freude am Film«, so hält es der Kunsthistoriker Erwin Panofsky im Blick auf die 1910er Jahre fest, war »ganz einfach die Freude an etwas, das sich zu bewegen schien, ganz gleich, was es sein musste«.

Weil auch Panofsky die grundlegende Eigenheit des Films bewusst war, dass eine schnelle Abfolge unbewegter Bilder die Illusion von Bewegung produziert, spricht er hier im Konjunktiv. Die sogenannte stroboskopische Bewegung, die in der Wahrnehmungspsychologie auch »Scheinbewegung« heißt, ist eine Leistung des menschlichen Gehirns, die sich der Film genauso wie die Diskokugel oder die Neonreklame zur selben Zeit zu Eigen machen konnte. Mit dieser Bedingung des neuen technischen Massenmediums sah das Publikum auch dessen Effekt: Die visuell rezipierte Wirklichkeit erschien als Illusion, als eine von Apparaten inszenierte, künstlich gesteuerte Wahrnehmung. Verantwortlich dafür sind, nicht zuletzt die Dunkelpausen zwischen zwei aufeinanderfolgenden, sich geringfügig unterscheidenden Bildern. Als »Subjekt ästhetischer Erfahrung«, so Panofsky, ist der Zuschauer deshalb »in ständiger Bewegung, indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig ändert. Ebenso beweglich wie der Zuschauer ist aus demselben Grund der vor ihm erscheinende Raum. Es bewegen sich nicht nur Körper im Raum, der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an«.

Für das statische Vergnügen der Filmrezeption eine ungewöhnliche, aber völlig nachvollziehbare Beschreibung: Im Kinosaal bewegen und entgrenzen sich die Körper.

Die Sinfonie der Großstadt zeigt somit die technischen und wahrnehmungsästhetischen Bedingungen des neuen Massenmediums selbst. In weniger als zehn Sekunden wechselt der Blick etwa von einer Modenschau zu den elektrischen Leitungen einer Straßenbahn, zu einem Löwen im Zoo, zu den Gitterstäben, an denen er entlangläuft, zu kämpfenden Hunden, einem springenden Affen, zu einem Verkehrsschild. Für den Intellektuellen und Kritiker Siegfried Kracauer (1927), der den Film verriss, »reihen sich hier Fetzen aneinander«. Eine Einschätzung, die die Filmprüfstelle Berlin wohl teilte: Sie verweigerte dem Werk den Status als Spielfilm. Damit hatte die Behörde nicht einmal Unrecht. Denn hier wird keine Geschichte erzählt, sondern eine filmische Reflexion auf die Bedingungen großstädtischer Wahrnehmung vorgelegt.

Die Diskokugel, beziehungsweise die zwei Diskokugeln, tauchen am Ende des Films von Walther Ruttmann auf. Da Die Sinfonie einer Großstadt nach dem Tagesablauf komponiert ist, befinden wir uns thematisch im »Tanzrhythmus«, wie es der Komponist des Films, Edmund Meisel, im Erscheinungsjahr formulierte. Eben noch waren Instrumente in schneller Abfolge zu sehen, tanzende Paare in einem Club, ein Orchester und ausschlagende, wippende Beine, dann für eine Sekunde zwei sich drehende, das Licht reflektierende Diskokugeln. Damit ist der Tanz der großstädtischen Vergnügungen beendet und der Film baut seine letzte dramatische Steigerung auf: Knappe drei Minuten später endet er mit einem Feuerwerk und dem Bild des neuen Berliner Funkturms, der seine Strahlen über die dunkle Stadt wirft.

Der Film steht auf zweifache Weise für die »dynamische Gleichförmigkeit« der industriellen Moderne. Auf der inhaltlichen Ebene der Gegenstände und Phänomene zeigt er Dynamik und Vielfalt, er evoziert einen Beschleunigungsrausch, den das berühmte Manifest des Futurismus 1909 von Filippo T. Marinetti wortgewaltig einforderte: »Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.« Auf der formalen Ebene von Schnitt und Montage zeigt der Film dagegen, wie gerade das Unverbundene zu einer auffälligen Gleichförmigkeit des großstädtischen Lebens führt. Immer neu, immer gleich werfen Film und Diskokugeln ihr gebrochenes Licht in den Raum.

