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Elektroviskose Flüssigkeiten

Bestimmte Suspensionen werden augenblicklich fest, wenn sie einem elektrischen Feld ausgesetzt sind. Solche verwandlungsfähigen Substanzen könnten reaktionsschnelle Maschinen und Bauteile mit ungeahnten Fähigkeiten ermöglichen.

Der T-1000 – ein fast unzerstörbarer Roboter, der im Film „Terminator 2“ sein Debüt hatte – vermag sich blitzschnell vom flüssigen in den festen Zustand umzuwandeln (Bild 6). Von einer Kugel durchbohrt, verschließt die flüssigmetallene Haut des technischen Ungeheuers das Loch sofort; in kleine Stücke zerfetzt, schmilzt der T-1000 und nimmt wieder seine ursprüngliche Gestalt an.

Was den Filmemachern vorschwebte, ist keine reine Utopie: Elektroviskose Flüssigkeiten verhalten sich ähnlich anpassungsfähig.

Eine derartige Substanz ändert ihre Zustandsform unter dem Einfluß eines elektrischen Feldes. Je nach dessen Stärke fließt sie so leicht dahin wie Wasser, ist zähflüssig wie Honig oder fest wie Gelatine. Der Übergang in einen anderen Zustand kann dabei innerhalb weniger tausendstel Sekunden stattfinden.

Elektroviskose Flüssigkeiten sind leicht herzustellen; sie bestehen aus mikroskopisch kleinen Partikeln, die in einer nichtleitenden Flüssigkeit fein verteilt sind, also eine Suspension bilden. Vorerst lassen sie sich in der Regel nicht direkt kommerziell einsetzen, da sie noch eine Reihe von Mängeln aufweisen. So sind sie als Festkörper nicht ausreichend mechanisch stabil, wirken als Flüssigkeit wie ein Schleifmittel und zersetzen sich leicht, insbesondere bei höheren Temperaturen.

Kürzlich ist es jedoch gelungen, Suspensionen mit weniger scheuernden Bestandteilen herzustellen, die auch chemisch stabiler sind. Die geringe mechanische Festigkeit ist freilich nach wie vor ein großes Problem. Wenn man praktisch nutzbare elektroviskose Flüssigkeiten entwickeln will, muß man zunächst die speziellen elektrischen Wechselwirkungen zwischen suspendierten Teilchen, die widerstandsfähige Festkörper bilden können, verstehen lernen.

Ebenso faszinierend wie die physikalischen Eigenschaften ist die Komplexität elektroviskoser Flüssigkeiten. Die Partikeln organisieren sich von selbst in einer Vielzahl komplizierter Strukturen. So bewegen sie sich im dünnflüssigen Zustand der Suspension völlig unabhängig voneinander, während sie sich im anderen Extremfall, wenn die Flüssigkeit fest wird, zu dünnen Ketten und dicken Säulen zusammenlagern, die man mit bloßem Auge erkennen kann (Bild 5).

Beim Studium elektroviskoser Flüssigkeiten untersucht man also das Verhalten von Materie irgendwo zwischen typischen Aggregatzuständen, abseits der herkömmlichen Fluiddynamik und Festkörperphysik. In jüngster Zeit hat die Forschung viele neue Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen den Partikeln bei solch ungewöhnlichen Reaktionen erbracht. Die Erwartung ist, daß sie zur Entwicklung praxistauglicherer Stoffgemische beitragen.

Mögliche Anwendungen

Die Forschung begann sich bereits um 1947 für den elektroviskosen Effekt zu interessieren, als Willis M. Winslow nach etwa acht Jahre währenden Untersuchungen das erste Patent an einer solchen Flüssigkeit erwarb. Man stellte bald fest, daß etwa eine einfache Suspension von Maisstärke in Maisöl eine gut reagierende Flüssigkeit ergab.

Dieses notfalls eßbare Gemisch, das sich in jedem Haushalt herstellen läßt, ändert seine Eigenschaften, wenn man es einem starken elektrischen Feld von etwa 1000 Volt pro Millimeter aussetzt. Der Effekt läßt sich beispielsweise demonstrieren, indem man die Suspension zwischen zwei im Abstand von einem Millimeter aufgestellte Metallplatten füllt und an diese die Spannung anlegt. Der Wert von 1000 Volt scheint vielleicht hoch; aber die erforderliche Leistung ist in Wirklichkeit gering, denn die Flüssigkeit ist ein Isolator, und es fließt nur ein geringer Strom. Die Metallplatten lassen sich mithin schnell auf eine hohe elektrische Spannung bringen – ähnlich der menschlichen Haut, die sich statisch auf einige tausend Volt aufladen kann.

