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Leseprobe »Was wir glauben, wer wir sind«: Was sind Glaubenssätze?

Glaubenssätze beeinflussen, was wir uns zutrauen. Sie bestimmen unseren Blick auf uns selbst, was wir meinen, (nicht) zu können oder tun zu müssen. Aber ist das, was wir über uns glauben, wirklich wahr? In zehn Geschichten aus ihrer Therapiestunde erzählt Psychotherapeutin Nesibe Özdemir, wie es Menschen verändert, wenn sie tief verankerte Überzeugungen erkennen und hinterfragen. Sie hört bei ihren Klient:innen auf die Zwischentöne, das Ungesagte, das Querstehende und entdeckt Glaubenssätze, die jede:r von uns in sich trägt. Fragen, Zusammenfassungen und Tipps am Ende der Kapitel inspirieren dabei zur Selbstreflexion: Welche Überzeugung hält mich gefangen? Was macht mich frei?
Ein kleiner Junge spielt mit einem Papierboot im Wasser

Ein Glaubenssatz ist im Prinzip: ein Satz, den man glaubt – unabhängig davon, ob er wahr ist.

Ein Glaubenssatz ist eine Annahme, eine Überzeugung oder auch eine Lebensregel. Es ist nichts, was wir wissen und mit Fakten belegen können, sondern etwas, was wir glauben und mit Erfahrungen und Interpretationen versuchen zu bestätigen.

Ein Glaubenssatz besteht wiederum aus Annahmen, die eine Person über sich selbst, über andere Menschen und über die Welt hat. Er besteht aus den eigenen Interpretationen und Bewertungen.

Ein Glaubenssatz kann eine »Wenn, dann«-Regel beinhalten (»Wenn ich genug leiste, dann bin ich ein wertvoller Mensch«, »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«), oder auch eine Erlaubnis, Verbote und Einschränkungen umfassen (»Du darfst/musst/kannst nicht …«). Glaubenssätze sind inhaltlich oft stark verallgemeinernd und klingen daher wie absolute Wahrheiten (»Es war schon immer so, dass …«, »Jeder weiß, dass …«, »So ist das eben!«). Das verschafft ihnen eine gewisse Autorität, so dass sie selten hinterfragt werden.

Als mein Patient Herr X. zur vereinbarten Sitzung erschien war es bitterkalt draußen. Und das Thema, was er mitbrachte, sorgte für eine zusätzliche Kälte in ihm.

»Schon als Kind habe ich gelernt, dass ›man niemals weinen darf, wenn man kämpft‹. Das war schon sehr früh mein Leitspruch«, erklärte mir Herr X. mit überzeugter Miene. »Wo haben Sie das gelernt?« fragte ich. »Bei meinem Stiefvater. Er war ein Monster. Er hat mich kritisiert, entwertet, beleidigt und erniedrigt, wo er nur konnte.« Sein Blick war eisern.

»Können Sie mir schildern, was genau geschehen ist?« »Ich erinnere mich beispielsweise an eine bestimmte Situation, in der wir einen Film geschaut haben, der ein trauriges Ende hatte. Ich war so gerührt davon. Ich wollte weinen. Aber ich wollte stark sein. Vor ihm. Ich habe mich so zusammengerissen, nicht zu weinen, und war etwas stolz darauf, so stark bleiben zu können. Dann sagte er zu meiner Mutter: ›Dein Junge heult doch gleich los!‹, und grinste dabei«, erzählte Herr X. und presste dabei seine Zähne und Lippen zusammen, als würde er etwas zurückhalten. Womöglich Tränen? fragte ich mich.

