Direkt zum Inhalt

Biologie der Polarmeere. Erlebnisse und Ergebnisse

Gustav Fischer, Jena 1995.
368 Seiten, DM 58,-.

In seiner Aufmachung und mit dem eigenwilligen, nahezu quadratischen Format wirkt das Buch zunächst wie ein coffee-table book, also eigentlich nicht zum ernsthaften Lesen gedacht. Daß Tier- und Pflanzenarten zwar mit ihren wissenschaftlichen Bezeichnungen, aber ohne den hinzugesetzten Namen des Erstbeschreibers genannt werden, könnte diesen Eindruck verstärken. Doch schon der erste Abschnitt über die Ozeanographie und Klimakunde der Polarmeere zeigt, daß es sich keineswegs um eine bloße Beschreibung der dort lebenden Organismen handelt. Es ist ein Sammelband mit 36 Beiträgen von 43 Meereswissenschaftlern; Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der 1989 selber an einer Polarfahrt teilnahm, hat das Vorwort beigesteuert.

Die zahlreichen Photos, Karten und Graphiken sind mit hoher Qualität wiedergegeben. Die Gliederung in die Kapitel "Rahmen" (abiotische Faktoren), "Eisgemeinschaften" (ein neuentdeckter Lebensraum im Eislückensystem), "Phytoplankton", "Copepoden" (Zooplankton), "Krill, Fisch und Tintenfisch", "Benthos" (Meeresboden) und "Warmblüter" zeigt einen klaren, lehrbuchartigen Aufbau – und das, obgleich Irmtraut Hempel, Polarökologin an der Universität Kiel, die Themenauswahl mit einem bunten Sommerblumenstrauß vergleicht.

Das erste Kapitel stellt unter anderem dar, wie die Gestalt der Kontinente, die Eisbedeckung, der Salzgehalt des Meeres und die vorherrschenden Windrichtungen die globalen Meereströmungen beeinflussen. Diese waren und sind von entscheidender Bedeutung für das Klima der ganzen Erde, indem sie Niederschlagsmengen bestimmen und Temperaturunterschiede ausgleichen. Zudem fördert und verteilt diese durch Differenzen in Salzgehalt und Temperatur getriebene ozeanische Pumpe Nährstoffe und Sedimente bis in die Äquatorialregionen (Spektrum der Wissenschaft, April 1989, Seite 92).

Wie die meisten biologischen Systeme der Antarktis gab die Primärproduktion den Wissenschaftlern neue Rätsel zu lösen. Durch die fast ganzjährige Eisbedeckung und die geringe Sonneneinstrahlung wegen der hohen geographischen Breite ist Photosynthese nur zwei bis drei Monate im Jahr möglich. Es war deshalb eine Überraschung, als man auf der Unterseite des Meereises eine mehrere Zentimeter dicke braune Schicht aus Tröpfchen von Salzlauge fand; sie sind gefüllt mit Kieselalgen und anderen Einzellern, die hier nicht nur überleben, sondern sogar Photosynthese betreiben. Die gefangenen Bewohner werden jährlich bei der Eisschmelze freigesetzt, lange bevor die Planktonproduktion im freien Wasser beginnt, und helfen dadurch dem übrigen Plankton sowie den schwimmenden und den bodenbewohnenden Meerestieren über die Zeit knapper Nahrung hinweg. Der antarktische Krill ernährt sich im Winter sogar direkt durch Benagen des Eises. Der deutsche Naturforscher und Protozoologe Christian Gottfried Ehrenberg (1795 bis 1876) hatte schon vor mehr als 100 Jahren eine ähnliche Lebensgemeinschaft im arktischen Packeis studiert. Ausführlich gehen mehrere Autoren auf die sommerliche Produktivität des polaren Planktons, dessen besondere Physiologie, Kälte- und Salinitätstoleranz sowie auf die Herkunft der Nährstoffe ein.

Viele kommerzielle Hoffnungen hatte man auf den Fang und die Verwertung des antarktischen Krills für die Feinschmecker aller Nationen gesetzt. Neuere, in mehreren Beiträgen des Buches beschriebene Untersuchungen zeigen, daß diese planktischen Garnelen wesentlich langlebiger und erheblich weniger produktiv sind als ihre arktischen Verwandten. Ihre kommerzielle Nutzung sowie die einiger planktischer Fische würde sehr bald die Pinguine und die verschiedenen Meeressäuger dezimieren, weil sie sich damit ihr Fettdepot für den langen antarktischen Winter anfressen.

Das Kapitel "Benthos" berichtet ebenfalls von der Korrektur einer Hypothese. Ursprünglich glaubte man, daß der Meeresboden wegen der geringen Planktonproduktion nur schwach besiedelt sein könne. Mit eisbrechenden Forschungsschiffen fand man jedoch, daß das Benthos vor allem in der Nähe der Gletschereiskante besonders arten- und individuenreich ist. Das ist mit der geringen Nährstoffzufuhr nur vereinbar, wenn die Einzelindividuen langlebig, genügsam und wenig vermehrungsfreudig sind. So ist intensive Brutpflege bei geringer Nachkommenzahl für die kalten Meere charakteristisch.

Seit mehr als 20 Millionen Jahren sind die Bodenwassertemperaturen der Antarktis auf dem heutigen niedrigen Niveau stabil. Dadurch sind dort die meisten zehnfüßigen Krebsarten, zu denen die häufigsten Krebse nördlicher Meere zählen, ausgestorben. Die Lücke füllten zahlreiche Arten von Asseln und Flohkrebsen mit Riesenwuchs, die zudem teilweise auf sonst ungewöhnliche Nahrungsobjekte spezialisiert sind. Für solche Phänomene der Evolution scheint das Südpolarmeer Modellcharakter zu haben.

Der letzte Abschnitt über Warmblüter enthält einen Beitrag über die Tauchphysiologie und die Stoffwechselbedürfnisse von Pinguinen sowie einen über ihre für Vögel einzigartige Technik des Unterwasserfluges; ein dritter beschreibt die Ökologie und Artbildung der Skuas, Raubmöwen, die in der Antarktis eine spezielle Nische gefunden haben. Erstaunlich sind die Tieftauchleistungen der Weddellrobben.

Abgeschlossen wird der Band mit einer Übersicht des Walfanges in beiden Polarmeeren sowie einer Zusammenfassung von Herausgeber Gotthilf Hempel, der lange Zeit das Alfred-Wegener-Institutes für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven geleitet hat.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1996, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.