Winslows patentierte Flüssigkeit war nicht nur eine aufregende Entdeckung, sondern schien auch ein breites Anwendungspotential zu haben. So dachten beispielsweise Kraftfahrzeugingenieure an eine neuartige Kupplung: Wäre das elektroviskose Medium im flüssigen Zustand, könnte der Motor frei im Leerlauf drehen, während nach seiner Verfestigung die Antriebskraft auf das Getriebe und damit auf die Räder übertragen würde. Eine solche Kupplung hätte nur wenige Verschleißteile, und mit einer Reaktionszeit von nur wenigen Millisekunden wäre sie den mechanischen Ausführungen weit überlegen. Ebenso hoffte man, ventillose Hydrauliksysteme realisieren zu können, bei denen eine sich verfestigende Flüssigkeit den Durchfluß in dünnen Röhrensegmenten steuert.

Solcherlei Anwendungen sind immer noch reizvoll; aber die wirklich faszinierenden Möglichkeiten dieser Stoffe betreffen anpassungsfähige Apparate, bei denen man sich die kontinuierlich regelbare Viskosität zunutze macht. Da sich die Fließgeschwindigkeit über die Feldstärke unmittelbar steuern läßt, haben völlig neuartige Konzepte wie etwa ein adaptiver Stoßdämpfer das Interesse der Automobilindustrie wie auch der Befürworter von Magnetschwebebahnen geweckt. (Wenngleich solche Bahnen keinen direkten Kontakt zu Schienen haben, könnten adaptive Stoßdämpfer beim schnellen Beschleunigen und Bremsen wertvolle Dienste leisten.)

Ein gewöhnlicher Stoßdämpfer besteht aus einem Zylinder, in dem ein Kolben beim Zusammendrücken dickes, zähflüssiges Öl durch eine kleine Öffnung preßt. Die viskose Substanz absorbiert die bei einem Stoß auftretenden Kräfte durch ihre langsame Bewegung; nach der Entlastung strömt sie durch eine größere Öffnung relativ schnell in das Ausgangsvolumen zurück. Ein Nachteil dabei ist die Temperaturabhängigkeit der Viskosität: Bei Kälte wird das Öl noch zähflüssiger, während es sich bei langer Fahrt über unebene Straßen – wo gute Dämpfung besonders nötig wäre – durch die häufigen Kompressionen erhitzt und dadurch dünnflüssiger wird; beides verschlechtert die Dämpfung.

Eine Abhilfe könnte man beispielsweise durch eine mechanische Vorrichtung schaffen, die den Durchmesser der Öffnung im Stoßdämpfer den Erfordernissen entsprechend einstellt. Mit elektroviskosen Flüssigkeiten hingegen ließen sich Stoßdämpfer mit einer Reaktionszeit im Bereich von Millisekunden ohne mechanische Regelung realisieren. Mikroprozessorgesteuerte Elektroden könnten während der Bewegung des Kolbens die an die Flüssigkeit angelegte Spannung nachregeln und so deren Viskosität schnell variieren. Eine solche adaptive Steuerung könnte die Substanz mit zunehmender Kompression zähflüssiger machen und eine schnelle Erholung des Systems ermöglichen, indem es nach dem Stoß die Viskosität erniedrigt. Damit würde nicht nur der durch ein Schlagloch verursachte Stoß optimal gedämpft, es ließe sich auch ein einziger Stoßdämpfertyp an verschiedenen Fahrzeugen und für unterschiedliche Betriebsbedingungen einsetzen.

Derzeit verfügbare elektroviskose Flüssigkeiten versagen jedoch bei starker Beanspruchung. Sie sind im festen Zustand oft zu weich; und durch die hohen Spannungen, die man zu ihrer Verfestigung braucht, erhitzen sie sich bei häufigen Zyklen, so daß leichtflüchtige Inhaltsstoffe verdampfen können. Gegenwärtig arbeiten wir an diesem Problem, indem wir zu klären versuchen, auf welche Weise das elektrische Feld den Übergang in den festen Zustand bewirkt. Unsere Idealvorstellung sind dabei Suspensionen, die bereits bei niedrigeren als den derzeit erforderlichen Spannungen ausreichend fest werden.