»Und Sie haben dann geweint?«, sprach ich den Gedanken aus. »Ja. Ich musste sofort losweinen. Das letzte bisschen Kraft, was da war, um gegen die Tränen anzukämpfen, erlosch in dieser Sekunde. Das war so demütigend.«

Ich konnte die Scham für wenige Sekunden in seinen Augen sehen – bis sie sich blitzschnell in Wut verwandelte. Gefühle haben Funktionen. Wut aktiviert uns und ist in den meisten Fällen sehr nützlich. Beispielsweise um uns zu schützen, damit wir uns zur Wehr setzen können oder eigene Grenzen verteidigen können. Ich dachte an seinen Leitspruch: »Weine niemals, wenn du kämpfst.«

Die allermeisten von uns würden bei dieser Aussage wohl an einen tatsächlichen Kampf im Sinne einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Feind oder Gegner denken. In seinem Fall war aber die Person, die ihn großziehen sollte, die verantwortlich für ihn war und eigentlich eine Vorbildfunktion und eine beschützende Funktion für ihn haben sollte – nämlich sein Stiefvater –, in der Rolle des Feindes, des Gegners. Jeder Tag mit diesem Mann war ein Kampf. Herr X. war also im Krieg groß geworden. Im Krieg kämpft man. Und im Kampf weint man nicht.

Das hatte er gelernt, das waren seine Annahmen über sich selbst, die Welt und andere Menschen. Und aus diesen und vielen weiteren Annahmen leiteten sich seine Glaubenssätze ab. Und sie machten ihn zu einem sehr erfolgreichen Mann mit einer steilen Karriere. Zu einem Kämpfer und auch einem Retter mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit, der sich gern für die Schwächeren einsetzte.

Spätestens hier wird klar, dass unsere Glaubenssätze nicht im- mer hinderlich sind. Sie entstehen vielleicht aus misslichen Um- ständen, aber sie können ein hervorragender Motor für uns sein, der uns antreibt und erfolgreich macht.

Und doch gibt es Bereiche, in denen Glaubenssätze zur Herausforderung werden können. Während Glaubenssätze wie »Ich muss stark sein« und »Ich darf keine Schwäche zeigen« im Berufsleben sehr förderlich sein können, sorgen sie im Privatleben eher für Probleme. Sie machten ihn also zu einem »Kämpfer« und machten ihn erfolgreich, aber sie nahmen ihm auch etwas.

Da, wo Kampf ist, fehlt Liebe. Und da, wo Krieg ist, fehlt Frieden.

Echte, intime Beziehungen konnte er kaum zulassen, denn sie waren bedrohlich für ihn. Ein Mensch, der den Glaubenssatz »Ich bin nicht liebenswert« verinnerlicht hat, empfindet jede echte, emotionale Nähe und jedes ernsthafte Bindungsangebot als potenziell bedrohlich, denn es könnte die demütigenden Gefühle aktivieren, die mit diesem Glaubenssatz verbunden sind. Dieser Mann ist in einer Familie aufgewachsen, in der verbale und körperliche Gewalt an der Tagesordnung standen. Was assoziiert er also mit Familie? Was verbindet er mit Nähe? Was heißt Bindung für ihn? Wie sicher ist Bindung für ihn? Wenn er auf seine Mutter blickt, sieht er Schwäche. Das verunsichert und macht Angst.

Wenn er auf seinen Stiefvater blickt, sieht er Aggression und Krieg. Das schmerzt und macht wütend.

Wenn die ersten Bindungserfahrungen geprägt von Angst, Verunsicherung, Schmerz und Wut waren, wie kann er sich dann jemals sicher in einer echten Bindung fühlen? Gleichzeitig besteht aber der innere Wunsch nach Nähe und Bindung.

»Schaue ich in das Leben glücklicher Familien, wünsche ich mir ein solches Glück auch für mich«, sagte er einmal Aber er schaut nur von außen, aus der Ferne, aus einer sicheren Distanz. Und Distanz ist das Gegenteil von Nähe und Bindung. Da sind diese Annahmen, tief in ihm, die ihn vor dieser Nähe und da- mit vor der echten Bindung zurückhalten. Denn Bindung braucht Nähe, aber Nähe ist bedrohlich, Nähe kann zum Weinen führen. Und Weinen ist schwach. Das hat er als Kind erfahren: Nähe wird bestraft, während Distanz sicher ist.

