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Schwerkraft-Billard im Sonnensystem

Vor Jahrmilliarden sah unser Sonnensystem anders aus als heute. Vor allem die äußeren Planeten veränderten ihre Bahnen durch gravitative Wechselwirkung und Beinah-Kollisionen.

Im vertrauten Bild des Sonnensystems kreist jeder Planet auf seiner wohldefinierten Bahn um die Sonne und hält zu den Nachbarn respektvollen Abstand. Dieses Himmelskarussell hat sich, seit Astronomen seine Bewegungen aufzeichnen, nicht verändert. Mathematischen Modellen zufolge existiert diese äußerst stabile Konfiguration schon fast so lange wie unser 4,5 Milliarden Jahre altes Sonnensystem. Darum liegt die Annahme nahe, daß die Planeten bereits auf den heutigen Bahnen entstanden sind.

Sicherlich ist dies die einfachste Hypothese. Die Astronomen sind bisher stets davon ausgegangen, daß die gegenwärtigen Abstände der Planeten auch ihre Geburtsstätten im Sonnennebel markieren – in der primordialen Staub- und Gasscheibe, aus der unser Planetensystem einst hervorgegangen ist. Die heutigen Bahnradien dienten dazu, die Massenverteilung im Sonnennebel zu schätzen; aus ihr wiederum haben die Theoretiker auf die Art und den zeitlichen Ablauf der Planetenentstehung geschlossen. Somit beruht unser Bild von der frühen Geschichte des Sonnensystems großenteils auf der Annahme, daß die Planeten schon immer dort waren, wo sie heute sind.

Andererseits bezweifelt kaum jemand, daß viele der kleineren Körper im Sonnensystem – Asteroiden, Kometen und Monde – ihre Bahnen in den letzten 4,5 Milliarden Jahren teilweise recht drastisch verändert haben. Der Einschlag des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf Jupiter im Jahre 1994 war ein spektakulärer Hinweis auf die Dramatik mancher Vorgänge im Sonnensystem. Noch kleinere Objekte – interplanetare Staubteilchen, die tausendstel Millimeter bis einige Millimeter groß sind und sich von Asteroiden oder Kometen gelöst haben – verändern ihre Umlaufbahn nur ganz allmählich. Sie nähern sich auf Spiralbahnen der Sonne und regnen auf die Planeten herab, denen sie unterwegs begegnen.

Auch die Bahnen vieler Monde haben sich seit ihrer Entstehung deutlich verlagert. Zum Beispiel ist der Erdmond, dessen Bahnradius heute rund 384000 Kilometer beträgt, vermutlich nur 30000 Kilometer von der Erde entfernt entstanden. Er hat durch die Rückwirkung der auf die Erde ausgeübten Gezeiteneffekte – sie bremsen die Erdrotation und beschleunigen dafür den Mondumlauf – allein in der letzten Jahrmilliarde seinen Abstand um fast 100000 Kilometer vergrößert. Viele Satelliten der äußeren Planeten laufen auf gebundenen Bahnen: Beispielsweise ist die Umlaufperiode von Jupiters größtem Mond Ganymed doppelt so groß wie die des nächstinneren, Europa, der wiederum doppelt so lange für einen Umlauf braucht wie der nächste, Io. Diese exakte Synchronisation scheint das Ergebnis einer graduellen Evolution der Satellitenbahnen zu sein, verursacht durch die Gezeitenkräfte des Planeten.

Doch bis vor fünf Jahren gab es kaum Grund zu der Vermutung, auch die Planeten selbst könnten ihre Bahnen seit Anbeginn merklich verlagert haben. Das neue Bild der wandernden Planeten hängt mit dem Kuiper-Gürtel zusammen (siehe "Der Kuiper-Gürtel" von Jane X. Luu und David C. Jewitt, Spektrum der Wissenschaft, Juli 1996, S. 56). Seine Entdeckung zeigte, daß das Sonnensystem nicht mit dem Planeten Pluto endet: Rund 100000 eisige Kleinplaneten – mit Durchmessern zwischen 100 und 1000 Kilometern – und eine noch größere Zahl kleinerer Objekte umringen die Sonne in einem Gebiet, das sich von der Bahn des Planeten Neptun (rund 4,5 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt) bis zum Doppelten dieser Distanz erstreckt. Die detaillierte Verteilung der Kuiper-Gürtel-Objekte läßt sich durch das gängige Modell des Sonnensystems nicht ausreichend erklären. Theoretische Modellrechnungen eröffnen jedoch die faszinierende Möglichkeit, daß der Kuiper-Gürtel noch heute Spuren einstiger Planetenbahnen trägt, die auf eine langsame Bahnwanderung der gasförmigen Riesenplaneten hindeuten.

