Normung als Wirtschaftsfaktor
Bremst oder stimuliert die Einführung von Normen den Innovations-prozeß? Eine empirische Untersuchung belegt, daß technische Normen gesamtwirtschaftlich sogar noch bedeutender sind als Patente.
Für ein Hochtechnologieland wie Deutschland sind Innovationen eine wichtige Quelle für die Wettbewerbsfähigkeit und das Wirtschaftswachstum. Doch Innovationen allein reichen für den wirtschaftlichen Erfolg nicht aus: Neue Produkte und verbesserte Verfahren müssen sich auch am Markt möglichst rasch und breit durchsetzen. Dies bedeutet, daß das nationale Innovationssystem nicht nur Innovationen stimulieren, sondern zugleich deren Verbreitung gewährleisten muß.
Hierbei kommt der technischen Normung eine äußerst wichtige Rolle zu; sie fördert die Verbreitung neuer Ideen, Produkte und Technologien, indem sie technische Spezifikationen festlegt und dokumentiert, die dann von jedermann genutzt werden können. Im Gegensatz hierzu wird durch ein Patent – zumindest für eine gewisse Zeit – ein ausschließliches Nutzungsrecht definiert, was zunächst dem Diffusionsprozeß abträglich ist.
Eine moderne Volkswirtschaft sollte aus diesem Grunde die Wirkung des bisher eher unbeachteten, oder gar als ungeeignet angesehenen Instruments "Normung" analysieren und daraus die entsprechenden Schlüsse für die Praxis ableiten. Das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe hat nun gemeinsam mit der Technischen Universität Dresden den Zusammenhang zwischen dem technischen Wandel und der Normung sowie deren Einfluß auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik detailliert untersucht. Auftraggeber der Studie waren das Deutsche Institut für Normung und das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.
Lebensdauer von Normen im technischem Wandel
In einem ersten Untersuchungsschritt ergründeten die Fraunhofer-Wissenschaftler die Beziehungen zwischen dem Innovationssystem auf der einen und dem Normungswesen in seiner Rolle als Verbreitungssystem auf der anderen Seite. Dazu bedienten sie sich einer erweiterten Indikatorik, die den technischen Wandel anhand der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, anhand der Patentanmeldungen am Deutschen Patentamt sowie mittels Normen und technischer Regeln beschreibt.
Auf Basis der international üblichen Klassifizierung der Normendokumente ergeben sich bereits signifikante Wechselbeziehungen zwischen den Patentanmeldungen und dem Bestand beziehungsweise dem jährlichen Zuwachs an technischen Regeln und Normen. Die Analysen zeigen, daß in innovativen Feldern entsprechend öfter Normen entwickelt werden als in innovationsschwachen Technikgebieten. Dies wird auch durch eine positive Korrelation mit Branchenausgaben für Forschung und Entwicklung bestätigt.
Um diesen augenscheinlich positiven Zusammenhang zwischen Innovationen und Normung näher zu überprüfen, untersuchte das ISI ferner, inwieweit die Dynamik des technischen Wandels den aktuellen Zuwachs und damit den Bestand an Normen beeinflußt. Als Maß für die Dynamik des technischen Wandels kann dabei die Anzahl der jährlichen Patentanmeldungen und die Höhe der jährlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung angesehen werden. Es zeigt sich, daß beide Indikatorvariablen einen signifikant positiven Einfluß auf die Entwicklung des Normenzuwachses haben.
Dieses Ergebnis wird zudem durch eine Analyse gestützt, die sich auf die "Lebensdauer" von Normen konzentriert. Im allgemeinen reduziert sich dieser Wert, je dynamischer der technische Wandel verläuft. Gleichwohl kann es in Einzelfällen durchaus sein, daß bestehende Normen nicht rechtzeitig dem veränderten Stand der Technik angepaßt werden oder in neue Normen – auch bedingt durch den notwendigen Konsens im Normungsprozeß – nicht die technologisch gesehen besten Lösungen einfließen. Insgesamt läßt sich aus diesen Befunden jedoch schließen, daß sich das deutsche Normenwesen den Bedürfnissen des technischen Wandels grundsätzlich adäquat anpaßt.
Umgekehrt stellt sich die auch in der Diskussion über den "Standort Deutschland" aufgeworfene Frage, ob und inwieweit die Normenbestände das Innovationspotential Deutschlands behindern oder doch eher stimulieren. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß Innovationen langfristig auch durch eine Anzahl weiterer Faktoren – wie den Forschungs- und Entwicklungsaufwand der Industrie und das öffentliche Bildungs- und Forschungswesen – maßgeblich mitbestimmt werden. Dennoch kann – vielleicht entgegen mancher Vorurteile – grundsätzlich kein negativer Einfluß der Normung auf die Innovationstätigkeit in Deutschland festgestellt werden.