Bindung ist ein Kampf. Und im Kampf weint man nicht. Das ist zumindest das, was er bis dahin glaubte.

»Hinter jeder starken Person steht eine Geschichte, die ihr keine Wahl gelassen hat.« Unbekannt

In diesem Buch erzähle ich Geschichten wie diese. Es handelt sich nicht um fiktive Geschichten und doch sind sie nicht immer wahr. Denn sie stecken voller hinderlicher und unwahrer Glaubenssätze.

Sie sind die Art von Geschichten, die ergreifen, faszinieren und bewegen, wenn man sie hört oder liest. Wenn man sie aber lebt, dann sind sie schwer, belastend, kompliziert und hinderlich.

Ich habe mir die Geschichten angehört und gemeinsam mit meinen Patient:innen versucht, den hinderlichen Glaubenssätzen, die in ihren Geschichten stecken, auf die Spur zu kommen, sie zu hinterfragen und damit ihre zukünftige Geschichte zu beeinflussen.

Wir Menschen lieben Geschichten. Wir erzählen sie uns über viele Generationen hinweg. Sie bringen uns zum Nachdenken, zum Schmunzeln oder auch zum Fürchten. Meistens enthalten sie eine bestimmte Botschaft, die an den:die Zuhörer:in gerichtet ist und ihn:sie etwas lehren soll. Damit haben Geschichten natürlich auch eine gewisse Macht, denn sie können das Verhalten von Menschen beeinflussen, ohne dass es diesen unbedingt bewusst sein muss.

Was wir Menschen machen, wenn wir eine als Fantasiegeschichte verpackte Botschaft hören, ist Folgendes: Wir versetzen uns in die Lage der Protagonist:innen der Geschichte und erleben ihre Geschichte mit, indem wir in ihren Schuhen laufen, durch ihre Brille schauen. Wir wissen, dass wir während der gesamten Zeit sicher sind und uns nicht wirklich etwas Bedrohliches zustoßen kann. Aber wir können die Emotionen trotzdem so miterleben, als wären wir direkt beteiligt. Wir lassen uns auf dieses Erlebnis ein, während wir mit einer Tasse Tee gemütlich auf unserer Couch sitzen. Wir können eintauchen in fantastische Welten, in düstere Zeiten und romantische Dramen, ohne viel aufwenden oder riskieren zu müssen.

Daher habe ich selbst auch zu diesem äußerst effektiven Stilmittel gegriffen und erzähle hier anschauliche und echte Geschichten aus meinem Praxisalltag. Aber nicht ohne Grund. Sie sollen etwas vermitteln. Was genau sie erzählen werden, hängt einerseits von der Art ab, wie ich sie erzähle und darstelle, und andererseits von der Wahrnehmung der Leser:innen – also von dir. Einige Geschichten werden wohl etwas mehr bei dir auslösen, während an- dere dich kaum berühren werden.

Es bleibt dir selbst überlassen, in welche Geschichten du eintauchen möchtest und inwieweit sie dich zu deiner eigenen Geschichte und deinen Annahmen führen dürfen.

Übrigens mag es in den dargestellten Dialogen so aussehen, als wäre es ein Gespräch gewesen, nach dem sich dann alles plötzlich gebessert hätte. So war es aber nicht. So ist es übrigens nie. Die Dialoge stellen nur einige Auszüge aus wichtigen Schlüsselmomenten der gesamten Therapie dar.

Psychotherapie ist ein Prozess. Heilung ist ein Prozess. Und vor allem ist das Erkennen, Hinterfragen und Loslassen von Glaubenssätzen ein Prozess, der gerne auch mal ein Leben lang andauern kann – aber nicht muss.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Was wir glauben, wer wir sind ...« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

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