Außerdem sind kürzlich bei einigen nicht allzu weit entfernten sonnenähnlichen Sternen jupitergroße Begleiter mit extrem engen Umlaufbahnen entdeckt worden. Auch dies hat Anlaß zu Spekulationen über Bahnwanderungen gegeben; denn es ist kaum zu erklären, wie die mutmaßlichen Planeten in so geringen Abständen vom Zentralgestirn entstehen konnten. Eine Hypothese besagt, sie hätten sich ursprünglich in gebührendem Abstand gebildet – etwa so weit von ihrem Stern entfernt wie Jupiter von der Sonne – und seien erst später zu ihren jetzigen Positionen gewandert.

Bis vor einigen Jahren waren Pluto und sein Mond Charon die einzigen bekannten planetaren Objekte jenseits des Neptuns. Pluto paßte seit jeher schlecht ins herrschende Bild vom Ursprung des Sonnensystems: Er ist tausendfach ärmer an Masse als die vier äußeren Riesenplaneten, und seine Bahn weicht stark von den säuberlich getrennten, fast kreisförmigen und in einer Ebene liegenden Bahnen der übrigen acht Planeten ab. Pluto verhält sich in mehrfacher Hinsicht exzentrisch: Während eines Umlaufs variiert sein Sonnenabstand zwischen 29,7 und 49,5 Astronomischen Einheiten (eine Astronomische Einheit, AE, entspricht rund 150 Millionen Kilometern, der mittleren Entfernung zwischen Erde und Sonne). Zugleich schwingt sich Pluto bis zu 8 AE über beziehungsweise 13 AE unter die mittlere Ebene der anderen Planetenbahnen (siehe die obenstehende Graphik). Außerdem schneidet er die Neptun-Bahn: Während eines Umlaufs, der 248 Jahre dauert, ist Pluto etwa zwei Jahrzehnte lang der Sonne näher als Neptun.

Seit der Entdeckung im Jahre 1930 hat sich das Rätsel um den exzentrischen Planeten noch vertieft. Rechnerisch erweisen sich die meisten Bahnen, die den Neptun-Orbit kreuzen, als instabil; entweder kollidiert ein solcher Exzentriker mit Neptun, oder er wird relativ bald – in weniger als einem Prozent des Alters unseres Sonnensystems – aus dem äußeren Planetensystem geschleudert. Doch die spezielle Bahn, die Pluto tatsächlich -beschreibt, wird durch ein Resonanzphänomen vor Begegnungen mit dem Gas-giganten geschützt. Pluto dreht exakt zwei Runden um die Sonne in der Zeit, in der Neptun drei absolviert: Zwischen den Umlaufperioden besteht eine 3:2-Resonanz. Damit ist garantiert, daß der größere Planet sich weit entfernt aufhält, wenn Pluto dessen Bahn kreuzt. Tatsächlich sinkt der Abstand der beiden nie -unter 17 AE.



Pluto: Außenseiter oder Kronzeuge?



Außerdem befindet sich Pluto in seinem Perihel – während der größten Annäherung an die Sonne – immer weit oberhalb der Neptun-Bahnebene; auch dadurch wird die Bahnstabilität langfristig gesichert. Computersimulationen der äußeren Planetenbahnen und ihrer gegenseitigen Störungen zeigen, daß das Verhältnis zwischen Pluto- und Neptun-Bahn Milliarden Jahre alt ist und auch für weitere Milliarden Jahre stabil bleiben wird. Pluto führt mit seinem Nachbarplaneten einen eleganten kosmischen Tanz auf und geht dabei dem Partner immerfort geschickt aus dem Weg.