Strukturbildung im elektrischen Feld

Bereits seit geraumer Zeit ist bekannt, daß der elektroviskose Effekt auf der elektrischen Polarisierbarkeit beruht: Befindet sich eine Substanz in einem elektrischen Feld, beispielsweise zwischen zwei geladenen Metallplatten, so werden die positiv geladenen Atomkerne der Partikel zur einen, die negativ geladenen Elektronen zur anderen Elektrode hin gezogen. Als Folge davon verschieben sich die inneren Ladungen gegeneinander – es bildet sich ein elektrischer Dipol mit einer positiven und einer negativen Seite, ähnlich einem Magneten mit seinem Nord- und Südpol. Die Ladungsverschiebung ist um so größer, je höher die elektrische Polarisierbarkeit der Substanz ist.

Enthält eine Suspension viele polarisierbare Teilchen, so werden die Wechselwirkungen zwischen ihnen recht komplex. Betrachten wir als einfachsten Fall zwei derartige Teilchen, deren Dipolachsen unter dem Einfluß eines elektrischen Feldes gleich orientiert sind, bei denen also beispielsweise jeweils der positive Pol oben und der negative unten ist (Bild 1 links). Ob und wie stark sich beide Partikeln anziehen oder abstoßen, hängt nun davon ab, welchen Winkel ihre Verbindungslinie zu den beiden Dipolachsen einnimmt. Maximale Anziehung tritt auf, wenn dieser Winkel null ist, die Verbindungslinie also mit den Dipolachsen zusammenfällt, denn dann stehen sich entgegengesetzte Ladungen gegenüber. Beträgt der Winkel hingegen 90 Grad, ist die Abstoßung maximal, da in diesem Falle jeweils gleichnamige Pole nebeneinander liegen. Generell ziehen sich die Teilchen gegenseitig an, wenn der Winkel kleiner als 55 Grad ist; andernfalls stoßen sie sich ab.

Aber selbst im Falle einer Abstoßung arrangieren sich die Teilchen neu. Während ihre Pole unabhängig von ihrer Bewegungsrichtung gemäß dem äußeren elektrischen Feld stets auf die Elektroden gerichtet sind, bewegen sich die Teilchen auf gekrümmten Bahnen umeinander, bis entgegengesetzt geladene Pole gegenüberstehen und die Anziehung überwiegt. Die Teilchen haften dann aneinander, und mehrere von ihnen reihen sich auf diese Weise zu langen Ketten auf (dieses Verhalten gleicht der Ausrichtung von Eisenfeilspänen entlang den Feldlinien eines Stabmagneten). Die Teilchenketten in einer elektroviskosen Flüssigkeit wachsen rasch von einer Behälterwand zur anderen; infolge dieser Anordnung wird die Substanz fest.

Manche Teilchen bilden allerdings nicht in allen Flüssigkeiten Ketten. Worauf diese Unterschiede im einzelnen zurückzuführen sind, wird gegenwärtig noch erforscht. Eine Ursache könnte darin liegen, daß nicht nur die suspendierten Teilchen, sondern auch die Moleküle der Flüssigkeit selbst polarisierbar sind. Bei genau gleichen Polarisierbarkeiten würde nämlich der in der Flüssigkeit erzeugte Effekt den der Teilchen überdecken, so daß keine Ketten entstehen könnten. Die Eigenschaften elektroviskoser Flüssigkeiten sind dann am besten, wenn die Teilchen leichter zu polarisieren sind als die Flüssigkeitsmoleküle.

Die Strukturbildung geht freilich über die Bildung einzelner Ketten hinaus: Mehrere von ihnen lagern sich langsam zu parallelen Strängen zusammen, die sich wiederum zu noch dickeren Säulen zusammenfinden und so weiter. Wie sieht die letztmögliche Festkörperstruktur aus?

Erste Anhaltspunkte liefert eine Analyse der komplexen elektrischen Felder in der Umgebung einer Vielzahl von Teilchen. Wie wir bereits gesehen haben, stoßen sich parallel aneinanderliegende Dipole gegenseitig ab. Ein Aneinanderlagern paralleler Ketten zu Säulen ist aber dennoch möglich, weil jedes Teilchen wegen der großen Reichweite der Dipolkräfte nicht nur mit einigen benachbarten Partikeln wechselwirkt, sondern mit allen übrigen Dipolen in der Flüssigkeit.

