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Neue Erlebnisse aus dem Cantorland (Teil 1)

Was ist schlimmer als ein Bus mit unendlich vielen Fußballfans? Eine ganze Grundschule mit unendlich vielen algebraischen Schulkindern!

Das alte Hilbert-Hotel in Bad Omega war berühmt dafür, dass es für jeden Gast noch einen Platz hatte, selbst wenn jedes der unendlich vielen Betten bereits belegt war. Nun sind nächtliche Zimmerwechsel nicht jedermanns Sache. Aber man hatte uns im Reisebüro versichert, dass derlei Unannehmlichkeiten der Vergangenheit angehörten, seit in der Nähe des Hauptbahnhofs das neue Hilbert-Hotel eröffnet habe. Als wir in Bad Omega ankamen, war der Neubau nicht zu übersehen. Während das alte Hilbert-Hotel ein Flachbau ist, hat das neue Haus abzählbar unendlich viele Stockwerke, die sich in den Himmel türmen. Dennoch ist es nicht höher als 25 Meter, da die Stockwerke nach oben hin immer flacher werden. Das Erdgeschoss misst 2,50 Meter, das erste Obergeschoss ist noch 2,25 Meter hoch, das zweite noch 202,5 Zentimeter, und so ist jedes Geschoss 10 Prozent flacher als das vorhergehende. Über dem Eingang des Hotels prangt – nachts erleuchtet – das Zeichen w2. Der Direktor des Hotels empfing uns persönlich. Vorsichtig erkundigte sich meine Frau, ob wirklich nicht mit nächtlichen Umzügen zu rechnen sei. Der Direktor erklärte, dass sowohl die erweiterte Kapazität des neuen Hauses als auch ein verbessertes Management dies zuverlässig ausschlössen. Während das alte Hilbert-Hotel nur eine Zimmerordnung des Typs w habe – einen einzigen Flur mit Zimmern, die von 1 an laufend durchnummeriert sind –, verfüge man hier über eine Zimmerordnung vom Typ w2. Jedes der unendlich vielen Stockwerke enthalte eine komplette Zimmerflucht nach Art des Vorgängerbaus. Daraufhin händigte er uns die Schlüssel für unsere Zimmer aus, die im 17. Stock lagen. Ich erhielt Zimmer Nummer w17+24, meine Frau w17+25. Wie im alten Hilbert-Hotel sind benachbarte Zimmer durch eine Tür verbunden und so als Doppelzimmer nutzbar. Fünf Sechstel des Hauses lagen unter uns, der Fußboden unseres Zimmers 20,83 Meter über Grund. Wir blickten aus dem Fenster auf die große Platane, die in der Parkanlage hinter dem Haus stand, und wunderten uns, dass der Baum einen so schlanken Stamm hatte und sein oberes Ende nicht zu sehen war. Später, vom Garten aus betrachtet, sah er ganz normal aus und war nicht höher als das Hotel. Nach einigem Nachdenken kamen mir Zweifel an der angeblich vergrößerten Kapazität des Hotels, und ich wandte mich erneut an den Direktor: „Sie haben doch nicht ein Zimmer mehr als das alte Hilbert-Hotel. Ihre beiden Häuser haben abzählbar unendlich viele Zimmer: aleph-null Stück.“ „Schon recht, aber unsere Zimmer sind geschickter angeordnet. Wenn ein Bus mit abzählbar unendlich vielen Gästen kommt, die alle auf nummerierten Plätzen sitzen, dann kann ich sie sofort auf einer Etage unterbringen. Jeder erhält seine Platznummer als Zimmernummer. Die Etage wird voll, die Businsassen sind auf ihrer Etage unter sich, und es können die ganze Nacht über Busse kommen, ohne dass das Hotel voll wird.