Wie kam er zu einer so seltsamen Umlaufbahn? Früher gab es darauf nur spekulative Ad-hoc-Antworten, wobei man sich meist auf Begegnungen mit anderen Planeten berief. Doch neuerdings verstehen die Astronomen die komplexe Dynamik von Bahnresonanzen sehr viel besser – vor allem ihre zwiespältige Rolle im Sonnensystem, die einerseits für Chaos und andererseits für ungewöhnliche Stabilität sorgt (siehe "Gesetz und Ordnung im Universum: die KAM-Theorie" von Barbara Burke Hubbard und John Hubbard, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1994, S. 86). Aufgrund dieses Wissens wagte ich 1993 die Hypothese, Pluto sei etwas außerhalb der Neptun-Bahn entstanden und habe anfangs eine annähernd kreisförmige, gegenüber den anderen Planeten nur wenig geneigte Bahn beschrieben. Erst danach sei er durch Resonanz-Wechselwirkung mit dem Schwerefeld des Neptuns in seine heutige Bahn versetzt worden.

Diese Theorie funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß sich auch die Bahnen der großen Gasplaneten seit deren Bildung verschoben haben. Demnach hat es in der Frühgeschichte des Sonnensystems eine Phase planetarer Wanderjahre gegeben, und Plutos ungewöhnliche Bahn ist ein Indiz für diese Wanderschaft.

Deren Geschichte beginnt zu einem Zeitpunkt, als der Prozeß der Planeten-entstehung fast abgeschlossen war – aber nicht ganz. Die Gasriesen Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun hatten sich nahezu vollständig aus dem solaren Urnebel gebildet, aber zwischen ihnen blieb ein Rest von kleinen Planetesimalen zurück – Brocken aus Fels und Eis, meist nicht -größer als einige Dutzend Kilometer. Nun folgte eine langsamere Entwicklungs-phase, in der die Planetesimalen von den großen Planeten gestreut oder aufgesammelt wurden (siehe Darstellung auf den Seiten 32/33). Weil die Planeten den größten Teil der Planetesimale in weite oder offene Bahnen schleuderten – und damit praktisch aus dem Sonnensystem hinaus –, verloren sie letztlich an Bahn-energie und Bahndrehimpuls. Allerdings war dieser Verlust bei jedem der vier Riesenplaneten aufgrund ihrer unterschied-lichen Massen und Bahnradien ver-schieden groß.

Dies läßt sich insbesondere am sonnenfernsten Gasriesen studieren, dem Neptun. Anfangs war die mittlere spezifische Bahnenergie der Planetesimale (ihre Bahnenergie pro Masseneinheit) gleich der des Neptuns; somit hatte Neptun durch seine Gravitationswechselwirkung mit ihnen weder Energiegewinne noch -verluste. Doch später waren Planetesimale mit niedriger Bahnenergie in der Nähe des Neptuns Mangelware, weil sie in den Einflußbereich der anderen Riesenplaneten geraten waren; die meisten wurden schließlich durch Jupiter, das Schwergewicht unter den Gasriesen, ganz aus dem Sonnensystem geschleudert.

Darum überstieg mit der Zeit die mittlere spezifische Bahnenergie der Planetesimale die von Neptun selbst. Von nun an gewann Neptun durch Streuprozesse zusätzliche Bahnenergie und driftete auswärts. Auch Saturn und Uranus bekamen mehr Schwung und wanderten von der Sonne weg. Jupiter hingegen verlor Energie; sein Verlust glich den Gewinn der anderen Planeten und Planetesimale aus, und damit blieb die Gesamtenergie des Systems erhalten. Doch wegen Jupiters gewaltiger Masse und seines von Anbeginn enormen Guthabens an Bahnenergie und Bahndrehimpuls schrumpfte sein Orbit nur geringfügig.