Um zu verstehen, warum gerade säulenartige Strukturen stabil sind, betrachten wir ein Probeteilchen, das wir in Gedanken an eine Kette innerhalb einer Säule heranbringen. Das nächstgelegene Teilchen der Kette übt erwartungsgemäß eine abstoßende Kraft aus, und die direkt benachbarten Teilchen tun dies auch; mit allen Dipolen in der Kette aber, die so weit entfernt liegen, daß das Probeteilchen in deren 55-Grad-Anziehungskegel liegt, verhält es sich anders. Durch die Summe aller Kräfte wird das Probeteilchen in eine Position manövriert, die etwas oberhalb eines Kettenteilchens und etwas unterhalb eines anderen liegt.

Fügt man nun in Gedanken weitere Probeteilchen hinzu, so bewegen sich diese in ähnliche Positionen, so daß sie untereinander eine zweite Kette bilden können. Bei noch mehr Teilchen bilden sich dann drei, vier Ketten und so fort. Alle diese Ketten sind unter dem Einfluß der Dipolkräfte leicht gegeneinander versetzt.

Experimentelle Untersuchungen

Tian-jie Chen, Robert N. Zitter und Rongjia Tao von der Universität Süd-Illinois in Carbondale vermochten vor kurzem nachzuweisen, daß solche Strukturen tatsächlich existieren. In ihrem Experiment verwendeten sie eine Suspension von Glaskügelchen mit einem Durchmesser von 0,04 Millimetern in Silikonöl. Unmittelbar nach Anlegen eines elektrischen Feldes bildeten sich Ketten, und innerhalb weniger Minuten lagerten sich diese zu Säulen mit annähernd kreisförmigem Querschnitt von etwa sechs Millimetern Durchmesser zusammen.

Um die Struktur innerhalb der Säulen zu bestimmen, machten sich die Wissenschaftler die lichtbrechenden Eigenschaften der Glaskugeln zunutze. Jede wirkt als kleine Linse, die einfallendes Licht auf die benachbarte Kugel fokussiert. Auf diese Weise breitet sich ein Laserstrahl durch alle Ketten der Säule hindurch aus. Die letzte Kugellage wirkt wie eine Matrix aus Lichtquellen und erzeugt ein Muster sich überlappender Lichtflecke (Bild 2). Anhand dieses Bildes läßt sich erkennen, daß die Kugeln sich in der verfestigten Flüssigkeit auf bestimmte Weise zusammenfügen, und zwar als sogenanntes tetragonal raumzentriertes Gitter, bei dem die Teilchen von benachbarten Ketten tatsächlich versetzt gegeneinander angeordnet sind.

Nun sind die Anziehungskräfte zwischen den Ketten zwar groß genug, um eine solches Gitter hervorzurufen, aber eigentlich zu schwach, um die beobachtete relativ schnelle Aggregation erklären zu können. Die Wirklichkeit, so scheint es, ist noch komplexer als jede noch so sorgfältige Analyse der elektrischen Kräfte.

Daß die Säulen sich schneller bilden, als man nach der Theorie erwarten sollte, ist auf Fehler im Aufbau der Ketten zurückzuführen. Aus mindestens zwei Gründen sind sie nämlich keineswegs vollkommen regelmäßig und gerade: Zum einen überbrücken die Ketten nicht immer den gesamten Abstand zwischen den beiden Elektroden, und zum anderen wird ihre Gestalt von der Brownschen Molekularbewegung beeinflußt. Diese von dem schottischen Botaniker Robert Brown 1827 entdeckte und nach ihm benannte Zitterbewegung suspendierter Teilchen ist ein statistischer Prozeß: Aufgrund ihrer thermischen Bewegung prasseln die Moleküle der Flüssigkeit von allen Seiten auf die Teilchen ein, wodurch diese auf chaotische Weise um ihre mittlere Lage in der Kette herumzappeln. Die Kette ist also stets an vielen Stellen deformiert, wenngleich sie im zeitlichen Mittel durchaus gerade sein kann. Diese geringe Deformation erhöht die Anziehungskraft zwischen den Ketten und fördert deren Aggregation zu Säulen.

Um dieses Wachstum besser verstehen zu können, haben wir gemeinsam mit Judy Odinek von den Sandia-Nationallaboratorien in Albuquerque ein weiteres Experiment durchgeführt. Anders als Chen, Zitter und Tao verwendeten wir Glaskügelchen, deren Durchmesser weniger als einen Nanometer (millionstel Millimeter) betrug und damit kleiner als die Lichtwellenlänge war. Zudem richteten wir den Laserstrahl im rechten Winkel auf die Ketten. Das Streulicht enthält dann Informationen über den Abstand und die Dicke der Säulen.

