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Umweltgifte - der Fall der Weißwale im Sankt-Lorenz-Strom

Obwohl die Belugas des Sankt-Lorenz-Stromes jetzt geschützt sind, erholt sich die dezimierte Population nicht. Über Jahrzehnte haben die weißen Zahnwale Chemikalien im Fettgewebe angereichert – und die Muttertiere geben sie mit der Milch konzentriert an den Nachwuchs weiter.

Im Jahre 1535 führte den französischen Seefahrer Jacques Cartier (1491 bis 1557) seine zweite Amerikareise den Sankt-Lorenz-Strom hinauf. Dessen Mündungsgebiet, den gleichnamigen Golf im Nordosten Kanadas bei Neufundland, hatte er im Jahr zuvor entdeckt und für Frankreich in Besitz genommen. Hinter der Einmündung des Saguenay (Bild 2) geboten Windverhältnisse und Gezeitenströme der Expedition einen Tag lang Halt, weswegen Cartier sich gezwungen sah, zur Nacht mitten im Fluß bei einer flachen Insel vor Anker zu gehen.

Am nächsten Morgen staunten die Europäer über Besucher: große, weiße Delphine, die sich um das Schiff tummelten. Die einheimischen Führer nannten sie adothuys und meinten, man könne sie gut essen.

Es waren Weißwale oder Belugas, die mit dem Narwal verwandt sind. Die Art, die zu den Zahnwalen gehört, lebt rund um den Pol in arktischen und subarktischen Gewässern – im Winter auf offener See entlang der Eiskante, im Sommer in flachen Küstengewässern und Flußmündungen Nordrußlands und Nordamerikas sowie Islands (vereinzelt wandern Tiere weit nach Süden; selbst im Rhein wurden sie schon gesichtet).

Beluga heißt nichts anderes als weißer Wal (russisch Belucha); der wissenschaftliche Name Delphinapterus leucas bedeutet: flossenloser weißer Delphin (nach griechisch pteron, Flügel, Feder, Flosse und leukos, weiß), denn wie den Narwalen auch fehlt ihnen die Rückenfinne.

Wie man aus Fossilfunden weiß, siedelt im Sankt-Lorenz-Strom seit Jahrtausenden eine eigene Population. Als der Meeresspiegel nach Ende der letzten Eiszeit stieg, überflutete der Atlantik große, tiefliegende Gebiete der amerikanischen Ostküste. Ein Meeresarm reichte damals weit in das heutige Tal des Sankt-Lorenz-Stroms fast bis zu den Großen Seen, die nun im Landesinneren liegen, wie auch in die Senke des Hudson und des Champlainsees im Grenzbereich der Staaten New York und Vermont. Auch dieses ehemalige Gewässer, das später weitgehend trockenfiel, aber den noch immer recht großen See zurückließ, benannten die Paläogeographen nach dem französischen Kolonialpionier und Entdecker Samuel Champlain (1570 bis 1635).

Mit dem Wasser kamen viele Robben- und Walarten in die Region. Als der Meeresspiegel wieder sank und der Sankt-Lorenz-Strom sein jetziges Bett einnahm, blieben die Belugas – und mit ihnen einige andere Wale – dem Ort treu: Sie verbringen den Winter im Delta und ziehen im Sommer weit stromauf (Bild 2 oben).

Später, vor etwa 8500 Jahren, stießen von Südwesten her nomadische Indianerstämme zum Sankt-Lorenz-Strom vor. Eben dort, wo die Weißwale vorüberwanderten, errichteten sie Sommerlager und machten Jagd auf Meeressäuger, wie Wal- und Robbenknochen bezeugen, die man an gleicher Stelle wie die Überreste der Lagerplätze im Boden fand.