Zu viel Licht

Doch die Diskokugel ist kein Film, obschon sie bewegte Bilder produziert. Sie ist noch nicht einmal ein Leuchtmittel. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie in der breit erforschten Kulturgeschichte des Lichts keine Rolle spielt. Ausführliche Materialsammlungen liegen zur Elektrifizierung der großen europäischen Städte vor, Analysen zur Lichtmetaphorik in der klassischen Avantgarde oder praktische Reflexionen zur Geschichte des Filmlichts. In all diesen Werken wird die Entstehung und Bedeutung des künstlichen Lichts im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen – von der Diskokugel keine Spur. Möglicherweise sollte man sie also gar nicht als Teil dieser Geschichte sehen, sondern sie als das Ding betrachten, das sie ist: Sie hängt an der Decke, ist rund, dreht sich und wird angestrahlt.

Die Diskokugel ist ein passives Lichtmedium. Durch sie wird Licht im Raum verteilt, mit jenem stroboskopischen Effekt, der auch bei der optischen Wahrnehmung von Filmen zutage tritt. Die Diskokugel benötigt dafür eine primäre Quelle (ob Schweinwerfer oder andere Lampen), die sie anstrahlt. 1928 wurden diese von Stephens & Woeste noch mitgeliefert:

»Die komplette Ausrüstung besteht aus einer Spiegelkugel mit einem Durchmesser von gut 68 cm, einem kleinen, von einem Universalmotor angetriebenen Mechanismus, der diese Kugel in Rotation versetzt, einer Fernsteuerung (vom Boden aus zugänglich) mit über 200 Geschwindigkeiten und vier Scheinwerfern (komplett mit 500 Watt E.G.-Lampen), die an der Wand befestigt werden können, sowie einem ganzen Satz Farbdias, welche Sie an Ihren Versorgungsleitungen anbringen können.«

Den Geschäftsleuten war durchaus bewusst, dass eine Diskokugel in einem dunklen Raum nutzlos wäre. Wo sie ist, darf kein Mangel an Licht herrschen – im Gegenteil. Tatsächlich wurde um die Jahrhundertwende zum ersten Mal zu viel Licht in Europa produziert. Das Buch der Erfindungen, eine frühe populärwissenschaftliche Enzyklopädie der Technik- und Industriegeschichte, gab seinen Leserinnen im Jahr 1901 einen Überblick, der in Produktionszahlen schwelgte:

»In einem Jahr, zwischen 1897 und 1898, vermehrte sich [die Zahl der Elektrizitätswerke] von 265 auf 375, die Zahl der angeschlossenen Lampen, in Normallampen von 16 Kerzen umgerechnet, von 1 280 000 auf 1 750 000. Gegenwärtig haben 28 deutsche Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern […] sämtlich ein oder mehrere Elektrizitätswerke.«