Ohne elektrisches Feld, wenn die suspendierten Teilchen noch unregelmäßig verteilt sind, wird das Licht gleichmäßig gestreut. Schaltet man das Feld an, so daß die Teilchen sich in Ketten und Säulen zu ordnen beginnen, nimmt das beobachtete Streulichtmuster die Form einer Doppelkeule ähnlich der Ziffer 8 an (Bild 3). Anfangs erscheint diese Doppelkeule groß und diffus. Wenn die Dicke der Säulen dann zunimmt und infolgedessen auch der Freiraum zwischen ihnen größer wird, trifft das Licht auf seinem Weg durch die Suspension auf weniger Hindernisse, so daß die Streuung abnimmt und die Keulen kleiner und heller werden.

Demnach wachsen die Säulen anfangs sehr schnell, bis nach einigen Minuten die Anziehungskräfte zwischen ihnen so schwach geworden sind, daß das Wachstum fast vollständig zum Erliegen kommt. Berechnungen zeigen, daß die sich verfestigende Flüssigkeit stabiler würde, wenn die Säulen sich noch weiter verdickten. Folglich müßten sich möglicherweise die mechanischen Eigenschaften der elektroviskosen Flüssigkeiten verbessern, wenn man das elektrische Feld über mehrere Minuten hinweg aufrechterhielte.

Verhalten bei Beanspruchung

Da diese Flüssigkeiten beim technischen Einsatz starken mechanischen Beanspruchungen standhalten sollen, reicht es nicht aus, ihre statischen Eigenschaften zu kennen; man muß vielmehr verstehen, was mit ihrer Struktur geschieht, wenn sie gepreßt oder gestreckt werden. Fragen dieser Art fallen in den Bereich der Rheologie, der Materialwissenschaft, die sich mit Fließeigenschaften befaßt. (Fast alle Stoffe fließen, selbst Festkörper, obwohl das manchmal praktisch nicht wahrnehmbar ist.)

Allgemein ist die Neigung zum Fließen um so geringer, je steifer ein Material ist. Die Fließgeschwindigkeit ist daher umgekehrt proportional zur Viskosität oder Zähigkeit der Substanz. Aber auch die mechanische Spannung oder Kraft, der das Material ausgesetzt ist, spielt eine Rolle. Bei einfachen Flüssigkeiten wie etwa Wasser ist die Fließgeschwindigkeit proportional dem wirkenden Druck. Darum fließt Wasser in einer Leitung um so schneller, je stärker man pumpt; andererseits wird bei gleichem Druck ein zähflüssiges Öl sich wesentlich langsamer bewegen als Wasser.

Die Verhältnisse bei elektroviskosen Flüssigkeiten in einem elektrischen Feld sind jedoch weit komplizierter. Ihr Verhalten erinnert an das einer Substanzklasse, die man nach dem amerikanischen Chemiker Eugene Cook Bingham (1878 bis 1945) als Bingham-Körper bezeichnet. Unterhalb einer bestimmten Spannung fließen solche Stoffe überhaupt nicht; oberhalb dieser Schwelle steigt die Fließgeschwindigkeit proportional zur Differenz zwischen der wirkenden Spannung und dem Schwellenwert an. Alltäglich begegnet uns der Effekt beim Zähneputzen: Wir können die offene Zahnpastatube nach unten halten – es tropft nichts heraus. Erst durch Pressen können wir einen Strang Creme auf die Zahnbürste drücken. Auf ähnliche Weise widerstehen auch elektroviskose Flüssigkeiten einer mechanischen Belastung, solange sie nicht einen bestimmten Schwellenwert überschreitet.

Eine typische Belastung tritt zum Beispiel auf, wenn die Elektroden, zwischen denen sich die elektroviskose Flüssigkeit befindet, sich seitwärts gegeneinander zu bewegen beginnen, so daß Scherkräfte auftreten. Sind diese gering, werden sich die Teilchenketten in der Flüssigkeit neigen und strecken, aber nicht zerreißen. Die Neigung verringert aber die Anziehungskräfte zwischen den Teilchen, weil die Ketten nicht mehr parallel zu den elektrischen Feldlinien ausgerichtet sind. Statt dessen kippen sie in eine Konfiguration, in der die Teilchen immer mehr Seite an Seite gezwungen werden. Neigen sich die Ketten zu weit, so geraten die Teilchen aus der Zone gegenseitiger Anziehung heraus – die Kette bricht, und das Material beginnt zu fließen. Die Größe der Belastung an dieser Fließgrenze bezeichnet man als Fließspannung.