“ Zudem, ergänzte der Direktor, sei unsere Etage, die 17., Einzelreisenden und endlichen Reisegruppen vorbehalten, könne also ohnehin nie voll werden. Wir waren des Lobes voll über solch eine weise Architektur, doch der Direktor winkte ab und meinte, die Hauptsache sei das gegenüber früher verbesserte Management. Die damaligen Nachtwanderungen seien nur die Folge mangelnder Organisation. Heute sorge man dafür, dass im Hilbert-Hotel stets Zimmer frei seien – aber auch nicht zu viele. Wenn deutlich unter 60 Prozent der Zimmer belegt seien, könne man nicht Kosten deckend wirtschaften. Meine Frau und ich schüttelten schon wieder ungläubig den Kopf. „Wie viel ist denn 60 Prozent von unendlich vielen Zimmern?“ fragte ich. „Man kann gewiss für jede endliche Zahl von Zimmern einen Belegungsgrad bestimmen, aber …“ „Nichts anderes tun wir“, sprach der Direktor. „Wir berechnen den Belegungsgrad aller Zimmer von 1 bis n, indem wir die Anzahl der belegten Zimmer mit Nummern bis n durch n teilen. Der Grenzwert, dem dieser Quotient für wachsendes n zustrebt, ist der Belegungsgrad der Etage. Entsprechend berechnen wir den Besetzungsgrad aller Stockwerke, wobei ein Stockwerk als belegt zählt, sobald auch nur ein Gast dort logiert.“ Der Direktor erläuterte das Verfahren an einigen Beispielen: „Wenn ich auf einer Etage nur alle Zimmer mit geraden Nummern belege, habe ich dort einen Besetzungsgrad von 50 Prozent. Nehme ich nur alle Zimmer mit durch zwanzig teilbaren Nummern, beträgt der Besetzungsgrad der Etage 5 Prozent. Der Belegungsgrad Ihrer Etage mit Einzelgästen und endlichen Reisegruppen beträgt immer null, egal wie viel Gesellschaft Sie bekommen. Aber auch, wenn ich die unendlich vielen Zimmer belege, deren Nummern Quadratzahlen, Dreieckszahlen, Fibonaccizahlen oder Primzahlen sind, bleibt der Besetzungsgrad null.“ Meine Frau verstand schneller als ich. „Und wenn Sie alle Zimmer mit Primzahlen freilassen, beträgt der Besetzungsgrad der Etage 100 Prozent, obwohl unendlich viele Zimmer frei sind.“ Ich war noch nicht überzeugt von diesen Rechenkünsten. „Gibt es denn immer einen Grenzwert für die Belegungszahlen?“ „Meistens geht es gut“, antwortete der Direktor. „Vor kurzem allerdings logierte im alten Hilbert-Hotel oben auf dem Hügel eine Gruppe Anarchisten. Sie bestanden darauf, in Zimmern ihrer Wahl untergebracht zu werden, und wählten die Zimmer 2, 4, 8, 9, 10, dann durchgehend von 19 bis 26, weiter die Nummern 48 bis 68. Die dazwischen liegenden Zimmer ließen sie leer. Auch die nächsten Zimmer bis 123 ließen sie frei, um dann alle Zimmer von 124 bis einschließlich 178 zu belegen, und so weiter. Der dortige Buchhalter hat gekündigt, als er den Belegungsgrad des Hotels berechnen sollte. Immer am Anfang einer belegten Suite war die Belegungszahl auf einem neuen Tiefstand, am Ende aber stets 1/2. Wenn man also unten Maß nahm, war der Belegungsgrad null, wenn man oben Maß nahm, war er 50 Prozent.“ Wir bedauerten den armen Buchhalter, der solch tückischen Streichen zum Opfer gefallen war. „Man muss schon aufpassen“, bestätigte der Direktor, „aber mit etwas Geschick lässt sich die Belegung sehr fein steuern. Wenn ich etwa einen Reisebus mit abzählbar unendlich vielen Gästen auf eine Etage lege, beträgt deren Besetzungsgrad 100 Prozent und der aller anderen Etagen null. Wenn außerhalb der Saison nicht viel los ist, kann ich dagegen mit einem einzigen Reisebus sämtliche Zimmer des Hotels belegen.