Direkt zum Inhalt

Editorial: Wo wollen Sie leben?

Christiane Gelitz

Heidelberg, unser Redaktionssitz, ist ein nettes Städtchen. Die Menschen sind freundlich, zuvorkommend und behalten auch nach ein paar Gläsern Wein stets die Contenance. Mir kommt das selbst nach fast zehn Jahren als Berufsheidelbergerin immer noch unnatürlich vor. Denn in meiner Heimat Darmstadt gehört ein schnoddriger Ton ebenso zum Kulturgut wie das Bier aus der Flasche. Den örtlichen Fußballverein SV98 kennt man inzwischen bundesligaweit für sein rustikales Spiel. Kapitän Aytaç Sulu allerdings, besonders hart im Nehmen, ist gebürtiger Heidelberger. Offenbar steckt der Charakter nicht im lokalen Genpool, sondern überträgt sich im täglichen Miteinander.

"Wenn man in eine Stadt zieht, muss man lernen, wie sie ›tickt‹", sagt die Soziologin Martina Löw, die zehn Jahre in Darmstadt an der Technischen Universität forschte. Im Interview zum Titelthema (ab S. 22) bezeichnet sie die charakteristischen Handlungs­muster einer Stadt als "Eigenlogik". In ihrer neuen Heimat Berlin, wo sie einen Lehrstuhl für Architekturpsychologie innehat, wollten die Bewohner von einem gemeinsamen Nenner jedoch nichts wissen. Typisch berlinerisch, meint Löw.

Eines aber verbindet alle Großstädter: Sie erkranken eher an Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie als Landbewohner. Wie wir den Umweltstress mindern können, erläutert die Biologin und Journalistin Judith Rauch ab S. 12 im ersten Teil unseres Titelthemas. Offenbar reagiert das Angstzentrum im Gehirn umso sensibler, je mehr Menschen mit uns auf engstem Raum wohnen. Das Stadtleben sei unnatürlich, so der britische Anthropologe Robin Dunbar im Interview. Er empfiehlt Viertel, in denen man "wie in alten Tagen auf den Stufen vor der Tür sitzen und mit den Nachbarn reden kann".

Womöglich jedoch gilt das nicht für alle Gesellschaften gleichermaßen: So legen wir hier zu Lande mehr Wert auf Autonomie als Menschen in Ostasien. Wie sehr wir uns von kulturellen Werten prägen lassen, hängt wiederum von den Genen ab. Dieselben Erbanlagen können deshalb unterschiedliche Charaktere hervorbringen, zeigt der Beitrag über das junge Fachgebiet der kulturellen Neurowissenschaften ab S. 58.

Noch jünger ist die Brainbow-Technik, eine Methode, mit der Hirnforscher nicht nur neuronale Netze, sondern auch deren Entwicklung kartieren können. Welche Neurone aus welchen hervorgegangen sind, lässt sich so anhand der Färbung von Nervenzellen nachvollziehen. Eine Galerie der schönsten neuronalen Stammbäume finden Sie ab S. 48. Und während Sie darin blättern, setzen Sie sich doch einfach mal vors Haus.

Mit herzlichem Gruß landauf, landab
Christiane Gelitz

Kennen Sie schon …

Spektrum der Wissenschaft – Präzision statt Zufall – Genomeditierung revolutioniert Pflanzenzucht

Seit der Mensch Pflanzen anbaut, versucht er auch, Erträge und/oder Widerstandskraft durch Zucht gezielt zu optimieren. Was zunächst als simple Auslese begann, hat sich unter anderem dank der Fortschritte in der Molekularbiologie längst deutlich erweitert. Doch Methoden, bei denen ins Erbgut der Gewächse eingegriffen wird, wecken bei vielen Menschen Bedenken und stellen auch die Gesetzgebung vor Herausforderungen. Wie präzise die neueren Verfahren sind und welche Regelungen derzeit gelten oder diskutiert werden, erfahren Sie in unserem Titelthema. Weitere Themen: Im Notfall kann die Wasserversorgung schnell an ihre Grenzen kommen – eine große Aufgabe für den Katastrophenschutz. Was können Klimaforschende aus historischen Daten zur Weinqualität in Europa über die Vergangenheit lernen, und warum schmeckt alkoholfreier Wein so anders als solcher mit Alkohol? Außerdem gehen wir der Frage nach, was Fischschwärme, Hirnströme und Supraleitung gemeinsam haben und wie Emergenz diese Komplexität erklären könnte.

Spektrum - Die Woche – Die geothermische Revolution hat begonnen

Unter unseren Füßen brodelt eine Energiequelle unfassbaren Ausmaßes: das heiße Erdinnere. Erfahren Sie in »Spektrum - Die Woche«, wie sich das geotechnische Wissen und die Verfahren weiterentwickelt haben und wie Strategien aus der Fossilindustrie zu klimafreundlicher Geothermie beitragen können.

Spektrum - Die Woche – Eine Pipeline quer durch die Artenvielfalt

In einigen der artenreichsten Naturräumen Ostafrikas entsteht eine 1445 km lange Öl-Pipeline. Der daran geknüpfte erhoffte Wohlstand ist ungewiss, der gigantische Umweltschaden jedoch ohne Zweifel. Wie es dazu kam, lesen Sie in der aktuellen »Woche«. Außerdem: die Debatte um KI als öffentliches Gut.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.