Will man das Material in Kupplungen anwenden, muß diese Fließspannung möglichst hoch sein; denn nur dann wird es einem hohen Drehmoment widerstehen können, bevor es zu fließen beginnt und somit die Kupplung löst. Um den kritischen Wert zu erhöhen, kann man beispielsweise die elektrische Spannung verstärken. Proportional zu dieser verstärkt sich nämlich die Ladungstrennung in den Dipolen, und die Anziehungskraft zwischen den Teilchen erhöht sich mit dem Quadrat der Ladungstrennung. Die Fließspannung ist mithin proportional zum Quadrat der elektrischen Spannung.

Gleichzeitig würde sich aber die elektroviskose Flüssigkeit stärker aufheizen, da sich mit zunehmender elektrischer Spannung auch die Verlustleistung erhöht. Wird die Substanz zu heiß, kann sie sich – wie gesagt – zersetzen. Bei der Entwicklung belastbarer elektroviskoser Flüssigkeiten muß man folglich danach trachten, die für das Erreichen einer bestimmten Fließgrenze erforderliche elektrische Spannung zu minimieren.

Diese hängt größtenteils von der Polarisierbarkeit der Teilchen ab, also von einer Materialeigenschaft. Vor einigen Jahren glaubte man noch, daß die Steifigkeit einer verfestigten Flüssigkeit nicht wesentlich mit der Polarisierbarkeit ansteigen würde. Wie aber Douglas B. Adolf, Robert A. Anderson, Terry J. Garino und Bradley G. Hance von den Sandia-Nationallaboratorien durch Untersuchungen an stark polarisierbaren keramischen Partikeln zeigen konnten, ist das Gegenteil richtig. Man ist seitdem sehr optimistisch, eines Tages elektroviskose Flüssigkeiten entwickeln zu können, die sehr steif werden.

Ein weiteres Problem stellt die elektrische Leitfähigkeit dar; denn insbesondere, wenn das elektrische Feld länger als etwa eine hundertstel Sekunde eingeschaltet bleibt, machen sich Unterschiede in der Leitfähigkeit von Teilchen und reinem Lösungsmittel störend bemerkbar. Betrachten wir eine Suspension von nichtleitenden Teilchen in einer schwach leitenden Flüssigkeit. Unmittelbar nach dem Einschalten des Feldes werden die Teilchen polarisiert. Gleichzeitig beginnt aber der Transport von Ladungen in der Flüssigkeit, die sich nach und nach auf der Oberfläche der polarisierten Teilchen ansammeln. Binnen kurzem sind es nicht mehr die durch Polarisation erzeugten Dipole, welche die Wechselwirkung zwischen den Teilchen bestimmen, sondern die Ladungsträgerwolken, von denen sie umgeben sind. Die wirkenden Kräfte zwischen den Teilchen sind zwar immer noch dipolarer Natur, aber ihre Ursache ist nicht mehr die gleiche, und die Fließspannung kann nun einen anderen Wert haben.

Andere Schwierigkeiten treten auf, wenn leitende Teilchen in isolierenden Flüssigkeiten suspendiert sind. Bei der Polarisierung der Teilchen verschieben sich die Elektronen dann nicht nur innerhalb der einzelnen Moleküle, sondern wandern von Molekül zu Molekül über das gesamte Teilchen. Daraus resultieren zwar eine hohe Polarisation und starke Anziehungskräfte zwischen den Teilchen; sobald diese sich jedoch berühren, fließt Ladung von einem zum anderen, so daß sich eines positiv und das andere negativ auflädt. Anstatt sich nun aneinanderzuketten, werden diese Teilchen in entgegengesetzter Richtung zu den Elektroden gezogen, da deren Anziehungskraft stärker ist als die zwischen den einzelnen Teilchen – eine Art Prellball-Effekt, den man in solchen Suspensionen schon beobachtet hat. Durch eine isolierende Beschichtung läßt sich der Ladungsaustausch zwischen leitenden Teilchen aber verhindern, so daß man eine hohe Polarisation und den gewünschten starken elektroviskosen Effekt erhält.