“ Die Menge der rationalen Zahlen ist abzählbar … Das Problem, dass Zimmer nicht zu knapp, sondern zu reichlich vorhanden sein könnten, war uns neu. Aber der Hoteldirektor erläuterte uns bereitwillig das Diagonalisierungsverfahren, durch das er mit einer Busladung vom Typ w ein Hotel der Ordnung w2 zu füllen imstande war: „Der erste Fahrgast erhält das erste Zimmer der ersten Etage. Der zweite Fahrgast kommt in das erste Zimmer der zweiten Etage, der dritte hingegen in das zweite Zimmer der ersten Etage. Die nächsten drei Gäste erhalten das erste Zimmer der dritten Etage, das zweite Zimmer der zweiten Etage und das dritte Zimmer der ersten Etage. Die Gäste Nummer sieben bis zehn erhalten die Zimmernummern w4+1, w3+2, w2+3, w1+4, und so weiter.“ Ich fand das bereits Schwindel erregend, doch der Hoteldirektor war erst am Anfang seiner Möglichkeiten. „Einmal kam ein Bus, dessen Insassen sich nicht ausstehen konnten. Jeder wollte auf seinem Flur alleine sein und 1000 Stockwerke über und unter sich keinen Menschen haben. Na gut; wenn es sein muss, geht sogar noch mehr: Ich kann unendlich viele Gäste so unterbringen, dass der Belegungsgrad aller Etagen zusammen ebenso wie der jeder einzelnen Etage noch immer null ist: Gast Nummer n kommt nach Zimmer 1 in Stockwerk 1000n.“ Da zur Zeit ohnehin nur endlich viele Gäste im Hotel waren, herrschte himmlische Ruhe. Das war am nächsten Morgen schlagartig vorbei. Zum großen Fußball-Pokalspiel zwischen dem 1. FC Zermelohausen und Eintracht Fraenkelstadt reisten die Fans der ersten Mannschaft in einer unendlichen Kolonne von w Bussen an, und in jedem Bus saßen w Fans. Nun waren also w2 Gäste auf w2 Zimmer zu verteilen. Das schien ganz einfach, doch unter den bereits anwesenden Gästen entstand große Unruhe. Wir fürchteten, doch umziehen zu müssen, und wollten vor allem nicht in der Nähe der Fußballfans wohnen, da diese bekanntlich die ganze Nacht feierten. Der Direktor bemühte sich, uns alle zu beruhigen. Er sagte uns 80 Stockwerke Mindestabstand zu den Grölern zu und verkündete über Lautsprecher zu den auf dem Vorplatz wartenden Fußballfans: „Der k-te Fahrgast aus dem n-ten Bus erhält die Zimmernummer w(100+2n–2)+k.“ Nun erst konnten wir die Vorzüge des neuen Hotels richtig würdigen. Vorbei die Zeiten, da in Buskolonnen ankommende Gäste sich mühsam in Quadraten aufstellen oder umständliche Rechnungen ausführen mussten. Die Insassen des ersten Busses belegten jetzt einfach die gesamte 100. Etage, die des nächsten Busses stürmten in die 102. Etage, die des dritten Busses gingen in die 104. Etage, und so weiter. Jeder erhielt die Platznummer, die er im Bus hatte, als Zimmernummer auf seiner Etage. Ab der Nummer 100 waren somit alle geraden Etagen voll besetzt. Der Belegungsgrad des Hotels war schlagartig auf 50 Prozent gestiegen. Kurz darauf trafen die Fans der Eintracht Fraenkelstadt ein. Auch sie hatten eine ganze Kolonne von Bussen organisiert, wieder warteten w2 Gäste auf Einlass ins Hotel. Aber der Hoteldirektor wies sie nicht einfach in die ungeraden Etagen ein, sondern ließ in weiser Voraussicht von den noch verfügbaren Etagen jede zweite frei: „Der k-te Fahrgast aus dem n-ten Bus erhält die Zimmernummer w(101+4n–4)+k“ – womit die Fraenkelstädter Fans busweise die Etagen 101, 105, 109 und so weiter belegten. Sie beklagten sich zwar darüber, dass sie alle die gegnerischen Fans über und unter sich erdulden müssten, während diese wenigstens entweder oben oder unten nicht behelligt würden. Aber die Ungleichheit halbierte