Auch den Europäern sagten die Fanggründe im Strom und im Golf zu. Im 17. Jahrhundert siedelten sich baskische Seeleute bei der Mündung des Saguenay an. Sie hatten es auf die gemächlichen großen Glattwale abgesehen, die verhältnismäßig gut zu jagen waren und viel Tran einbrachten; vermutlich erlegten sie auch Belugas. Im nächsten Jahrhundert folgten Pelztierhändler und Kolonisten, die hier eine lohnende Erwerbsquelle fanden.

Bald erteilte der Repräsentant des Königs von Frankreich eine begrenzte Zahl von Konzessionen auf die bevorzugte Fangmethode für Weißwale, die gern im Flachen den Boden nach Kleingetier absuchen und dann oft in großen Herden auftreten, wie einst auch in der breiten, flachen, nur bei Flut überspül-ten Uferzone des Sankt-Lorenz-Stromes (Kasten auf Seite 90/91, rechts unten): Wenn das Wasser bei Ebbe zurückwich, konnte man ihnen den Rückweg mit großen Stellnetzen abschneiden. Im Jahre 1721 gab es an beiden Ufern des Flusses 15 solcher Anlagen.

Das Leben in manchen Gemeinden kreiste so stark um die Belugas, daß darüber sagenhafte Geschichten aufkamen. Eine handelt von einem Dorffest, das stattfand, nachdem an einem Tage 100 Weißwale in die Falle gegangen waren. Während man fröhlich in einer Scheune tanzte und trank, begann die steigende Flut die toten Wale zu umspülen; und um Mitternacht griffen plötzlich Geisterhände nach den Tänzern. Alles stürzte in Panik nach draußen – doch der Spuk ging weiter: Das Wasser holte sich sein Eigentum zurück. Im Mondschein tummelten sich in den Wellen Wesen in Menschengestalt. Sie ritten auf den Walen fort, deren Augen glühten wie Kohlen und aus deren Blaslöchern Flammen sprühten. Als die Tiere in der Nacht verschwanden, hinterließen sie im schwarzen Wasser eine leuchtende Spur.

Wie viele Belugas bis Anfang des 19. Jahrhunderts im Sankt-Lorenz-Strom erbeutet wurden, ist nicht bekannt. Zwischen 1866 und 1960, so schätzt man, waren es etwa 16200 – das wären durchschnittlich 172 Tiere im Jahr (Bild 3). Daraus kann man hochrechnen, daß die Population um die Jahrhundertwende wohl 5000 bis 10000 Individuen gezählt haben dürfte. Mittlerweile ist der Bestand stark geschrumpft; um 1970 waren es wahrscheinlich nur noch 500 Tiere. Weil der Fang nicht mehr wirtschaftlich war und die Nachfrage zurückging, geriet der Beluga des Sankt-Lorenz-Stroms in der Walfangindustrie fast in Vergessenheit.

Im Jahre 1979 stellte die kanadische Regierung die Restpopulation unter Schutz. Doch trotz des absoluten Fangverbots gibt es bisher keinerlei Anzeichen, daß sie sich erholen würde. Immer noch sind es nicht mehr als vielleicht 500 Individuen. Die Experten rätselten über die Ursache. Es mag durchaus mitspielen, daß Wale – insbesondere in kleinen Gruppen – sich nun einmal sehr langsam fortpflanzen und auch, daß die Nahrungsgründe im Sankt-Lorenz-Strom durch Dämme und Kraftwerke stark eingeschränkt wurden. Was meine Kollegen und ich in den letzten zwölf Jahren herausgefunden haben, ist allerdings weit alarmierender.

Vergiftung

Mit den Belugas beschäftige ich mich seit Herbst 1982. Damals holte mich der Tierarzt Daniel Martineau zu einem gestrandeten, verendeten Tier. Es war vergleichsweise klein, doch in der Abendsonne leuchtete es in den dunklen Kieseln von weitem heller als die Schaumkronen der Wellen, und seine Haut wirkte glatt wie aus Kunststoff.