Elektrizitätswerke und (Glüh-)Lampen waren direkt aufeinander bezogen. Konnten sich Institutionen wie das Theater, die Oper oder das öffentliche Verkehrswesen eigene Generatoren zur Stromerzeugung leisten, so ermöglichten erst die zentralen Elektrizitätswerke die Versorgung privater Haushalte. Allerdings kosteten Glühlampen im Jahr 1880 im Durchschnitt noch 20 Mark. Erst durch den Erwerb der Patente von Thomas Alva Edison durch Emil Rathenau wurde auch in Deutschland eine entsprechende Massenproduktion möglich: »Der Jahresausstoß an Glühlampen überstieg 1891 erstmals eine Millionen.« Um 1905 herum produzierte alleine die AEG, die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft von 1888, in ihren zwei neuen Werkanlagen in Berlin bereits 45 000 Glühlampen am Tag. Nun für den Ladenpreis von 16 Pfennig je Stück.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war künstliches Licht schließlich so günstig geworden, dass man alles damit machen konnte, sogar Kugeln anstrahlen, die von der Decke hinabhingen. Vor allem aber wurde das Zuviel an Licht genutzt, um einen anderen Überfluss noch schöner strahlen zu lassen, denn Late-Night-Shopping braucht Late-Night-Beleuchtung. »Die Dunkelheit lähmt die Kaufkraft des Publikums«, konstatierte AEG-Gründer Emil Rathenau in der hauseigenen AEG-Zeitung. So wurde einfach alles beleuchtet: Schaufenster und Warenhäuser, Kinos und Tankstellen, Verkehrskreuzungen und Boulevards, Hotels und Nachtclubs. In der Ufa- Produktion Asphalt (1929) von Joe May sah man etwa einer Frau dabei zu, wie sie sich in einem hell erleuchteten Schaufenster sitzend, langsam einen Strumpf anzieht – und nahm damit zugleich den Rummel um Nylonstrümpfe zu Beginn der 1940 Jahre vorweg. Im Film drängelten sich die Passanten vor diesem Lichtkäfig der Wareninszenierung.

Verblendung

Das Licht wurde zur neuen Baumeisterin der Städte und löste den traditionellen Raumbegriff auf, wie der Stadtplaner Hugo Häring entsetzt (und in der für das Bauhaus üblichen Kleinschreibung) feststellte:

»es existiert im nachtbild nichts körperhaftes mehr, es existieren keine flächen, keine wände mehr. die licht- quellen selbst erscheinen frei im raum, schwebend. […] also gehört auch die lichtreklame zu den vielen mächten, die die großstädte und ihre architektur auflösen.«

Licht entwickelte sich in den 1920er Jahren zur kommerziellen Beleuchtung, zu einem »technischen Komplizen des Kapitals«. Dadurch wuchs auch das Unbehagen angesichts dieser neuen Formen der Lichtarchitektur, wie Beate Binder die zeitgenössische Kulturkritik zusammenfasste:

»Der Stromkunde war aus dieser Perspektive der Prototyp des oberflächlichen, seelenlosen und vereinzelt lebenden modernen Menschen, der Griff zum Lichtschalter Zeichen der Nervosität und Ruhelosigkeit des neuen Zeitalters.«

Von hier war es nur ein Schritt zum allumfassenden »Verblendungszusammenhang«, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung konstatierten. Schon in den 1920er Jahren zeichnet sich ab, dass die Lichtmetaphorik der Aufklärung damit in ihr Gegenteil verkehrt werden würde: Nicht nur der Film, auch die Lichtreklame und elektrischer Strom generell standen unter dem Verdacht, die Menschen zu täuschen und in mediale Scheinwelten zu entführen.

Lässt sich die Diskokugel in diesen Kulturkampf einordnen, der der Populären Kultur und dem Konsum traditionell Oberflächlichkeit sowie die Förderung von Vereinzelung und Verblendung unterstellt? Glitzernd im Licht der Nacht, stumpf am Tag – an dem auch nicht das Vergnügen, sondern die Arbeit herrscht – lässt sich an der Materialität der Diskokugel erkennen, dass dieses Ding eher dazu gemacht ist, Gegensätze auszutarieren.

Jedes Spiegelplättchen funktioniert nur in seiner Vielzahl, mehrere tausend davon werden bei großen Kugeln in Bändern um einen Korpus gelegt. Es ist also erst die Quantität der Plättchen, die zu einer neuen, hochgradig ästhetischen Qualität führt. Die Diskokugel zeigt sich offensiv als Oberfläche, die kontinuierlich neue und ungewohnte visuelle Erfahrungen möglich macht: Raumgrenzen verschwinden, Hell und Dunkel gleiten ineinander über oder setzen sich scharf voneinander ab, Unbewegtes wird beweglich. Eine solche Materialität produziert keine scheinhafte Verblendung, sie bringt die paradoxen Verhältnisse vielmehr zum Funkeln.

