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Leseprobe »Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S«: Unaufmerksam, hyperaktiv, impulsiv — Was ist AD(H)S?

Frauen und Mädchen mit AD(H)S erhalten viel seltener eine Diagnose als Männer und Jungen, denn ihre Symptome fallen weniger stark auf: Betroffene Frauen und Mädchen sind weniger hyperaktiv, dafür verträumt, unaufmerksam und vergesslich. Die zu späte oder fehlende Diagnose kann weitreichende Folgen haben: Der Leidensdruck bleibt meist über Jahrzehnte bestehen, schadet ihrem Selbstwertgefühl und zieht Folgeerkrankungen nach sich. Die vier Expertinnen der Freiburger Arbeitsgruppe AD(H)S leisten in diesem Buch wichtige Aufklärungsarbeit für Frauen mit AD(H)S sowie für Eltern betroffener Mädchen. Mit vielen Einblicken aus der Forschung, Fallgeschichten, Reflexionen und Übungen zur Selbsthilfe zeigen sie konkrete Wege auf, wie Betroffene mit ihrer Besonderheit Frieden schließen, ihre vielen Stärken entdecken und gut mit AD(H)S leben können.
Mädchen guckt skeptisch

Die Abkürzungen ADHS oder ADS  – zusammen AD(H)S  – sind weithin bekannt, und wahrscheinlich hast du ganz eigene Assoziationen dazu. Viele Menschen haben dabei ein verzerrtes oder unvollständiges Bild. Für alle, die sich noch nicht so gut auskennen oder ihr Wissen erweitern möchten, gibt es in diesem Kapitel die AD(H)S-Fakten.

Was ist eigentlich »normal«?

Nicht normal, »abnorm« oder andersartig zu sein  – diese Bezeichnungen werden alles andere als positiv bewertet. Für Menschen, die sich nicht zugehörig fühlen, kann es ein inniger Wunsch sein, »einfach nur normal« zu sein. Für jene hingegen, die das Ziel verfolgen, einzigartig und besonders zu sein, sind die Bewertungen»normal« und »durchschnittlich« ein Schlag ins Gesicht. Wir präsentieren zunächst eine wertfreie statistische Definition von Normalität, damit wir anschließend so unaufgeregt wie möglich überunser ohnehin schon kontroverses Thema schreiben können: Aumerksamkeits-, Konzentrations- und Aktivitätsprobleme bei Frau-en und Mädchen. Denjenigen, die es gar nicht erwarten können zu erfahren, was AD(H)S ist, ist es natürlich erlaubt, diesen Teil zu überspringen und später bei Bedarf noch einmal zurückzublättern. Denn jetzt kommt ein wenig Theorie.

Die gaußsche Normalverteilung

Viele natürliche Vorgänge und Messwerte haben eine Auftretens-wahrscheinlichkeit, die sich mit einer Glockenkurve annähernd beschreiben lässt. Vereinfacht werden diese als »normalverteilt« bezeichnet. Man kann sich das so vorstellen, dass viele verschiede-ne Faktoren gleichzeitig auf einen Messwert einwirken, sodass es größere oder kleinere Abweichungen von einem erwarteten Wert gibt. Das gilt für Messwerte wie Körpergröße und Intelligenz, aber beispielsweise auch für die Herstellung von Produkten. So ist ein Brötchen, selbst wenn es sich um einen maschinell hergestellten Backrohling handelt, nicht immer exakt so groß wie geplant, sondern es gibt kleine Abweichungen. Besonders große Abweichungen sind seltener als kleine, sodass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines sehr großen oder eines sehr kleinen Brötchens entsprechend gering ist.

Noch ein Beispiel: Nehmen wir das Talent für schöne Zeichnungen. Die Skala auf der waagerechten Achse reicht von nicht vorhanden bis herausragend gut. Die meisten Menschen, nämlich 96 Pro-zent, befinden sich bei normalverteilten Eigenschaften innerhalb eines Bereichs von zwei Standardabweichungen um den Mittelwert herum – ein statistischer Wert, den wir jetzt ganz bestimmt nicht anfangen auszurechnen. Es gibt aber auch Streuungen nach links und nach rechts darüber hinaus. Ja, es wird immer einsamer in beide Richtungen. Wir haben die zwei Standardabweichungen zur Veranschaulichung in der Abbildung grob eingezeichnet, damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie schlecht Ismene zeichnen kann. Und auch wenn das nicht die politisch oder wissenschaftlich korrekte Bezeichnung sein mag – man kann nachvollziehen, dass sie sich mit so einem ausgeprägten Nicht-Talent nicht ganz »normal« fühlt. Schließlich sind 98 Prozent der Menschheit talentierter als sie. Ähnlich geht es sicherlich Frauen, die extrem groß oder extrem klein sind, besonders große oder besonders kleine Füße haben und so weiter.