Die Möglichkeit solch subtiler Bahnverschiebungen der Riesenplaneten wurde erstmals 1984 in einer kaum beachteten Arbeit von den Astronomen Julio A. Fernandez aus Uruguay und Wing-Huen Ip aus Taiwan durchgespielt, die am Max-Planck-Institut für Aeronomie in Katlenburg-Lindau tätig waren. Ihre Arbeit galt eher als Kuriosität und wurde von den führenden Theoretikern auf dem Gebiet der -Planetenentstehung nicht zur Kenntnis genommen, da seinerzeit keinerlei Beobachtungen die Hypothese stützten.

Im Jahre 1993 zeigte ich theoretisch, daß bei einer langsamen Expansion der Neptun-Bahn auch alle mit ihr in Resonanz stehenden Umlaufbahnen expandieren müßten. Tatsächlich wären diese hypothetischen Resonanz-Orbits an Pluto vorbeigezogen, sofern man annahm, der Planet habe ursprünglich eine fast kreisförmige, kaum geneigte Bahn jenseits des Neptuns beschrieben. Nach meinen Berechnungen wurde jedes derartige Objekt mit hoher Wahrschein-lichkeit von den Resonanz-Orbits quasi eingefangen und mit der Neptun-Wanderung auswärts getrieben. Während solche Körper nach außen wanderten, vergrößerten sich Exzentrizität und Neigung ihrer Bahn aufgrund der Resonanz mit dem Schwerkrafteinfluß des Neptuns; der Effekt gleicht dem Hochtreiben einer Kinderschaukel durch wiederholte kleine Schübe, deren Periode der Eigenfrequenz der Schaukel entspricht. Demnach ist die letztlich erreichte maximale -Exzentrizität ein direktes Maß für die Größe der Neptun-Wanderung. Dieser Theorie zufolge bedeutet die heutige Bahnexzentrizität des Pluto von 0,25, daß Neptun um mindestens 5 AE nach außen gewandert ist. Später konnte ich den Wert durch Computersimulationen auf 8 AE präzisieren; außerdem schätzte ich die Zeitspanne der Wanderung auf einige zehn Millionen Jahre.

Wäre Pluto das einzige Objekt jenseits des Neptuns, so ließe dieses Szenario sich allerdings nicht beweisen. Doch die Theorie macht spezifische Voraussagen über die Bahnverteilung im Kuiper-Gürtel, dem Überbleibsel der primordialen Planetesimalen-Scheibe jenseits des Neptuns. Vorausgesetzt, selbst die größten Körper im ursprünglichen Kuiper-Gürtel waren so klein, daß ihr Schwerkrafteinfluß auf die anderen Objekte im Gürtel vernachlässigbar blieb, so wirkten die dynamischen Resonanzeffekte nicht nur auf Pluto ein, sondern auf sämtliche Objekte jenseits des Neptuns, und trieben sie aus ihren ursprünglichen Bahnen. Infolgedessen müßten sich exzentrisch umlaufende Objekt-Häufungen bei den beiden stärksten Neptun-Resonanzen finden – bei 3:2 und 2:1. Das wären Ellipsen mit einer großen Halbachse von 39,5 beziehungsweise 47,8 AE.

Schwächer konzentrierte Ansammlungen sollten auch bei anderen Resonanzen – etwa bei 5:3 – zu finden sein. Innerhalb der 3:2-Umlaufbahn dürfte es hingegen kaum noch Objekte geben, da dieses Gebiet durch die Resonanz-Effekte gründlich leergefegt wäre; außerdem würde der Einfluß des Neptuns die Umlaufbahnen der restlichen Objekte destabilisieren. Hingegen sollten Planetesimale mit Bahnradien über 50 AE praktisch ungestört bleiben und noch immer in ihrer primordialen Verteilung weit draußen um die Sonne kreisen.

Glücklicherweise läßt sich diese Theorie anhand neuer Beobachtungen von Kuiper-Gürtel-Objekten (KGOs) überprüfen. Bis Mitte 1999 wurden mehr als 174 KGOs entdeckt. Die meisten haben Umlaufzeiten von mindestens 250 Jahren – das bedeutet, man hat bisher erst weniger als ein Prozent ihrer Bahn verfolgt. Dennoch sind für etwa 45 KGOs recht zuverlässige Bahnparameter berechnet worden (siehe Diagramm oben links). Sie zeigen keineswegs eine gleichmäßige Verteilung vorwiegend kreisförmiger und wenig geneigter Bahnen, wie sie für eine urtümliche, ungestörte Planetesimalen-Population zu erwarten wäre. Vielmehr finden sich in der Verteilung starke Hinweise auf Lücken und Häufungen. Ein Großteil dieser KGOs beschreibt exzentrische Bahnen mit 3:2-Resonanz wie der Planet Pluto, während es diesseits dieser Resonanz so gut wie keine KGOs gibt – in Übereinstimmung mit den Vorhersagen der Resonanztheorie.

