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Krisen in chemischer Forschung und Ausbildung

Keine Industriegruppe kümmert sich so intensiv und effektiv um ihre Grundlagen in Forschung und universitärer Lehre wie die Chemie. Doch neue inhaltliche Trends, Reformunfähigkeit der Bildungspolitik und härter gewordene wirtschaftliche Raahmenbedingungen haben neue Schwierigkeiten mit sich gebracht.

Mit äußerster Zurückhaltung umschreiben Chemie-Sprecher, wie es mit der Innovation in ihrem Fach in Deutschland bestellt ist. "Konzentration auf heute reife Technologiegebiete und einseitige Ausrichtung auf unmittelbare und kurzfristige Marktanforderungen haben dazu geführt, daß die Industrieforschung nicht auf allen neuen Technikgebieten den letzten Stand der Wissenschaft berücksichtigen konnte." Das gestand im Mai 1994 der Verband der Chemischen Industrie (VCI) in einer Stellungnahme zur Forschungspolitik ein. Er bestätigte damit, daß Deutschland auch auf diesem Gebiet seine Spitzenposition preiszugeben scheint. In seinem am 30. Juni 1995 veröffentlichten Jahresbericht forderte der VCI darum als Ergänzung zur bisherigen staatlichen Projektförderung eine leistungsorientierte personenbezogene Förderung sowie neue Formen des Technologietransfers.

Ob das allein ausreicht, ist jedoch fraglich. Die Chemie stehe vor dem Aufbruch in eine neue Phase der "innovativen Dynamik", meint der Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger. Bei der GDCh-Hauptversammlung am 11. September dieses Jahres in Münster wurden dafür Beispiele genannt:

- In der Katalyseforschung zeichnen sich neue Perspektiven ab (rational catalyst design).

- Materialien mit neuen Produkteigenschaften lassen sich mit der Chemie der molekularen Systeme (Verknüpfung der Morphologie von Molekülanordnungen und ihren funktionalen Eigenschaften) entwickeln.

- Die Gentechnik eröffnet neue Ansätze in der Wirkstoff-Forschung.

- Die kombinatorische Chemie verknüpft Synthesechemie, Biologie, Informatik, Mikrosystemtechnik und Robotik.

Generelle Trends des dramatischen Wandlungsprozesses sind insbesondere ein tieferes Verständnis für die molekularen Grundlagen der Lebensvorgänge ("Lernen von der Natur") sowie der Wandel von der Empirie zur Strategie (anstatt der trial-and-error-Methode gezieltes Design von Komponenten und Systemen).

Um diesen Wandel zu bewältigen, fehlen in der bisher so hoch gerühmten deutschen chemischen Grundlagenforschung die Instrumente. Die Grundausstattung der Universitätsinstitute zum Beispiel ist unzureichend. Die Hoffnungen richten sich jetzt unter anderem auf das neue lnstitut für Angewandte Chemie (ACA) in der Wissenschaftsstadt Berlin-Adlershof. Diese Einrichtung der Blauen Liste soll in enger Verbindung mit der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, die auf das Gelände in Adlershof umziehen wird, sowohl attraktive Grundlagenforschung als auch industriebezogene anwendungsorientierte Forschung betreiben. Schwerpunkte liegen in den Bereichen, die auch bei der GdCh-Versammlung genannt worden waren: Katalyse, Synthese organischer Verbindungen und moderne Funktionsmaterialien sowie Analytik.


Memorandum

Außer den bisherigen Lücken in der Forschung droht vielen Hochschulabsolventen in der Chemie Arbeitslosigkeit. Schon einen Monat vor der Versammlung in Münster mußten dies Sprecher der GDCh in einer Pressekonferenz zu den Perspektiven der Chemie-Forschung in Deutschland einräumen: Quadbeck-Seeger und Herbert Walter Roesky von der Universität Göttingen bedauerten "das zeitliche Zusammentreffen eines Absolventenberges mit einem Rezessionstief" und klagten über die deutlich zurückgegangene Attraktivität des Investitionsstandortes Deutschland.

Quadbeck-Seeger und Roesky sind zwar in vielen Punkten "besorgt", im ganzen aber zuversichtlich, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt nicht außer Kontrolle gerät, sondern sich selbst regeln kann. Vor allem könne die Chemie zu einer nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) beitragen und sich so in dem kritisch gewordenen gesellschaftlichen Umfeld neu positionieren. Allerdings – von der Gesellschaft verlangen sie ebenfalls, daß sie umdenkt und ihre Verhaltensmuster neu orientiert.