Nicht zuletzt ist die Diskokugel ein Teil des Vergnügens, bewegt zu werden. Dies gilt vor allem für die Menschenmassen zu dieser Zeit, im Film und der Lichtreklame, die auf ähnliche Weise die fragmentierte Wahrnehmung der Großstädter zu einem ästhetischen Ereignis machen. Dass sich der stoffliche Raum auflöst und die Körper sich frei bewegen, das ist eine stroboskopische Erfahrung, die nicht nur die Betrachterin im Kino machte – die ersten Filme wurden aufgrund ihrer zu geringen Bildfolge pro Sekunde noch »The Flicks« genannt – sondern sich auch in den flackernden Lichtreflexen der Diskokugel wiederfinden ließ. Doch anders als im Kinosessel, bewegt sich das Paar, das unter der Diskokugel zu einem Foxtrott tanzt, auch körperlich. Die Scheinbewegung der Filmbilder wird im Ballsaal real. Sich zu bewegen und bewegt zu werden, ist eine Grunderfahrung der industriellen Moderne gewesen, die heute Mobilität genannt wird (oder bildhaft präzise: pendeln). Sie ließ sich kongenial in der Materialität der Diskokugel wiederfinden.

Unter diesem Stern sollst Du tanzen

Während der »Myriad Reflector«, der »Crystal Ball« oder der »Mirror Ball« an ganz verschiedenen Orten des Vergnügens leuchteten, entstand in den 1970er Jahren die Symbiose von Disko und Diskokugel. Disco (hier mit weichem, amerikanischem »c«) bedeutet dabei mehreres: Es ging um den Ort eines hedonistischen, individualisierten Zusammenseins von Tanzenden sowie um den spezifischen Sound einer auf Motown-Traditionen und Funk aufbauenden Musik, die raumgreifender Klangteppich und vorwärtstreibender Beat in einem ist. Für den Musikwissenschaftler Peter Wicke ist Disko eine »Funktionsmusik«, die mit ihren Mitteln dem »Endlos- Kontinuum einer motorisch animierenden, […] phantasie- vollen Entfaltung körperlicher Bewegungen« dient.

Disco umfasst deshalb auch die technologisch-ökonomischen Innovationen, wie etwa die Maxisingle ab 1975, die in großen Räumen nicht nur für eine neue Klangqualität bei hoher Lautstärke sorgte, sondern es auch ermöglichte, die Platte von nun an als Instrument und Werkzeug zu nutzen. »Außerhalb der Clubs spielten die Maxi-Versionen nur selten eine Rolle«, schreibt Wicke. Im »Studio 54«, in der »Paradise Garage« und anderen Orten der vornehmlich Schwarzen, homosexuellen Subkultur dagegen setzte die vom DJ bearbeitete Maxisingle »motorische Effekte frei, die so noch nie isoliert worden waren«. Disco, das ist die temporäre Verschmelzung von Sound und menschlichen Körpern, Materie, Raum und technischen Apparaturen.

Der Film Saturday Night Fever von 1977 ist genau dafür zum popkulturellen Zeichen geworden. Er entstand in dem Jahrzehnt, in dem es in den USA bis zu 15 000 Discos gab und die 1948 gegründete Firma Omega National Products knapp 150 000 Diskokugeln jährlich herstellte. Sieht man den Film daraufhin an, so fällt auf, dass es nicht die eine, zentral über der Tanzfläche angebrachte Diskokugel ist, die den visuellen Eindruck im Club Odyssee 2001 dominiert, in dem Tony und seine Gang ihre Auftritte jenseits der Ordnungsvorstellungen von Elternhaus und Kirche haben – es ist das ästhetische Prinzip Diskokugel: Licht zu brechen und zu vervielfältigen. Die Disco findet ihre zeichenhafte Verdichtung in einer Atmosphäre, in der alles funkelt und sich alles bewegt. Es herrscht eine visuelle Reizüberflutung, eine permanente synästhetische Überforderung: Man ist geflasht.