Doch eine wichtige Frage bleibt: Treten KGOs mit einer 2:1-Resonanz – wie von der Theorie der Planetenwanderung verlangt – ungefähr gleich häufig auf wie solche mit 3:2-Resonanz? Und wie sieht die Bahnverteilung in noch größeren Entfernungen von der Sonne aus? Gegenwärtig ist die Bestandsaufnahme des Kuiper-Gürtels für eine bündige Antwort noch zu unvollständig. Am Weihnachtsabend 1998 entdeckte das Minor Planet Center in Cambridge (Massachusetts) erstmals ein KGO in 2:1-Resonanz mit Neptun, und zwei Tage später ein weiteres. Beide haben stark exzentrische Bahnen und könnten durchaus zu einer recht ansehnlichen Population ähnlicher KGOs gehören. Man hatte sie früher der 3:2- beziehungsweise der 5:3-Resonanz zugeordnet, doch neue Beobachtungen aus dem Vorjahr sprachen deutlich dagegen. Diese Episode zeigt, wie nötig es ist, die Bahnen schon bekannter KGOs kontinuierlich zu verfolgen, um ihre Bahnverteilung korrekt zu bestimmen. Andererseits dürfen wir die noch immer mageren Daten über KGO-Bahnen nicht überinterpretieren.

Obgleich andere Erklärungen noch nicht auszuschließen sind, liefert die KGO-Bahnverteilung immer stärkere Indizien für eine Planetenwanderung. Den Daten zufolge entstand Neptun rund 3,3 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt und wanderte dann 1,2 Milliarden Kilometer auswärts – eine Verlagerung um fast 30 Prozent seines heutigen Bahnradius. Bei Uranus, Saturn und Jupiter fiel die Wanderung geringer aus; sie betrug vielleicht nur 15, 10 beziehungsweise 2 Prozent. Für diese Planeten ist die Schätzung ungenauer, weil sie – im Gegensatz zu Neptun – keine unmittelbaren Spuren im Kuiper-Gürtel hinterlassen konnten.

Der größte Teil dieser Wanderung fand in weniger als 100 Millionen Jahren statt. Das ist zwar lange gegenüber der Phase der Planetenentstehung, die wohl weniger als 10 Millionen Jahre dauerte, aber kurz im Vergleich zu den 4,5 Milliarden Jahren, die unser Planetensystem alt ist. Das heißt, die Planetenwanderung ereignete sich noch in der Frühgeschichte des Sonnensystems, aber erst gegen Ende der Planetenentstehung. Die Gesamtmasse der gestreuten Planetesimale betrug etwa das Dreifache der Neptun-Masse. Das wirft die Frage auf, ob ein Planetensystem zu Beginn nicht noch größere Bahnverschiebungen erleiden muß: Am Anfang enthält die primordiale Scheibe aus Gas und Staub mehr Materie, und vielleicht konkurrieren beim Akkretionsprozeß zahlreiche Protoplaneten auf ähnlichen Bahnen.

In den frühen achtziger Jahren errechneten Peter Goldreich und Scott Tremaine am California Institute of Technology in Pasadena, daß die Gravitationskräfte zwischen einem Protoplaneten und der ihn umgebenden Gasscheibe sowie die Reibungsverluste im Gasmedium zu einem starken Austausch von Energie und Drehimpuls zwischen Protoplanet und Scheibe führen. Wenn die Scheibenmaterie knapp innerhalb und knapp außerhalb der Bahn des Protoplaneten auf ihn etwas unterschiedliche Kräfte ausübt, kann die Bahn sich rapide und drastisch verändern. Doch wiederum nahmen andere Forscher diese theoretische Möglichkeit seinerzeit kaum zur Kenntnis. Da die Astronomen nur unser Sonnensystem als Beispiel vor Augen hatten, nahmen sie weiterhin an, die Planeten seien auf ihren heutigen Bahnen entstanden.