sich alsbald, denn schon fuhr eine weitere w-Kolonne von w-Bussen vor: Weinfestbesucher. Diesmal kam der k-te Insasse des n-ten Busses nach Zimmer w(103+8n–8)+k. Der Besetzungsgrad des Hotels erreichte 87,5 Prozent, und für beliebig viele weitere Buskolonnen war noch Platz. Die Weintrinker jedoch sagten, sie seien der Geselligkeit halber unterwegs, und da wollten sie nicht mit den alten Bekannten auf einer Etage sein, die schon im Bus ihre Nachbarn gewesen waren. Und die nächsten Reisenden aus einem anderen Bus seien acht Etagen entfernt. Nun musste doch wieder der Direktor gerufen werden. Nach kurzem Nachdenken verkündete er eine neue Einteilung: „Der k-te Fahrgast aus dem n-ten Bus ziehe nach Zimmer Nummer w(103+8k–8)+n.“ Ein großes Rennen hin und her setzte ein. Nur diejenigen Weinfreunde, bei denen die Platznummer im Bus mit der Nummer des Busses übereingestimmt hatte, blieben in ihren bisherigen Hotelzimmern. Am Ende waren genau dieselben Zimmer belegt wie vorher. Aber keiner unter den Bacchusjüngern hatte einen Busgenossen auf seiner Etage. Wir wunderten uns, dass der millionste Gast aus dem 127. Stockwerk für seinen Umzug nicht wesentlich länger brauchte als der tausendste, obgleich er doch auf dem Flur an einer Million Zimmern vorbei musste. Der Direktor lächelte: „Sie wissen doch, dass die Flure nur endliche Länge haben. Es sind die Zimmer, die immer schmäler werden – und mit zunehmender Stockwerkszahl immer niedriger.“ „Aber wieso gehen diese wohlbeleibten Weinfreunde dann überhaupt noch durch die Tür?“ Der Direktor zog uns beiseite und flüsterte uns zu: „Der Raum komprimiert die Gäste, ohne dass sie es merken. Der dickste Schlucker wird dünn wie ein Strich, wenn er an den Teil des Flures mit den hohen Zimmernummern gerät. Dagegen bleibt seine Schrittlänge unverändert, so dass er glaubt, Siebenmeilenstiefel – nein: 10n-Meilen-Stiefel – zu tragen. Das war im Bus auch schon so. Aber erzählen Sie es nicht weiter, sonst kommen die Leute und behaupten, Atome könnte man nicht komprimieren. Und Diskussionen mit Vertretern der Realität sind immer ziemlich ätzend.“ Von einem der Fußballfans erfuhren wir, dass im Cantorland der Fußballsport etwas anders betrieben wird als bei uns. Zwar dauert dort das ganze Spiel ebenfalls 90 Minuten, davon die erste Spielzeit 45 Minuten, gefolgt von 10 Minuten Pause. Doch die zweite Spielzeit dauert nur 22,5 Minuten, worauf fünf Minuten Pause folgen. Erneut werden dann die Seiten gewechselt und in der ursprünglichen Richtung weitere 11,25 Minuten gespielt, und so weiter, jede Spielzeit und jede Pause genau halb so lang wie die unmittelbar vorangehende. Genau 110 Minuten nach dem Anpfiff ertönt der Schlusspfiff. Auf welcher Seite stehen in diesem Moment die Mannschaften? Wir konnten die erregte Debatte darüber nicht zu Ende führen, da es neue Aufregung gab. Die Menge der rationalen Zahlen ist abzählbar … Bisher waren alle Gäste stets wohlgeordnet angekommen. Als aber der unscheinbare Bus mit der Aufschrift „Freundeskreis der Pythagoreer“ vorfuhr, stieß der Buchhalter einen Verzweiflungsschrei aus und rannte zur Tür, um sie zu verrammeln. Doch es gelang ihm nur, einen Türflügel zu versperren, da ergoss sich durch den anderen bereits ein dichter Strom von Gästen. Durch die verengte Tür konnte zwar nur immer einer auf einmal das Hotel betreten, doch das änderte nichts