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Ein Computer-Dummy zur Simulation physikalischer Phänomene im menschlichen Körper



Das Verhalten des menschlichen Organismus unter äußeren Einflüssen wie Wärmestrahlung oder elektrischen und magnetischen Feldern ist häufig nur beschränkt zu ermitteln; vielfach sind direkte Messungen technisch kaum möglich, zu aufwendig oder ethisch unzulässig. Gleiches gilt für das Bestimmen von physikalischen Größen der Körperstrukturen selbst.

Ergänzend oder alternativ sucht man diese Phänomene deshalb mit Computern zu simulieren. Dazu sind aber Modelle erforderlich, welche die Gewebeverteilung im Innern sehr gut nachbilden. Sie werden um Beschreibungen gewebespezifischer Eigenschaften wie elektrische und thermische Leitfähigkeit oder Elastizität erweitert.

MEET Man

Unter der Bezeichnung MEET Man (|models for simulation of electromagnetic, elastomechanic and thermic behaviour of man|) entwickelt unser Institut realitätsnahe dreidimensionale Modelle, die auf dem Visible-Man-Datensatz der amerikanischen Nationalbibliothek für Medizin in Bethesda (|Maryland|) basieren. Er enthält Magnetresonanz- (|NMR|) sowie Röntgen-Computertomogramme (|CT|) und Dünnschicht-Farbphotographien des Leichnams eines 38-jährigen Mannes, der wegen Mordes mittels Giftinjektion hingerichtet worden war; testamentarisch hatte er seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.

Mit beiden Schnittbildverfahren hatte man innerhalb weniger Stunden nach der Konservierung des Leichnams erste Aufnahmen gemacht. Anschließend war der Körper mit selbsthärtendem Schaum fixiert und 70 Tage lang bei minus sieben Grad Celsius gelagert worden. Danach folgten weitere CT-Aufnahmen. Schließlich zerlegte man den gefrorenen Leichnam in vier Blöcke, von welchen ein eigens entwickeltes Gerät – Kryomakroton genannt – ein Millimeter dicke Schichten abfräste; die freigelegten Bereiche wurden photographiert (|Bild 1|).

Die Modellierung

Um die Qualität der Bilder zu verbessern und daraus einen Volumendatensatz zu gewinnen, haben wir diverse Verfahren der digitalen Bildverarbeitung eingesetzt. Fehlende oder nicht brauchbare Schichtaufnahmen wurden durch Interpolation ergänzt oder ersetzt. Der vorverarbeitete Datensatz besteht aus würfelförmigen, als Voxel bezeichneten Volumenelementen. Ihnen sind gemäß den Farbaufnahmen Rot-, Grün- und Blauwerte zugeordnet; des weiteren wurden ihnen Merkmale wie die Gewebedichte assoziiert, die wir direkt aus den Tomogrammen oder mittels Verfahren der Mustererkennung abgeleitet hatten.

Die Daten wurden sodann segmentiert, also in Regionen unterschiedlicher Gewebearten gegliedert (|siehe auch Spektrum der Wissenschaft, "Medizinische Bildverarbeitung", Juni 1997, Seite 102|). Dabei sind nicht nur die Charakteristika jeweils eines einzelnen Voxels, sondern auch seine Umgebung – die Textur – zu berücksichtigen. Wegen des extrem großen Datenvolumens mußten wir die benötigten Software-Werkzeuge selbst entwickeln. Angewendet haben wir mehrere Methoden. Das Schwellwertverfahren zum Beispiel ordnet ein Voxel dann einer bestimmten Region zu, wenn die Werte seiner Merkmale in einem vorgegebenen Bereich liegen. Das Regionenwachstumsverfahren geht hingegen von einem Saatpunkt aus, untersucht umliegende Voxel, dann entsprechend weitere, und faßt sie so nach und nach anhand ihrer Merkmale zu kohärenten Bereichen zusammen.

Im letzten Arbeitsschritt wurden die Segmente klassifiziert, indem wir jedem der unterscheidbaren Bereiche von Voxeln eine von 40 Gewebearten zuordneten, unter anderen Haut, Fett, Muskel, Knorpel, Knochen, Knochenmark, Blut, weiße und graue Hirnsubstanz sowie Organe wie Lunge, Leber und Niere. Gemeinsam mit Anatomie-Experten verglichen wir die Ergebnisse schließlich mit den CT-Aufnahmen und Dünnschicht-Farbphotographien sowie mit anatomischen Atlanten. Der auf diese Weise validierte MEET-Man-Datensatz ist ein anatomisches Modell aus rund 400 Millionen Voxeln von jeweils einem Millimeter Kantenlänge (|Bild 3|).