Erst in den letzten fünf Jahren hat die Suche nach anderen Planetensystemen weitere Hinweise auf Bahnverlagerungen erbracht. Die Astronomen entdeckten bei mehreren nahen – weniger als 50 Lichtjahre entfernten – sonnenähnlichen Sternen verräterische Bewegungsschwan-kungen, die insgesamt auf mehr als ein Dutzend planetenähnliche Begleiter von der Masse des Jupiter in überraschend engen Umlaufbahnen schließen lassen. Den ersten dieser mutmaßlichen Planeten fanden zwei Schweizer Astronomen – Michel Mayor und Didier Queloz vom Genfer Observatorium – im Jahre 1995, als sie auf der Suche nach Doppelsternen das Himmelsobjekt 51 Pegasi beobachteten.

Ihre Entdeckung wurde bald durch die amerikanischen Astronomen Geoffrey W. Marcy und R. Paul Butler vom Lick-Observatorium bei San José (Kalifornien) bestätigt. In den vergangenen zehn Jahren haben systematische Suchprogramme fast 500 sonnenähnliche Sterne erfaßt; bis Juni 1999 wurden auf diese Weise 20 weitere Kandidaten für extrasolare Planeten identifiziert, die meisten von Marcy und Butler. Die Suchmethode beruht auf der Doppler-Verschiebung der Spektrallinien, die Schwankungen der Sterngeschwindigkeit relativ zum Beobachter erkennen läßt; die dadurch nachweisbare periodische Auslenkung des Zentralgestirns ergibt aber nur eine untere Grenze für die Massen der unsichtbaren Begleiter. Die meisten Kandidaten haben demnach eine Mindestmasse, die der des Jupiter entspricht, und einen Bahnradius von weniger als 0,5 AE.

Inwiefern ähneln diese Objekte den Planeten unseres Sonnensystems? Nach dem gängigen Modell der Planeten-entstehung bildeten sich die großen -Gasplaneten in zwei Schritten. Zunächst verklumpten verschiedene feste Planetesimale zu einem protoplanetaren Kern. Dieser Kern sammelte dann aufgrund seiner Schwerkraft eine massereiche Gashülle aus dem umgebenden Son-nennebel. Der gesamte Vorgang war -innerhalb von 10 Millionen Jahren ab-geschlossen; dies geht aus der beobachteten Lebensdauer anderer protoplanetarer Scheiben um junge sonnenähnliche Sterne hervor.

Doch in Abständen von weniger als 0,5 AE von einem Stern enthält die primordiale Scheibe zuwenig Masse für die Bildung fester protoplanetarer Kerne. Außerdem ist fraglich, ob ein Protoplanet auf derart enger Umlaufbahn genug Gas aufzusammeln vermag, um die massereiche Hülle eines jupiterähnlichen Planeten zu bilden. Das hat zum einen rein geometrische Gründe: Ein eng umlaufendes Objekt durchstreift ein viel kleineres Volumen als eines mit größerem Bahnradius. Zudem ist die Gasscheibe in der Nähe des Sterns heißer und kondensiert weniger bereitwillig um einen protoplanetaren Kern. Diese Überlegungen sprechen deutlich gegen die Entstehung von Riesenplaneten auf Bahnen mit sehr kurzer Periode.

Darum nehmen mehrere Theoretiker an, die mutmaßlichen extrasolaren Riesenplaneten seien mehrere AE vom Stern entfernt entstanden und anschließend nach innen gedriftet. Für die Wanderung werden drei Mechanismen diskutiert. Zwei gehen von einer Wechselwirkung zwischen Protoplanet und Akkretionsscheibe aus; dadurch können Planeten sich weit vom Entstehungsort entfernen, solange eine genügend massereiche Scheibe existiert.