am Geschiebe und Gedränge. Der Buchhalter packte sich einen der Pythagoreer und versuchte mit der anderen Hand dessen Nachfolger zu ergreifen. Doch vergeblich. So schnell und beherzt er auch zugriff, zwischen zwei festgehaltenen Gästen war stets noch ein dritter hineingeflutscht. Genau eine Minute lang strömten derart die Pythagoreer ins Hotel. Der Vorsitzende des Vereins hatte als erster das Hotel betreten, der Schatzmeister als letzter. Doch dazwischen herrschte das heillose Durcheinander. In der ganzen Menge war kein Pärchen auszumachen, das unmittelbar aufeinander folgend das Hotel betreten und so einen Anhaltspunkt für eine Abzählung geboten hätte. Der Portier rief entsetzt: „Das ist das Kontinuum!“ und wollte schon die Flucht ergreifen. Doch der Hoteldirektor packte ihn am Schlafittchen und rief: „Schön rational bleiben! Jeder Gast merkt sich genau den Zeitpunkt, zu dem er das Hotel betreten hat!“ Und in der Tat: Die Pythagoreer machten ihrem Verein Ehre. Für zwei beliebige Vereinsmitglieder standen die Eintrittszeiten im Verhältnis ganzer Zahlen zueinander. „Wir sind gerettet“, rief der Direktor, „sie sind abzählbar!“ Auf unsere fragenden Blicke erläuterte er: „Wir können die Eintrittszeit eines jeden Pythagoreers als Bruchteil der Gesamtzeit angeben. Einen Bruch mit ganzzahligem Zähler und Nenner. Wir brauchen also nur für w Nenner jeweils endlich viele Zähler durchzugehen.“ Und schon wies er den ganzen Verein in die 26. Etage ein. Der Vorsitzende mit t=0 erhielt das erste Zimmer, der Schatzmeister mit t=1 oder 60 Sekunden das zweite Zimmer. Sodann rief der Direktor den Gast auf, der eine halbe Minute nach dem Vorsitzenden das Hotel betreten hatte. Die nächsten beiden Zimmer gingen an die Gäste mit 20 und 40 Sekunden, dann waren die mit 15 und 45 Sekunden an der Reihe – der 30-Sekunden-Mensch war ja schon abgefertigt –, weiter ging es mit den Gästen, die 12, 24, 36, 48, 10 und 50 Sekunden als Eintrittszeit benannten. Während der Direktor die Bruchteile der Minute mit immer größeren Nennern durcharbeitete, ging mit wachsender Routine die Zimmerzuteilung immer rascher vonstatten. Für die 100 Gäste, die k/101 Minuten nach dem Vorsitzenden gekommen waren, brauchte man nur noch die Zeit eines Augenaufschlags. Noch viel weniger Zeit beanspruchte die Einquartierung der insgesamt 720 Gäste, die sich beim Aufrufen der 1001. Minutenteile meldeten. Und die 9792 Gäste, die bei den 10001. Minutenteilen an die Reihe kamen, waren in weit weniger als dem 10000. Teil einer Minute abgefertigt. Nach kaum einer Viertelstunde waren alle Pythagoras-Freunde auf den Zimmern der 26. Etage untergebracht, die damit komplett gefüllt war. Dieses erleichterte Aufatmen währte aber nur kurz: Schon wieder fuhr ein Bus ohne Sitzplätze vor. Die gesamte Ferrari-Grundschule unternahm einen Schulausflug. Zum Glück war noch immer der eine Türflügel des Hotels geschlossen, so dass auch die Schüler nur einzeln das Hotel betreten konnten. Bunt gemischt strömten alle vier Schulklassen binnen genau einer Minute herein. Es war unmöglich, zwei noch so kurz hintereinander hereinkommende Schüler zu schnappen, ohne Angehörige sämtlicher vier Jahrgänge dazwischen zu haben. Ja, es gab nicht einmal einen ersten oder letzten unter den Eintretenden. Etwas verunsichert versuchte der Portier die geschwätzigen Gören nach derselben Methode auf die