Wir beschlossen, den Wal zu sezieren. Die Laboranalysen ergaben Nierenversagen als wahrscheinliche Todesursache. Wie wir feststellten, war der Organismus hochgradig mit Quecksilber und Blei, Polychlorbiphenylen (PCBs), DDT, dem Insektenvertilgungsmittel Mirex und anderen Pestiziden belastet. Bei zwei weiteren Tieren, die kurz darauf in ähnlicher Weise verendeten, ergab sich der gleiche erschreckende Befund (Bild 1).

Meeressäuger in hafen- und industrienahen Küstengewässern, die mit Organohalogenen wie PCBs und DDT durchseucht sind, weisen gemeinhin hohe Dosen der toxischen Verbindungen auf; das hatte man früher schon verschiedentlich nachgewiesen, insofern war das Ergebnis nicht neu.

Weil diese Syntheseprodukte fettlöslich sind und beim Stoffwechsel nicht abgebaut werden, reichern sie sich im Fettgewebe an. Besonders fatal ist, daß sie sich deswegen in der Nahrungskette regelrecht anhäufen: Fleischfresser nehmen die Organohalogene bereits aus anderen Tieren konzentriert zu sich und geben sie in noch höherer Konzentration ans nächste Glied weiter. Folglich sind die letzten in der Kette oft am stärksten belastet.

Über Krankheiten und Organdefekte im Zusammenhang mit derartigen Giften gab es damals schon zahlreiche Studien; sie betrafen unter anderem Leberschäden, Magenkrebs, Haut- und Schleimhautgeschwüre sowie Drüsenabnormitäten und auch Hormonstörungen. Die großen Meeressäuger allerdings, meinten die meisten Fachleute noch zu Beginn der achtziger Jahre, seien durch die Schädlingsbekämpfungsmittel wenig gefährdet.

Meine Kollegen und ich verfolgten indes die Sache weiter. Während der nächsten fünfzehn Jahre verzeichneten wir 179 verendete Wale, von denen wir an der Tierärztlichen Fakultät der Universität Montreal (Kanada) 73 genauer untersuchten. Daraus war zu schließen, daß offenbar die gesamte Population stark verseucht ist, und zwar mit vielen unterschiedlichen Chemikalien.

Besonders verstörte uns das Ergebnis der Obduktionen: 40 Prozent der Wale hatten Tumore, die bei 14 Tieren bösartig waren; das war mehr als die Hälfte aller bislang bei Walen überhaupt gefundenen Krebserkrankungen. Des weiteren entdeckten wir auffallend oft Magengeschwüre und bei drei Tieren sogar Durchbrüche, was von Walen noch nie berichtet worden war.

Auch mußten wir feststellen, daß 45 Prozent der erwachsenen weiblichen Tiere nur wenig Milch bildeten; schuld daran waren Entzündungen, nekrotisches (abgestorbenes) Gewebe oder Tumore in den Milchdrüsen. Viele der Belugas litten an Schilddrüsen- wie an Nebennierendrüsenschäden.

Und offenbar hatten etliche eine geschwächte Immunabwehr, denn wir fanden nicht nur unverhältnismäßig häufig Infektionen durch opportunistisch-pathogene Bakterien und Protozoen, also solche, die dem gesunden Organismus nichts anhaben, sondern auch immer wieder Vielfacherkrankungen; zudem waren mehreren Tieren Zähne ausgefallen. Einer der untersuchten Wale war ein echter Zwitter.

Weder von Beluga-Populationen der Arktis noch von den anderen Walarten oder den Robben, die im Sankt-Lorenz-Strom vorkommen, sind diese Krankheitsbilder bekannt. Sie alle sind zwar nachweislich mit den gleichen Stoffen kontaminiert – entscheidend scheint aber die relative Menge zu sein, also die Konzentration im Gewebe. Arktische Weißwale wiesen PCB-Werte von maximal rund 5 ppm (parts per million: millionstel) auf; bei denen im Sankt-Lorenz-Strom betrugen sie bis zum Hundertfachen. Die meisten Gewebe enthielten mindestens 50 ppm PCBs – nach kanadischen Bestimmungen wären die Kadaver Giftmüll! Und die toxischen Verbindungen entdeckten wir nicht nur, wie erwartet, in der Speckschicht unter der Haut, dem Blubber, sondern – wenn auch in geringen Mengen – in den Fetten anderer Gewebe, so daß sie lebenswichtige Organe wohl um so eher beeinträchtigten.

