Direkt zum Inhalt

Riemannsche Vermutung: Millennium-Problem bleibt ungelöst

Vor sechs Monaten präsentierte der inzwischen verstorbene Mathematiker Michael Atiyah einen scheinbaren Beweis der riemannschen Vermutung. Leider konnte er damit fast niemanden überzeugen.
Ein Mann steht vor einer riesigen Tafel voller mathematischer Berechnungen

Er galt als einer der wichtigsten Mathematiker seiner Zeit. Dementsprechend groß war die Aufregung, als Sir Michael Francis Atiyah im September 2018 auf dem Heidelberg Laureate Forum verkündete, die berühmte riemannsche Vermutung bewiesen zu haben. Doch schnell wurde klar, dass Atiyahs Arbeit fehlerhaft oder zumindest unvollständig ist. Mittlerweile sind sich Experten sicher: Die riemannsche Vermutung ist nach wie vor ungelöst.

Atiyah ist im Januar 2019 im Alter von 89 Jahren gestorben. Er zählte zu den wenigen Auserwählten, die beide nobelpreisähnlichen Auszeichnungen der Mathematik erhielten: die Fields-Medaille und den Abelpreis. Erstere wird bloß alle vier Jahre an herausragende Wissenschaftler verliehen, die das 40. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Der Abelpreis würdigt dagegen das Lebenswerk bedeutender Forscher.

Atiyah verdiente sich diese Preise durch seine Arbeiten im Bereich der algebraischen Topologie, der Differenzialgeometrie und der theoretischen Physik. Noch im hohen Alter begeisterte er sich für Mathematik: Er nahm an einigen internationalen Konferenzen teil – stets umgeben von einer Traube junger Studenten, mit denen er eifrig diskutierte. Unter Kollegen war der sympathische Mathematiker sehr beliebt.

Die rätselhafte Verteilung der Primzahlen

Zuletzt hatte er sich mit der berühmten riemannschen Vermutung beschäftigt, die Mathematikern seit mehr als 160 Jahren Rätsel aufgibt. Sie besagt, dass eine gewisse Funktion ζ(z), die so genannte Zeta-Funktion, nur für ganz bestimmte Werte z0 gleich null ist. Das mag zunächst nicht sonderlich spannend klingen, jedoch hat diese Vermutung handfeste Folgen: Kennt man all die Werte, für welche die Zeta-Funktion null ist (die so genannten Nullstellen), kann man daraus sehr genau auf die Verteilung der Primzahlen schließen.

Inzwischen hat es die riemannsche Vermutung unter die sieben »Millennium-Probleme« geschafft, die das Clay Mathematics Institute zur Jahrtausendwende benannte. Ein Beweis des 160-jährigen Rätsels wird mit einer Million US-Dollar belohnt. Neben dem wissenschaftlichen Erfolg ist das für viele Personen ein weiterer Anreiz, um sich diesen Problemen zu widmen. In den vergangenen Jahrzehnten erschienen daher etliche Beweisversuche der riemannschen Vermutung – doch bisher ohne Erfolg.

Auch Atiyahs Ansatz konnte die Mathematikergemeinde nicht überzeugen. In einem Vortrag in Heidelberg präsentierte er am 24. September 2018 einen solchen vermeintlichen Beweis, der aus bloß drei Zeilen bestand. Einige seiner Kollegen, darunter Richard Lipton vom Georgia Institute of Technology und Ken Reagon von der University of Buffalo, kommentierten seine Idee als nicht unbedingt schlecht, schließlich habe ein ähnlicher Ansatz im Bereich der komplexen Analysis schon einmal zu Erfolgen geführt. Allerdings habe er einige essenzielle Schritte ausgelassen.

© HLF Heidelberg
Vortrag von Sir Michael Atiyah auf dem HLF 2018

Der Beweis von Atiyah fußt auf einer Funktion T, die er selbst definierte und nach dem britischen Geometer John Todd (1908–1994) benannte. Atiyah setzte die Zeta-Funktion in diese Todd-Funktion ein und führte damit einen Widerspruchsbeweis: Er setzte voraus, dass die Zeta-Funktion eine Nullstelle außerhalb der von Riemann vorhergesagten z0 hätte, und folgerte daraus eine Aussage, die falsch ist, nämlich dass die Zeta-Funktion überall null sei. Weil das Endergebnis nicht stimmt, muss die Voraussetzung falsch sein – somit wäre die riemannsche Vermutung bewiesen.

Unklarheiten im Beweis

Atiyah war dabei auf mehrere komplizierte Eigenschaften der Todd-Funktion angewiesen. Und genau da scheint das Problem zu liegen. Einige der beschriebenen Eigenschaften scheinen nicht ohne Weiteres gleichzeitig erfüllbar zu sein. Zudem scheint es noch eine Ungereimtheit zu geben, die bei vielen erfolglosen Beweisversuchen der riemannschen Vermutung auftaucht: Der Beweis nutzt zu wenige Eigenschaften der Zeta-Funktion aus, daher lässt er sich auf fast alle Funktionen anwenden, die ihr ähneln. Das würde bedeuten, dass all diese Funktionen keine Nullstellen außerhalb der von Riemann vermuteten Werte z0 hätten – was nachweislich nicht stimmt.

Vielleicht lassen sich diese Probleme aus dem Weg räumen, doch bisher ist es niemandem gelungen. Es scheint leider kaum wahrscheinlich, dass Atiyahs Arbeit die Anforderungen des Clay Institute of Mathematics erfüllen kann, um als Lösung eines Millennium-Problems zu gelten. Dafür müsste sie in einem anerkannten Journal veröffentlicht werden, allgemeine Akzeptanz in der weltweiten Mathematiker-Community finden, und es müssen mindestens zwei Jahre vergehen. Das ist alles bisher nicht in Sicht – die riemannsche Vermutung ist somit noch offen.

Manche Mathematiker haben Atiyah für seinen vermeintlichen Beweis kritisiert, manche werben für Verständnis. Auch sollte man wohl nicht außer Acht lassen, dass in der Mathematik selbst gescheiterte Versuche einen Wert haben, da sie anderen Forschern zeigen, welcher Weg sich nicht lohnt. Generell könnte sein Ansatz in Zukunft weitere Mathematiker inspirieren, eine Lösung zu diesem oder jenem Problem zu finden.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.