Genau in diesem Sinne ist die Disko ein paradigmatischer Ort der Popkultur: In ihr produziert sich ein kultureller Raum des Zuviel, ein Ort der Verfügbarkeit von potentiell allem für alle. Während aber das Prinzip Disko in der Clubszene zum Symbol für die Entgrenzung wird, verhandelt Saturday Night Fever die traditionellen Dominanzverhältnisse von Herkunft, Klasse und Geschlechtsidentität (race, class and gender). Hier sind es die postpubertären männlichen Figuren, die ihr Begehren hemmungslos ausleben. In selten expliziter Wortwahl werden blowjobs von Frauen, more money von den Chefs und respect von rivalisierenden Gangs verlangt.

Dieser schrankenlosen Begierde müssen in der Erzählung des Films gesellschaftliche Normen und neue Grenzen entgegengesetzt werden. Konfliktlösend wirkt in diesem Zusammenhang das traditionelle bürgerliche Leistungsprinzip, allerdings in neuem Gewand:

Tony arbeitet am Selbst. Er ist nicht deshalb die Hauptfigur, weil er am besten tanzt, sondern weil er die Arbeit an sich selbst auf neue Weise interpretiert. Im Sinne traditioneller Werte nötigt er den Rest seiner Gang dazu, das Tanzen endlich auch systematisch zu üben – so wie er es tut. Zwischen Übung, Leistung und Erfolg besteht für Tony ein klarer Zusammenhang, den er ebenso klar kommuniziert. »Wenn Du ein bisschen üben würdest, wärst Du genauso gut«, antwortet er nach seinem Auftritt im Club auf das Lob eines Freundes hin. Im Sinne des Soziologen Andreas Reckwitz agiert Tony hier im Praxismodus der industriellen oder klassischen Moderne.

»Innerhalb der beruflichen (oder schulischen) Tätigkeiten werden Subjekte in der klassischen Moderne wiederum nach dem bewertet, was man ihre Leistung nennt […], die sich anhand einer qualitativen Skala […] und damit anhand eines allgemeinen, sachlichen Maßstabes abtragen lassen.«

Gleichzeitig entwickelt die Figur Tony ein neues Selbst, das zwar auch mit Leistung, aber weniger mit den all- gemeinen Maßstäben der klassischen Moderne zu tun hat. Stattdessen bietet die Disco eine Bühne für den singularisierten Selbstentwurf.

»Im Modus der Singularität begibt sich das Soziale in die Situation, etwas oder sich selber vor einem Publikum aufzuführen oder etwas gemeinsam mit anderen füreinander aufzuführen, das dadurch für die Teilnehmer einen kulturellen Wert erhält.«

Singularität meint hier weder Vereinzelung noch Exponiert-Sein. Singularisiert ist das Selbst in dem historischen Moment, in dem etwa ab den 1970er Jahren performative Aufführungssituationen nicht mehr das Merkmal einzelner kreativer Subjekte sind, sondern Teil einer allgemeinen kulturellen Logik werden. Anders formuliert: Erst wenn der kulturelle Anspruch und die ökonomische Notwendigkeit kreativ aufzufallen, auch für den Angestellten in einem Haushaltswarengeschäft in Brooklyn gelten, erfüllt sich die Logik des singularisierten Selbst. Mit Tony beginnt eine Entwicklung, in der Vergnügen nicht nur zu Arbeit wird – das war es schon am Anfang der Geschichte der Populären Kultur –, sondern in der die Aufmerksamkeitsökonomie der Popkultur selbst ein allgemeiner kultureller Wert wird. Ohne diese Verschiebungen wäre die Diskokugel für immer ein »Myriad Reflector« geblieben.

Durch ihre materiellen Eigenschaften schuf die Diskokugel in den 1970er Jahren eine Bühne für die Aufführung des singularisierten Selbst: In den Clubs und Diskos dieser Zeit wurde eingeübt, was heute zur kulturellen Norm geworden ist, dass ich nämlich nur in meiner Besonderheit zur Allgemeinheit gehöre. Instagram ist der momentane Kulminationspunkt dieser Entwicklung: Schaut her, das ist mein Leben. Licht fällt auf mich – ganz normal besonders.

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