Krebs und Immunschäden

Viele unserer Kollegen hielten die Daten in der Form noch nicht für beweiskräftig. Sie forderten Nachweise für einen tatsächlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Um sie zu überzeugen, mußten wir für eine bestimmte Substanz nachvollziehen, wieso durch sie eine Krankheit entstand.

Dafür wählten wir das frappanteste Gebresten: Krebs trat bei unseren Belugas doppelt so häufig auf wie beim Menschen, häufiger als bei Pferden und Katzen und nur wenig seltener als bei Hunden. Der Vergleich ging für die Wale sogar noch ungünstiger aus, wenn wir nur Karzinome des Verdauungstraktes einbezogen, also die Formen, die bei unseren Tieren hauptsächlich vorkamen. Von solchen Wucherungen sind noch größere Erkrankungsraten lediglich von australischen und neuseeländischen Schafen bekannt, bei denen man krebserregende Herbizide, die auf die Weiden versprüht werden, für die Ursache hält.

Wir hatten den Verdacht, daß bei den Belugas ein teilweise ähnlicher Wirkungsweg vorlag: Im Sediment des Saguenay lagern Tonnen des hochpotenten Karzinogens Benzo(a)pyren (BaP), das aus jahrzehntelangen Emissionen einer der weltweit größten Aluminium-Hütten stammt.

Im Gewebe der Weißwale war die Substanz nachweisbar, doch wie konnten sie damit in so hohem Maße in Berührung gekommen sein? Am plausibelsten schien uns der Weg direkt über die Nahrung. Als einzige Zahnwalart nämlich gründeln Belugas; außer von Fischen ernähren sie sich auch von wirbellosen Tieren, die sie oft erst ausgraben – und in deren Körpern reichert sich im Saguenay das Karzinogen an. Somit war anzunehmen, daß die hohe Krebsrate mit BaP zusammenhing, das demnach letztlich auch zum desolaten Zustand der ganzen Population beitrug.

Wie nicht anders zu erwarten, äußerte die Industrie sich anders. Um aufrichtig zu sein – unsere Krebsdaten boten auch eher Anlaß zur Verwirrung. Gewöhnlich gefährdet ein bestimmtes Karzinogen ein bestimmtes Gewebe. Bei den Belugas hingegen waren verschiedenste Organe krebsbefallen: bald der Magen, bald der Darm, die Blase, die Speicheldrüse, die Leber, die Eierstöcke oder die Milchdrüsen. Möglicherweise waren zudem weitere Gifte im Spiel, etwa die Organohalogene, die zwar nicht unmittelbar krebserregend, in den Walen aber in höherer Konzentration vorhanden sind als andere Chemikalien; und es lagen Nachweise dafür vor, daß solche Verbindungen die Expression bestimmter Gene unterbinden können sowie bei etlichen Tierarten gewisse Immunzellen schwächen, nämlich die T-Killerzellen, die normalerweise unter anderem entartete körpereigene Zellen zerstören. Überdies bewirkten sie im Tierexperiment bei Embryonen, Feten und Neugeborenen Entwicklungsstörungen des Nervensystems, der Fortpflanzungsorgane und des Hormonsystems; und auch die Produktion wichtiger Immunproteine und Immunzellen konnte gehemmt sein.