Ausreißer innerhalb der Normalverteilung begegnen uns jeden Tag: eine Frau, die kaum größer als 1,40 Meter ist; eine stark über- oder untergewichtige Bekannte; ein Freund, dem kein einziger Hut passt, weil sein Kopf SO groß ist. Wir alle befinden uns in Bezug auf verschiedene Eigenschaften mal weiter rechts, mal weiter links auf der Kurve. Und das ist völlig in Ordnung. Denn extrem ausgeprägte Eigenschaften haben nicht automatisch etwas mit »gesund« oder »krank« zu tun.

Frauen, die kleiner als 1,50 Meter sind, liegen in Deutsch-land und anderen westlichen Ländern mit ihrer Größe außerhalb von zwei Standardabweichungen von der Durchschnittsgröße. Du kannst dir sicher vorstellen, dass eine Körpergröße von unter 1,50 Meter mit Hänseleien in der Kindheit, Schwierigkeiten beim Erreichen hoher Regalfächer und mit psychischen Problemen ver-bunden sein kann. Unter dem Begriff »Kleinwuchs« kann nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, kurz ICD, sogar eine Diagnose gestellt werden. Und doch würden sich zweifellos nicht alle Betroffenen als »krank« bezeichnen.

Für die erfolgreichen Olympiaturnerinnen etwa, die ihre Muskelpakete selten auf mehr als 1,60 Meter und oft auf weniger als 1,50 Meter Körpergröße durch die Welt tragen, ist ihre geringe Höhe von Vorteil. Viele Kunststücke würden ihnen schwerer fallen, wenn sie größer wären. Sie leiden nicht zwangsläufig unter ihrer Körpergröße. Es kommt also immer darauf an, wie man seine Eigenschaften nutzt und ob man eine geeignete Nische für sich findet.

Wie viel Aufmerksamkeit und Konzentration sind »normal«?

Im englischen Sprachgebrauch umfasst der Begriff »attention« sowohl Aufmerksamkeit als auch Konzentration. Im Deutschen werden die Begriffe zwar häufig synonym verwendet, es gibt aber auch Versuche, Aufmerksamkeit und Konzentration voneinander abzugrenzen. Mit sogenannten Konzentrationsverlaufstests kann gemessen werden, wie lange die Aufmerksamkeit einer Versuchsperson aufrechterhalten wird. Diese Tests enthalten Aufgaben, die innerhalb eines festgelegten Zeitintervalls gelöst werden müssen. Werden weniger Aufgaben gelöst oder mehr Fehler gemacht, als es bei einer in Bezug auf Alter und Bildung vergleichbaren Personengruppe der Fall ist, spricht man von einer geringeren Konzentrationsfähigkeit im Vergleich zu dieser Gruppe. Es gibt jedoch keine Messmethode, mit der eindeutig auf eine krankhaft reduzierte Konzentration geschlossen werden kann.

Wir alle unterliegen heutzutage einem gewissen Drang zur Selbstoptimierung. Wir meinen, jede Menge Dinge in kurzer Zeit schaffen zu müssen und das im Idealfall auch noch gleichzeitig. Wir möchten dir deshalb zum Einstieg ein paar Normalitäten zum Thema Konzentration und Aufmerksamkeit verraten:

  • Es ist normal, dass uns manche Themen mehr interessieren als andere  – und dass das Interesse die Konzentration beeinflusst. .
  • Es ist normal, dass eine unruhige Umgebung die Konzentration erschwert. Genau deshalb sind Unterhaltungen in der Bibliothek unerwünscht. .
  • Es ist normal, dass die Aufmerksamkeit bei monotonen Tätigkeiten mit der Zeit nachlässt. Musstest du mal eine Tabelle mit Daten übertragen oder am Fließband arbeiten? Pausen sind dabei unerlässlich, sonst häufen sich die Fehler mit der Zeit. .
  • Es ist normal, dass unsere Aufmerksamkeit sich durch relevante Außenreize ablenken lässt. Zum Glück! Oder willst du weiter konzentriert arbeiten, wenn ein Feuer in der Bibliothek ausgebrochen ist? .
  • Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration kommen bei Gesunden ständig vor, zum Beispiel bei Sorgen, Schlafmangel oder Erschöpfung. .
  • Es ist normal, dass wir nicht alle gleich sind und es uns unterschiedlich schwer- oder leichtfällt, uns auf bestimmte Dinge zu konzentrieren. .
  • Die Fähigkeit zur Konzentration verändert sich im Laufe des Lebens. .
  • Es ist normal, dass wir eine »Tagesform« haben, die variieren kann und unsere Konzentration beeinflusst. .
  • Es ist normal, dass wir uns nach Schlafentzug, Drogenkonsum oder während einer Krankheit schlechter konzentrieren können.
  • Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

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