Physikalische Prozesse in den Geweben kann man häufig mathematisch modellieren und die dabei aufgestellten Gleichungssysteme numerisch lösen. Übliche Verfahren sind die Finite-Elemente-, die Finite-Differenzen- und die Boundary-Elemente-Methode sowie die Finite Integrationstechnik. Dazu muß das hochaufgelöste, in würfelförmige Voxel gegliederte anatomische Modell in für die jeweilige Berechnung besser geeignete Netze etwa aus Tetraedern oder Hexaedern beziehungsweise – sofern nur Oberflächen interessieren – in solche aus Dreiecken und Vierecken umgewandelt werden.

Die komplexe Geometrie des Objekts stellt dabei hohe Ansprüche. Wir haben einen Netzgenerator entwickelt, der aus dem ursprünglichen Datensatz automatisch irreguläre Tetraeder erzeugt, die in Form und Größe den anatomischen Gegebenheiten angepaßt sind. Je nach Zweck kann man eine feinere oder geringere Auflösung wählen; selbst wenn die Zahl der Elemente stark reduziert ist, bildet ein solches Netz die Körperstrukturen noch hinreichend genau nach.

Analyse von Elektrokardiogrammen

Die Erregung des Herzens spiegelt sich im Elektrokardiogramm (|EKG|) wider, der Aufzeichnung seiner Aktionspotentiale, die von der Körperoberfläche oder diesem Organ selbst abgeleitet werden. Veränderungen von Rhythmus und Frequenz des Herzschlags sowie Störungen von Bildung, Ausbreitung und Rückbildung der Erregung sind diagnostisch wichtige Anzeichen. Wie sich dabei verschiedene Herzerkrankungen auswirken oder wo beispielsweise ein Infarkt zu lokalisieren ist, das läßt sich mit unserem Computer-Dummy analysieren. Bei der Simulation gilt es insbesondere, die Verteilung des elektrischen Potentials im Körper zu berechnen.

Das dafür mit dem Finite-Differenzen-Verfahren generierte Modell besteht aus rund 20 Millionen würfelförmigen Elementen von jeweils zwei Millimetern Kantenlänge. Je nach Gewebeart wurde jedem Voxel eine bestimmte elektrische Leitfähigkeit zugeordnet. Die Erregung des Herzens haben wir mit entsprechend plazierten Stromquellen nachgebildet. Des weiteren wurde ein Finite-Elemente-Modell aus lediglich 340||000 Tetraedern erstellt; in diesem Falle simulierten wir die Erregung mit einer Potentialverteilung auf der Herzoberfläche (|Bild 2|).

Krankhafte Veränderungen lassen sich nun durch charakteristische Variationen der Leitfähigkeiten und Ausbreitungs-geschwindigkeiten des Erregungsvorgangs nachbilden. Dann ist zu verfolgen, wie sie sich auf die berechnete Potentialverteilung und damit auf das EKG auswirken.

Untersuchung von Handy-Antennen

Im Technologiezentrum der Deutschen Telekom in Darmstadt wird der Oberkörper- beziehungsweise Kopfbereich des MEET-Man-Datensatzes verwendet, um das Eindringen der von Handys erzeugten elektromagnetischen Felder in menschliches Gewebe zu untersuchen. Zur Berechnung der Antennenfelder müssen die zeitabhängigen Maxwell-Gleichungen gelöst werden. Dazu eignete sich das an der Technischen Hochschule Darmstadt entwickelte Software-Paket MAFIA, das auf der Finiten Integrationstechnik aufbaut: Kopf, Handy und nähere Umgebung wurden in kleine quaderförmige Elemente zerlegt und ihnen elektrische Eigenschaften je nach Material beziehungsweise Gewebeart zugeordnet.

Die Einstrahlung läßt sich durch die spezifische Absorptionsrate (|SAR|) – die vom Körper aufgenommene Leistung pro Masseneinheit – quantifizieren. Bei der Simulation mit einem typischen D-Netz-Handapparat, der bei einer Frequenz von 900 Megahertz (|Millionen Hertz|) sendet, drang das elektromagnetische Feld nicht sehr tief ein. Die höchsten SAR-Werte traten an der Hautoberfläche in Antennennähe und im äußeren Gehirn- beziehungsweise Muskelbereich auf; in den weniger elektrisch leitfähigen Fett- und Knochenschichten dazwischen ergab sich eine entsprechend niedrigere Absorption (|Bild 4|).

Mit solchen Simulationen läßt sich prüfen, ob Handy-Antennen die geltenden Normen zum Personenschutz einhalten. Außerdem ergab ein Vergleich verschiedener Antennentypen, daß durch geschickte Konstruktion zum einen die Absorption im Kopf des Handy-Nutzers erheblich zu vermindern ist, so daß die zulässigen Grenzwerte weit unterboten werden, und daß dadurch zum anderen auch die Übertragungseigenschaften der mit dem Kopf wechselwirkenden Antenne wesentlich verbessert werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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