Diese Forderung macht ein Memorandum deutlich, das VCI und GDCh sowie sieben weitere im Bereich der Chemie orientierte Verbände im September 1995 zur "Stärkung der universitären Ausbildung und Forschung im Fach Chemie vor dem Hintergrund des Strukturwandels in der Weltwirtschaft" veröffentlicht haben. Sie beklagen den relativ geringen Stellenwert, den das Verständnis naturwissenschaftlich-technischer Zusammen-hänge und damit auch der Chemie einnimmt. Möglichst viele Menschen sollten in Schule oder Hochschule solide naturwissenschaftliche Kenntnisse erwerben, weil diese für das Leben in der modernen Gesellschaft unentbehrlich seien. Die Auseinandersetzung über die Rolle der Naturwissenschaften im Bildungswesen ist mit dem Bericht einer Expertenkommission der Kultusministerkonferenz zur "Weiterentwicklung der Prinzipien der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs", der in diesem Herbst vorgelegt wurde, wiederbelebt worden (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 117, sowie nachfolgenden Beitrag). Der Fonds der Chemischen Industrie im VCI hatte 1993 in 14 Thesen zur Bildungspolitik die Verstärkung des naturwissenschaftlichen, insbesondere des Chemieunterrichts im Gymnasium gefordert.

Das Hauptgewicht jener 14 Thesen wie auch des jetzigen Memorandums liegt aber bei Empfehlungen zur Reform des Chemiestudiums, die sinngemäß auch für andere naturwissenschaftliche Fachbereiche gelten. Fünf Punkte werden besonders hervorgehoben:

- Chemie ist immer mehr eine Querschnittswissenschaft.

- Hochschulen und außeruniversitäre Forschungsinstitute sollen in Forschung und Lehre sachgerecht und fachbezogen evaluiert werden.

- Im Wettbewerb in Ausbildung und Forschung müssen gute Ausbildungsstätten besonders begabte Studierende anziehen können.

- Die reale Studiendauer bis zum Chemie-Diplom muß auf zehn Semester reduziert werden.

- Wegen begrenzter staatlicher Finanzmittel könne es notwendig werden, die Förderung auf international wettbewerbsfähige Chemiefachbereiche und Forschungsinstitute zu konzentrieren.

Die GDCh hat dazu seit Anfang der sechziger Jahre viele Vorschläge gemacht, die zum Teil auch umgesetzt wurden. Doch kam Heinrich Nöth von der Universität München zu Beginn einer Podiumsdiskussion in Münster über "Studienreform Chemie – Kontroversen in Vorgaben und Zielen" nicht an der peinlichen Frage vorbei, warum diese Vorschläge nicht so gegriffen haben, wie man es wollte. Offenbar sind es strukturelle Gründe sowohl im Fach selbst und bei seinen universitären Vertretern als auch im Beschäftigungssystem, die Änderungen überfällig machen.


Ausbildung zu wenig arbeitsmarktorientiert?

Im Vordergrund steht das Verlangen der Chemiker, die trotz aller Kürzungen in den letzten Jahren noch immer sehr lange mittlere Studiendauer bis zum Diplom von 11,6 auf zehn Semester zu verkürzen. Sie wollen dabei mit den Physikern und den Biologen gleichgestellt werden. In Europa beträgt der Mittelwert allerdings nur neun Semester. Weil jedoch 90 Prozent der diplomierten Chemiker promovieren, bleiben sie länger an der Universität. Von den Physikern strebt nur etwa die Hälfte der Diplomierten den Doktorgrad an.

Im Hintergrund der Diskussion in Münster standen indes viel wichtigere Fragen. Bleiben die jungen Chemiker deshalb so lange an der Universität, weil sie in der Industrie schlechte Einstellungschancen sehen? Gibt es überhaupt einen Arbeitsmarkt für Chemiker, die nicht promoviert sind? Die Industrie scheint, folgt man Hans Jürgen Rosenkranz, dem Leiter der Forschungsabteilung der Bayer AG, durchaus bereit zu sein, die Einstellung nicht-promovierter Chemiker zu "testen"; Voraussetzung sei allerdings, daß die Universität als center of excellence ihre Qualitätsansprüche bei Auswahl und Prüfungen durchsetzt.

Der Unternehmensberater (und Chemiker) Michael Röver hielt dem entgegen, einerseits müsse vor solchen Änderungen bei den Abnehmern Marktforschung betrieben, andererseits das Ziel verfolgt werden, nach dem europäischen Durchschnitt von viereinhalb Jahren auch in Deutschland einen berufsbefähigenden Chemie-Abschluß zu erreichen. Das setze voraus, daß der Fächerkatalog des Chemie-Studiums drastisch zusammengestrichen und es zugleich mit anderen Fächern angereichert werde, die in Kombination mit Chemie jetzt in der Industrie gefragt sind wie etwa Mikrosystemtechnik oder Rechtswissenschaften. Entrümpelung und Anreicherung stießen aber auf empörten Widerstand seitens der Hochschul-Chemiker. Georg Hohlneicher von der Universität zu Köln hält ein "angereichertes" Chemiestudium für nicht durchführbar, man könne auch mit dem Herausnehmen von Fächern keinen zusätzlichen Raum schaffen. In Deutschland würden immer noch die besten Chemiker der Welt ausgebildet.

Allerdings muß man sie in der Praxis – das machte der beim Wissenschaftsrat tätige Chemiker Michael Maurer deutlich – "wie saures Bier anbieten", wenn ihre Ausbildung nicht den Bedürfnissen des nationalen und internationalen Marktes entspricht. Die Verantwortung dafür liegt zwar bei den Hochschullehrern; doch haben letztlich noch immer die Universitätsabsolventen die Folgen zu tragen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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