Zimmer zu verteilen wie soeben die Pythagoreer. Dabei stellte sich zu seiner Überraschung heraus, dass er genau allen Erstklässlern einen Schlüssel in die Hand drücken konnte; doch die Schüler der anderen drei Klassen standen noch immer feixend und zunehmend ungeduldig in der Hotel-Lobby. … und die Menge der algebraischen Zahlen auch Wieder musste der Direktor zu Hilfe gerufen werden. Mit der Kraft seiner Autorität ging er die inkommensurablen Schüler an und fragte einen Zweitklässler nach seiner Eintrittszeit. Die Antwort: „Meine Eintrittszeit ist genau die Hälfte ihres Kehrwertes.“ Die Kinder hatten in der zweiten Klasse bereits Bruchrechnung gehabt. Andere Klassenkameraden lieferten noch Ant-worten wie „Meine Eintrittszeit erhält man, wenn man von ihrem Kehrwert die Gesamtzeit abzieht“ oder „Meine Eintrittszeit ist genau ein Drittel ihres Kehrwertes“. Nachdem endlich viele Zweitklässler so ihre Zeiten angesagt hatten – sämtlich mit Rechenaufgaben, in denen ihre Eintrittszeit sowohl über als auch unter einem Bruchstrich vorkam –, dämmerte es dem Direktor. Bereitwillig erläuterte er uns seine neue geniale Idee: „Die Pythagoreer und die erste Schulklasse konnten wir einquartieren, indem wir nutzten, dass ihre Eintrittszeit t zur Gesamtzeit – die wieder gleich 1 ist – im Verhältnis ganzer Zahlen steht: nt=m. Nun haben wir dasselbe, nur unter der Einbeziehung der Kehrwerte: nt=k(1/t)–m. Statt der Koeffizienten m und n zählen wir jetzt einfach die Koeffizienten k, m und n ab.“ Tatsächlich waren nach wenigen Minuten alle Schüler der zweiten Klasse auf den Zimmern einer Etage untergebracht, selbst so komplizierte Typen wie der Junge, der erklärte, seine Eintrittszeit erhalte man, wenn man von einem Drittel des Kehrwertes zwei Fünftel der Gesamtzeit abziehe. Auf manchen Aufruf meldete sich gar niemand, weil die entsprechenden Kinder in der ersten Klasse sitzen geblieben waren, wie etwa der Knabe, dessen Eintrittszeit gleich einem Viertel ihres Kehrwerts war. Auf andere Aufrufe dagegen meldeten sich gleich zwei, die dann in der Reihenfolge ihres Eintretens Zimmer zugeteilt bekamen. Übrig blieben – vollzählig – die Angehörigen der dritten und der vierten Klasse. „Wenn ich es mir recht überlege“, sprach der Direktor, „sind die Kehrwertangaben unserer Zweitklässler nichts weiter als quadratische Gleichungen, denn ob ich nt=k(1/t)–m sage oder nt2+mt=k, bleibt sich gleich. Der Erste, den ich fragte, hat im Wesentlichen t=1/(2t) gesagt; das ist dasselbe wie 2t2=1. Wenn das so weitergeht, müssten wir die Jungs und Mädels aus der dritten Klasse mit kubischen Gleichungen fangen können.“ Und tatsächlich folgten die Drittklässler brav und wohlgeordnet, als der Direktor der Reihe nach alle kubischen Gleichungen von der Gestalt n0t3+n1t2+n2t=n3 durchging. Und die Viertklässler waren mit Gleichungen der Gestalt n0t4+n1t3+n2t2+n3t=n4 zu disziplinieren. Als sich das Gewusel etwas gelegt hatte, gab der Hoteldirektor zur Feier des Tages eine Runde Getränke für jeden Gast aus. Was ihm allerdings keinen großen Schaden tat, da er seine Angestellten anwies, dass der Getränkevorrat des Hotels dabei so unendlich bleiben müsse wie zuvor. Fortsetzung folgt im nächsten Heft.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2000, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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