Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis: Ausgezeichnet: Springende Blicke und erlahmendes Denken
Erfassen die Augen bei der Lektüre dieses Satzes ein Wort nach dem anderen oder mehrere gleichzeitig? Eine Frage, die sich durch Selbstbeobachtung kaum entscheiden lässt. Deshalb hat der Psychologe Reinhold Kliegl von der Universität Potsdam Computermodelle entwickelt, die den Ablauf der schnellen Augenbewegungen (Sakkaden) beim Lesen simulieren – in guter Übereinstimmung mit seinen experimentellen Befunden. Alles deutet darauf hin, dass tatsächlich mehrere Wörter auf einmal beim Lesen erfasst werden. Dabei können Aufmerksamkeits- und Blickrichtung durchaus verschieden sein. Aus diesen Ergebnissen erhofft sich Kliegl auch neue Erkenntnisse über die Ursachen von Leseschwächen.
Reinhold Kliegl (49) ist einer der zwölf diesjährigen Leibniz-Preisträger. Mit 1,55 Millionen Euro für experimentell bzw. die Hälfte für theoretisch ausgerichtete Forscher ist der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehene Preis der höchstdotierte deutsche Förderpreis. Die Preisgelder sind zweckgebunden als Forschungsmittel einzusetzen, um so die Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftler zu verbessern.
Nach dem Vordiplom in Regensburg studierte Kliegl bis zu seiner Promotion 1982 in Boulder (Colorado). Anschließend war er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, seit 1994 ist er Professor für Psychologie an der Universität Potsdam. In seinen Forschungen arbeitet er intensiv mit Physikern, Informatikern und Linguisten zusammen. Er befasst sich unter anderem mit den zentralen Funktionen unseres Arbeitsgedächtnisses, etwa beim Kopfrechnen oder bei der Sprachverarbeitung.
In seinem zweiten großen Forschungsschwerpunkt befasst sich Kliegl mit dem Einfluss des Alters auf die kognitiven Fähigkeiten. Dabei gelang es ihm, die maßgeblichen kognitiven Prozesse zu identifizieren und deren Veränderung mit zunehmenden Alter messbar zu machen: Der Zugriff auf so genanntes überlerntes Wissen (etwa Wortbedeutungen oder der eigene Name) erfolgt demnach bei alten Menschen ebenso rasch wie bei jungen. Bei komplexen Kopfrechenaufgaben benötigen ältere Menschen dagegen im Vergleich zu jüngeren das Drei- bis Vierfache an Zeit. Bestimmte kognitive Fähigkeiten lassen sich bei alten Menschen jedoch, wie Kliegl demonstrieren konnte, durch ein gezieltes Training deutlich verbessern. Nicht alles muss demnach im Alter langsamer und schlechter funktionieren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2002, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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