Bei der von Goldreich und Tremaine unterstellten Wechselwirkung zwischen Scheibe und Protoplanet treibt letzterer praktisch in dem einwärts zum Stern strömenden Gas mit. Schließlich stürzt der Planet entweder in den Protostern oder er entkoppelt sich rechtzeitig von dem Gas. Der zweite Mechanismus beruht auf Wechselwirkung mit einer Scheibe aus Planetesimalen anstelle einer Gasscheibe: Ein Riesenplanet, der in eine sehr massereiche Planetesimalenscheibe eingebettet ist, tauscht demnach mit ihr durch gravitative Streuprozesse und resonante Wechselwirkungen Energie und Drehimpuls aus; dadurch schrumpft sein Bahnradius, bis er den – nur einige Sternradien vom Mutterstern entfernten – Innenrand der Scheibe erreicht.

Der dritte Mechanismus beruft sich auf Streuvorgänge zwischen großen Planeten, deren Bahnen so nahe beieinander liegen – entweder durch Zufall oder durch Planetenwanderung –, daß sie nicht auf Dauer stabil bleiben können. Das Ergebnis dieses Vorgangs ist nicht vorhersehbar, doch in der Regel kommen sehr exzentrische Bahnen heraus. In seltenen Fällen kann allerdings einer der Partner auf seiner elliptischen Bahn dem Zentralgestirn so nahe kommen, daß die Bremswirkung der Gezeitenkräfte ihn allmählich auf eine fast kreisförmige Umlaufbahn bringt, während der andere Planet in eine weite und stark exzentrische Bahn gestreut wird. Alle drei Mechanismen lassen großen Spielraum für die Bahnradien und -exzentrizitäten der letztlich übrigbleibenden Planeten.

Diese Erklärungsansätze sind mehr als nur eine kleine Zutat zum Standardmodell der Planetenentstehung. Sie widersprechen der herrschenden Auf-fassung, protoplanetare Scheiben um sonnen-ähnliche Sterne würden sich in der Regel unmittelbar zu stabilen Planetensystemen wie dem unseren entwickeln. Vielmehr ist durchaus denkbar, daß die meisten Planeten zunächst in instabilen Konfigurationen entstehen und erst durch anschließende Wanderungsprozesse je nach den anfänglichen Bedingungen in der Scheibe höchst unterschiedliche Systeme bilden. Um die Beziehung zwischen den neu entdeckten Begleitern anderer Sterne und den Planeten unseres Sonnensystems aufzuklären, sind gewiß noch zusätzliche Beobachtungen und Theorien nötig. Doch vermutlich werden sie die Idee stützen, daß Planeten zwischen Geburt und Reife auf Wanderschaft gehen.



Ein extrasolares Planetensystem?



Der Astronom R. Paul Butler vom Anglo-Australian Observatory gab im April 1999 erstmals die Entdeckung eines Planetensystems aus mehreren jupiterähnlichen Objekten bekannt, die einen sonnenähnlichen Stern umkreisen. Zuvor waren nur Systeme mit einem einzigen Begleiter gefunden worden. Das rund 40 Lichtjahre von uns entfernte Zentralgestirn – Ypsilon Andromedae – ist etwas massereicher und etwa dreimal leuchtkräftiger als die Sonne.

Butler schließt aus der Analyse seiner Daten, daß Ypsilon Andromedae drei Begleiter hat. Das innerste Objekt besitzt demnach mindestens 70 Prozent der Jupitermasse und umläuft den Stern auf einer fast kreisförmigen Bahn in nur 0,06 Astronomischen Einheiten (AE) oder rund 9 Millionen Kilometern Abstand. Der äußerste Begleiter ist mindestens viermal so massereich wie Jupiter und bewegt sich auf einer sehr exzentrischen Ellipse mit einem mittleren Radius von 2,5 AE – dem halben Radius der Jupiterbahn. Der mittlere Trabant hat mindestens doppelte Jupitermasse und eine schwach exzentrische Bahn mit einem mittleren Radius von 0,8 AE.

