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Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert


Unter dem Begriff "Deutsche Wissenschaft" versucht Pierangelo Schiera, Professor für Geschichte der politischen Ideen am Italienisch-Deutschen Historischen Institut in Trient, gewissermaßen von einem neutralen Standpunkt aus ein Phänomen zu behandeln, das in anderen Sprach- und Kulturräumen keine Entsprechung hat. Denn die "Deutsche Wissenschaft" war unter den eher unglücklichen Bedingungen des 1815 gegründeten Deutschen Bundes so etwas wie ein Verfassungsersatz. Sie war nicht nur ein wesentliches Element auf dem Wege der inneren Staatwerdung Deutschlands, sondern auch ein Repräsentationselement, das eine starke Anziehungskraft nach außen hatte, bald jedoch als politisches Machtinstrument beargwöhnt wurde: "Zuerst geriet die Deutsche Wissenschaft zum bewunderten Vorbild für die Wissenschaftsorganisation anderer Nationalstaaten, später wurde sie zur Legitimationsgrundlage für den deutschen Imperialismus" (Seite 10).

Die Geschichte des Begriffes "Deutsche Wissenschaft" in seiner Wechselwirkung mit der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands zu schildern ist das Hauptziel der vorliegenden Untersuchung. Das Werk enthält eine Fülle von gut dokumentierten Informationen mit einer umfangreichen, mehr als 40 Seiten umfassenden Bibliographie. Allerdings beschränkt der Autor sich auf die Staats- und Sozialwissenschaften und weist nur gelegentlich auf die parallele Entwicklung der Naturwissenschaften hin.

In den einzelnen Kapiteln hebt Schiera besonders die führende Rolle des Verwaltungsrechts in der sozialen Frage hervor und zeigt die Verbindung von Bürokratie und Sozialwissenschaft auf, in der die Entwicklung der Statistik eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die Verwaltungsrechtswissenschaft stellte die Möglichkeiten bereit, die unterschiedlichen, wenngleich durch eine gemeinsame Tradition verbundenen territorialen Verwaltungsentwicklungen zu vereinheitlichen. Die Statistik, die damals noch selbst um ihre Anerkennung als eigener Forschungszweig kämpfen mußte, war ein praktisches Verifizierungsinstrument für die wachsende Interventionstätigkeit des Staates. Die Schaffung statistischer Ämter ging der Reichsgründung voraus und lieferte die Grundlage für die Vereinheitlichungsinitiativen, die dann im Statistischen Reichsbureau realisiert wurden und einen wesentlichen Anteil an der "inneren Reichsgründung" hatten (Seite 95).

So plausibel – und überzeugend dokumentiert – Schiera diese Wechselwirkung von Wissenschafts- und Verfassungsentwicklung darstellt, so bedenklich und argumentationsschwach sind die daran anschließenden Thesen, die der so geschilderten "Deutschen Wissenschaft" nicht nur für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sondern auch für die Entwicklung danach eine schwerwiegende Verantwortung zusprechen, ohne ihren "objektiven" Erkenntnis- und Fortschrittsimpuls zu bestreiten.

Daß die Wissenschaft neben Wirtschaft, Heer und Flotte zum Lieblingsgegenstand imperialistischer Träume im wilhelminischen Deutschland wurde, läßt sich zwar kaum leugnen; dazu sprechen vor allem die Denkschriften zur Errichtung der "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften" (der heutigen Max-Planck-Gesellschaft) eine allzu deutliche Sprache: Wissenschaft und Armee werden als Grundpfeiler der Größe und Vormachtstellung Deutschlands genannt.

Andererseits handelte es sich gerade hier nicht um die in diesem Buch behandelten Sozial- und Staatswissenschaften, sondern um die Naturwissenschaften. Und den Chauvinismus, den Schiera an der "Deutschen Wissenschaft" kritisiert, belegt er hauptsächlich durch Zitate nicht von Wissenschaftlern selbst (die es sicherlich auch gegeben haben mag), sondern durch Äußerungen von Politikern. Als etwa 1895 der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845 bis 1923) die nach ihm benannten Strahlen entdeckte, pries der Kaiser höchstpersönlich in einem Telegramm Gott dafür, daß er dem deutschen Vaterland diesen neuen Triumph der Wissenschaft beschert habe (Seite 275).

Wenn Schiera am Schluß seines Buches zu dem düsteren Geamtresultat kommt, im Verhältnis von Wissenschaft und Politik hätten sich in der wilhelminischen und der nachwilhelminischen Generation zwei Typen abgewechselt, der "Untertan" und der "Unpolitische", dann ist damit nur wenig für die Beantwortung der Frage getan, welche Rolle denn der Wissenschaftler im politischen System zu spielen habe. Denn auch der Hinweis auf die Gegenwart fällt ausschließlich negativ aus: "Wissenschaftliche Neutralität" jedenfalls kann kein Ausweg sein, denn sie bringt neue Unterordnungsverhältnisse hervor und verleitet zu einem Massenverzicht auf politische Verantwortung. Der aber kann vor allem in unseren Gesellschaftssystemen, die sich der Demokratie verpflichtet haben, gefährlich sein.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1994, Seite 138
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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