Zwei alternative Theorien

Eine hohe Fließspannung ist nicht die einzige nützliche Eigenschaft einer elektroviskosen Flüssigkeit. Bei manchen Anwendungen sollte das Material wie Zahnpasta bereits bei geringer mechanischer Spannung nachgeben, bei höherer Belastung sich aber trotzdem nicht schneller bewegen.

Wenn man ein derartiges Verhalten gezielt erreichen will, muß man mehr über die Reaktionen elektroviskoser Systeme oberhalb der Fließgrenze wissen. Deshalb untersuchen wir und auch andere Forschungsgruppen, welche Strukturen sich unter mechanischer Spannung in den Flüssigkeiten ausbilden. Wir wollen wissen, wie diese Strukturen den Fließprozeß behindern und wie dieses Fließen wiederum die festen Strukturen verformt und schwächt, so daß die Flüssigkeit in Bewegung bleibt. Bisher gibt es dazu keine umfassende Theorie, sondern nur unterschiedliche Vorstellungen.

Daniel J. Klingenberg, der nun an der Universität von Wisconsin in Madison tätig ist, und Charles F. Zukoski von der Universität von Illinois in Urbana untersuchten eine Maisstärke-Suspension. Unter mechanischen Spannungen oberhalb der Fließgrenze bildeten sich ihren Befunden zufolge bei einer Scherung der plattenförmigen Elektroden zwei unterschiedliche Strukturen aus: In der Nähe der Elektroden, so interpretieren die beiden Forscher ihre Beobachtung, neigten sich die Teilchensäulen, während sie in der Zentralregion auseinanderbrächen, so daß dort die Flüssigkeit frei fließen könne; und mit zunehmender Scherung verbreitere sich diese Gleitzone – die Säulen selbst blieben jedoch an den Elektroden haften (Bild 4 oben).

In Zusammenarbeit mit Adolf haben wir ein anderes Modell der Scherprozesse entwickelt. Wenn die Säulen frei driften können, anstatt an den Elektroden zu haften, begünstigen die Anziehungskräfte zwischen den Teilchen ihre Ausrichtung senkrecht zu den Elektroden. Die Bewegung der Flüssigkeit übt jedoch Viskositätskräfte auf die Säulen aus, die sie parallel zu den Elektroden zu drehen suchen. Die Säulen werden sich demnach um einen bestimmten Winkel neigen, bei dem beide Kräfte im Gleichgewicht sind. Wir erwarten, daß solche geneigten Säulen im gesamten Flüssigkeitsvolumen auftreten, sobald unter dem Einfluß der Schubspannung die Fließgrenze überschritten wird.

Zudem glauben wir, daß die Säulen oder Ketten mit zunehmender Scherung kürzer werden. Da eine lange Kette eine größere Oberfläche aufweist als eine kürzere, ist sie stärker den Viskositätskräften ausgesetzt. Sehr lange Ketten dürften unter deren Einfluß sogar so weit gedreht werden, daß sie den kegelförmigen Bereich, in dem die Anziehung der Teilchen die Abstoßung überwiegt, verlassen und zerfallen. Dieser Effekt legt eine obere Grenze für die Kettenlänge bei einer bestimmten Scherung in einem gegebenen elektrischen Feld fest (Bild 4 unten).

Aber auch die relativ kurzen Kettenbruchstücke erhöhen die Viskosität der Flüssigkeit drastisch. Die Situation läßt sich mit dem Pumpen von Wasser durch ein Rohr vergleichen, das mit Tannennadeln gefüllt ist. Der Umstand, daß sich das Wasser einen Weg durch ein feines Sieb bahnen muß, erhöht die zum Erreichen eines bestimmten Durchflusses erforderliche Kraft. Formal entspricht dies wie bei elektroviskosen Flüssigkeiten oberhalb der Fließgrenze einer hohen Viskosität.

Womöglich läßt sich das Verhalten vieler elektroviskoser Medien durch eine Kombination der beiden Modellvorstellungen beschreiben. Demnach könnte sich in der Nähe der Elektroden eine relativ ruhige Zone herausbilden, die in ihrer Struktur dem Ruhezustand des verfestigten elektroviskosen Gitters ähnelte. In der Übergangszone würde diese Struktur in kleinere, geneigte Teilchenketten aufbrechen.


Technische Entwicklungen

Die heutigen elektroviskosen Flüssigkeiten sind kompliziertere Mixturen als die in den vierziger Jahren. Außer den suspendierten Teilchen und der Trägerflüssigkeit enthalten sie häufig ein Dispersionsmittel und eine Aktivatorsubstanz.