Aufgrund der vorliegenden empirischen Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen technischem Wandel und Normung läßt sich eine Reihe von allgemeinen Empfehlungen für die Normungspraxis ableiten.
Wegen der positiven Korrelation der Innovation mit dem Normenwesen ist beispielsweise darauf zu achten, daß sich die Wahl der Themen und Sachgebiete am technischen Wandel und am aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik orientiert.
Unabhängig von der bisher geübten Praxis, bestehende Normen regelmäßig spätestens alle fünf Jahre zu überprüfen, empfehlen die Wissenschaftler des ISI daher, den Normenbestand intensiver und systematischer daraufhin zu durchforsten, ob er noch dem Stand der Technik entspricht. Dies ist insbesondere in Technikgebieten mit sehr kurzen Produktlebens- oder Entwicklungszyklen wichtig wie zum Beispiel in der Informations- und Kommunikationstechnik. Im Zweifel sind die betreffenden Normendokumente unmittelbar zurückzuziehen.
Um das aktuell verfügbare technische Know-how in neue Normungsprojekte integrieren zu können, sind das Engagement und die Erfahrung insbesondere derjenigen Unternehmen zu gewinnen, die in ihren Branchen Technologieführer sind.
Da der Wohlstand in Deutschland sehr stark von Erlösen aus dem Export abhängt und mit dem Transfer von nationalen Normen in europäische und internationale Normungsprojekte frühzeitig das Feld für den Export von High-Tech-Produkten bereitet werden kann, nutzen bezeichnenderweise exportintensive Branchen die Normung stärker. Jedoch ist darauf zu achten, daß sie nicht für Handelshemmnisse mißbraucht wird und den freien Welthandel einschränkt.
Gesamtwirtschaftlicher Nutzen der Normung
Insgesamt spielen technische Regeln und Normen mit ihrer Katalysatorwirkung für die Diffusion neuen technischen Wissens eine wichtige Rolle im Innovationssystem Deutschlands. Ihr prozentualer Beitrag zu dem Wirtschaftswachstum kann durch ökonometrische Schätzung einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion näherungsweise ermittelt werden.
Bisherige betriebs- und volkswirtschaftliche Schätzungen bezifferten den volkswirtschaftlichen Nutzen der Normung auf bis zu 30 Milliarden Mark pro Jahr beziehungsweise auf ungefähr ein Prozent des Bruttosozialprodukts. Diese Untersuchungen waren jedoch von einem betriebswirtschaftlichen Ansatz ausgegangen, haben den Nutzen als ein Prozent des Umsatzes ausgemacht und in einem Analogieschluß auf die gesamte Volkswirtschaft übertragen. Die Fraunhofer-Forscher haben im Gegensatz dazu einen volkswirtschaftlichen Untersuchungsansatz gewählt, der auch die positiven Externalitäten technischer Normen für die Gesamtwirtschaft einbezieht.
Das jährliche Wachstum einer Volkswirtschaft läßt sich analog zur Umsatzsteigerung eines einzelnen Unternehmens durch die Entwicklung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie des technischen Fortschritts erklären. Die Untersuchung des ISI umfaßt die Jahre von 1960 bis 1996 und konzentriert sich dabei auf das Wachstum im Unternehmenssektor. Hinsichtlich der Bedeutung der drei Faktoren hat der Kapitalstock erwartungsgemäß den höchsten Anteil am Wachstum, dicht gefolgt vom technischen Fortschritt.
Dieser wiederum setzt sich aus drei Indikatoren zusammen, und zwar aus dem "Bestand an erteilten Patenten beim Deutschen Patentamt", den "Ausgaben für die Nutzung ausländischer Lizenzen" als Maß für den immer wichtiger werdenden Technologieimport und dem Verbreitungsindikator "Bestand an Normen und technischen Regeln", der auch die übernommenen europäischen und internationalen Normen enthält. Dem Befund zufolge nehmen Normen in Bezug auf den technischen Fortschritt sogar eine bedeutendere Rolle ein als die Patente. Über den gesamten Untersuchungszeitraum haben sie einen Anteil von 27 Prozent am gesamten Wirtschaftswachstum des Unternehmenssektors.
Grundsätzlich bestätigt dieses Ergebnis die aus früheren Untersuchungen abgeleiteten Nutzen-Dimensionen. Noch genauere Aussagen werden in Kürze möglich sein, wenn die von der TU Dresden durchgeführte Befragung von mehr als 2500 Unternehmen aus insgesamt elf verschiedenen Branchen ausgewertet ist. Ähnliche Befragungen wurden in Österreich und in der Schweiz durchgeführt.
Doch schon vor dem abschließenden Vergleich mit den Resultaten der Unternehmensbefragung macht das Ergebnis des ISI deutlich, daß nicht allein das Potential an vorhandenen Innovationen, sondern insbesondere deren erfolgreiche Verbreitung einen entscheidenden Faktor für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung darstellen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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