Sollte sich die Entdeckung bestätigen, so würde sie einen interessanten Anstoß für theoretische Modelle zur Entstehung und Entwicklung von Planetensystemen liefern. Mehrere Forscher (unter anderem ich) haben bereits errechnet, daß die mutmaßlichen Umlaufbahnen ziemlich instabil sein müßten. Die dynamische Stabilität des Systems würde sich allerdings bedeutend erhöhen, wenn es keinen mittleren Begleiter gäbe. Dies ist bemerkenswert, denn die Indizien für den mittleren Begleiter sind schwächer als die für die beiden anderen Objekte.

Das Ypsilon-Andromedae-System scheint allen theoretischen Mechanismen zu widersprechen, die eine Wanderung riesiger Planeten von entlegenen Entstehungsorten zu engen Umlaufbahnen verursachen könnten. Wenn Wechselwirkungen zwischen primordialer Scheibe und Protoplaneten die Bahnen verengt hätten, wäre der massereichste Begleiter höchstwahrscheinlich zuerst entstanden und sollte darum den Stern am engsten umkreisen – im Gegensatz zu den mutmaß-lichen Verhältnissen im Ypsilon-Andromedae-System. Wenn nur der innerste und der äußerste Begleiter wirklich existieren, könnte das System ein Beispiel für das Planeten-Streumodell abgeben: Zwei massereiche Begleiter driften zu benachbarten Bahnen und werden dann durch ihre Schwerkraft aneinander gestreut, wodurch der eine schließlich eine enge, fast kreisförmige Bahn beschreibt und der andere eine weite, exzentrische. Allerdings müßte nach diesem Szenario der massereichere Partner am Ende die enge und der andere die weite Bahn einnehmen – wiederum im Gegensatz zu dem Bild, welches das Ypsilon-Andromedae-System zu bieten scheint.



Könnte das System eine Mischform dieser beiden Szenarien repräsentieren? Wurde die Bahnverengung beim innersten Begleiter durch Wechselwirkung zwischen Scheibe und Protoplanet verursacht, bei den beiden anderen durch gegenseitige Streuung aufgrund ihrer Schwerkraft? Vielleicht waren aber auch ganz andere Prozesse beteiligt, zum Beispiel eine Aufspaltung der protostellaren Gasscheibe, die vermutlich Mehrfachsternsysteme und als Begleiter Braune Zwerge – eine Art Mittelding zwischen Riesenplanet und Stern – erzeugt. Falls der mittlere Begleiter nicht wirklich existiert, würde das System strukturell einem klassischen Dreifach-Sternsystem ähneln, das aus zwei einander eng umlaufenden Komponenten und einem dritten Stern mit weiter, exzentrischer Bahn besteht. Das alles bleibt freilich Spekulation, solange nicht mehr über die tatsächliche Anzahl der Begleiter im Ypsilon-Andromedae-System sowie über ihre Massen und Bahnparameter bekannt ist.

Mit heutiger Technik lassen sich ferne Planetensysteme, die unserem ähneln, nicht entdecken (siehe "Die Suche nach fernen Planetensystemen" von David C. Black, Spektrum der Wissenschaft, April 1991, S. 114). Erdähnliche Planeten auf engen Umlaufbahnen – oder jupiterähnliche Begleiter mit größeren Bahnradien – lenken das Zentralgestirn nicht genügend stark aus, um sich dadurch weit entfernten Beobachtern zu verraten. Darum wäre es verfrüht, über die astronomische Häufigkeit erdähnlicher Planeten zu spekulieren. Eher werden umgekehrt die kürzlich entdeckten Begleiter anderer Sterne das Verständnis für die Entstehung und Entwicklung unseres eigenen Sonnensystems mehren.



Literaturhinweise

Newton's Clock: Chaos in the Solar System. Von Ivar Peterson. W. H. Freeman, 1993.

Detection of Extrasolar Giant Planets. Von Geoffrey W. Marcy und R. Paul Butler in: Annual Review of Astronomy and Astrophysics, Bd. 36, S. 57 – 98 (1998).

Dynamics of the Kuiper Belt. Von Renu Malhotra et al. in: Protostars and Planets IV. Von

V. Mannings et al. (Hg.). University of Arizona Press (im Druck). Im Internet erhältlich unter: http://astro.caltech.edu/~vgm/ppiv/preprint


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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