Das Dispersionsmittel verhindert die Aggregation der Teilchen, wenn kein Feld anliegt, sonst würden sie häufig zusammenklumpen oder sich nicht gleichmäßig in der Flüssigkeit verteilen, was die Substanz für praktische Anwendungen unbrauchbar machen würde. Der Aktivator – häufig Wasser oder auch Alkohol – enthält Verunreinigungen wie etwa gelöste Salze. Der Wirkungsmechanismus der Aktivatorsubstanz ist noch nicht völlig verständlich, aber man nimmt allgemein an, daß Wasser, das von der öligen Suspensionsflüssigkeit abgestoßen wird, sich auf der Teilchenoberfläche ansammelt. Im elektrischen Feld werden dann die gelösten Salze polarisiert, und ihre Ladung addiert sich zu der Dipolladung der Teilchen.

Setzt man diese Erkenntnisse in die Praxis um, so ergeben sich – zusätzlich zur geringen Steifigkeit der Substanz – zwei weitere generelle Probleme. Da die Stärke des elektroviskosen Effekts mit der Teilchengröße zunimmt, bevorzugt man große Teilchen mit Durchmessern von wesentlich mehr als einem Nanometer. Diese sind aber relativ schwer, so daß sie nicht homogen verteilt bleiben und sich am Boden absetzen; zudem erhöhen sie die Schleifwirkung der Suspension. Zum zweiten hat eine Aktivatorsubstanz wie Wasser eine geringe Siedetemperatur, oder sie reagiert relativ leicht mit anderen Inhaltsstoffen, was insbesondere bei hohen Temperaturen die Betriebsdauer herabsetzt.

Die Teilchenkomponenten der ersten von Winslow entwickelten elektroviskosen Flüssigkeiten wurden durch die Luftfeuchtigkeit benetzt und enthielten als Verunreinigung Quarzsandteilchen. Vor etwa zehn Jahren entwickelte James A. Stangroom mit einer Forschungsgruppe am Cranfield Institute of Technology in England Suspensionen mit Polymerpartikeln, deren Schleifwirkung geringer war, die jedoch noch immer Wasser enthielten. Die dritte Generation, die nun entwickelt wird, sind wasserfreie Suspensionen von kleinen, stark polarisierbaren Teilchen.

Inzwischen haben sich außerdem die Apparaturen, in denen man elektroviskose Medien einsetzen könnte, gegenüber den Vorstellungen um 1950 erheblich verändert. Die Automobilindustrie ist zwar nach wie vor an adaptiven Werkstoffen mit Reaktionszeiten im Millisekundenbereich interessiert; aber das gleiche gilt für einen anderen Industriezweig, der vor einem halben Jahrhundert noch nicht existierte: Heutzutage verrichten einfache Roboter einen Großteil der Arbeit in der industriellen Fertigung. Falls die gegenwärtige Revolution der Halbleitertechnologie ähnlich durchgreifende Umwälzungen in der Robotertechnik zur Folge haben sollte, dann braucht man unbedingt adaptive Materialien, mit denen sich die Signalfolgen von Mikroprozessoren bei vergleichbar rasch reagierenden mechanischen Steuerungen umsetzen lassen. Mit reaktionsschnellen elektroviskosen Flüssigkeiten könnte sich ein hydraulisches System entwickeln lassen, mit dem ein Roboter agil genug wäre, menschliche Bewegungsabläufe nachzuvollziehen – beispielsweise einen Ball zu fangen.

Wir brauchen zwar keine Roboter, die mit uns in Sportwettkämpfen konkurrieren; aber man könnte sich zum Beispiel ein computergesteuertes Gerät vorstellen, das die feinen Drähte herstellt, mit denen man integrierte Schaltungen verbindet. Beim Aufwickeln der Drähte auf eine Spule müßte der Roboter die mechanische Spannung peinlich genau regeln; ansonsten könnte der Draht zu lose gewickelt werden oder reißen. Eine solche Maschine, die mit einer schnell reagierenden elektroviskosen Kupplung arbeitet, wurde bereits als Prototyp erprobt. Andere mögen schon bald folgen – Maschinen mit ungeahnter Gelenkigkeit, die mit äußerster Präzision augenblicklich blockieren oder ihren Griff lösen. Sie wären zwar nicht so spektakulär wie der T-1000-Terminator, könnten sich aber am innovationshungrigen Markt gewiß durchsetzen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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