Somit war äußerst wahrscheinlich, daß die Organohalogene den Walen gleichermaßen schadeten und sie so für Krebs und andere Krankheiten anfälliger machten, zumal manche Symptome auf verringerte Widerstandskraft hindeuteten. Die körpereigene Abwehr untersuchte der Pathologe Sylvain De Guise, der schon einige Dutzend der von uns gefundenen Kadaver seziert hatte, zusammen mit dem Team von Michel Fournier an der Universität von Quebec in Montreal, das Erfahrung darin hatte, bei lebenden Tieren anhand von Blutproben den Immunstatus festzustellen. Dazu gehört, die Zahl der verschiedenen Typen von Immunzellen und deren Funktionalität zu bestimmen. Mit den gleichen Methoden wollten wir nun bei den Weißwalen mögliche Auswirkungen von Organohalogenen prüfen.

Zuerst mußten wir die Immunzellen der Art beschreiben und die Tests adaptieren. Wir verwendeten dafür Blutproben von Tieren arktischer Herkunft, die im Shedd-Aquarium in Chicago lebten oder die wir im Meer zur Blutentnahme kurz einfingen. Dann waren die Analysemethoden so anzupassen, daß wir in ihrem Blutplasma winzige Mengen der Giftstoffe nachweisen konnten.

Kultivierte Immunzellen arktischer Belugas wurden durch Organohalogene merklich verändert. Dies könnte zu einem Befund niederländischer Forscher aus jüngster Zeit passen, wonach gefangen gehaltene Seehunde, die mit kontaminierten Fischen gefüttert worden waren, nur mehr eingeschränkte Immunfunktionen hatten. Die Fische aus dem Meer enthielten vergleichbar hohe Schadstoffkonzentrationen wie jene im Sankt-Lorenz-Strom. Ob auch die Belugas unserer Population ähnlich verseucht und geschädigt sind, hoffen wir demnächst an Blutproben von freilebenden Walen überprüfen zu können.


Eine unvermutete Giftquelle

Insbesondere ist herauszufinden, bei welchen Mindestdosen von Organohalogenen Effekte auftreten. Zwar sind all die verschiedenen Meeressäuger in unserem Untersuchungsgebiet mehr oder weniger stark damit kontaminiert, aber keine andere Art scheint dermaßen beeinträchtigt zu sein wie die Belugas.

Ein entscheidender Faktor ist die Körpergröße: Die kleinste Walart der Region, der Schweinswal oder kleine Tümmler, weist die relativ höchsten Werte auf, der Blauwal – das größte aller Säugetiere – die geringsten. Das liegt daran, daß ein kleinerer Organismus pro Körpergewichtseinheit verhältnismäßig mehr Energie umsetzen, also mehr fressen muß. Hinzu kommt in diesem Falle allerdings noch, daß der Schweinswal sich von Tieren ernährt, die ihrerseits fettlösliche Gifte schon stark angereichert haben, während der Blauwal Planktonkrebse frißt, also Organismen einer tieferen Stufe in der Nahrungskette.

Indes konnten wir zunächst nicht erklären, daß die Belugas sehr viel stärker belastet sind, als bei ihrer Größe zu erwarten wäre. Deshalb machten wir erst einmal eine Hochrechnung: Wir kannten die Durchschnittsmenge der chemischen Substanzen im Pfund Blubber und schlossen daraus auf deren Gesamtmenge in der ganzen Population von mutmaßlich 500 Tieren. Dem stellten wir den Giftgehalt der Fische gegenüber, welche die Wale wohl in 15 Jahren vertilgt hatten. Dabei ergab sich eine verblüffend große Diskrepanz. Die Belugas mußten toxische Stoffe in großen Mengen auch aus anderen Quellen aufgenommen haben – aber woher?

Dies klärte sich auf, als wir der Herkunft des Insektizids Mirex nachgingen. Eingesetzt wurde es fernab, in den südlichen Vereinigten Staaten, und zwar gegen Feuerameisen, Nutzpflanzenschädlingen, deren Stich sehr schmerzhaft ist. Produziert aber hatte es eine Fabrik im Nordwesten des US-Bundesstaates New York – und damit auch den Ontariosee kontaminiert. In Aalen aus dem See, die jeweils im Oktober zum Laichen durch den Sankt-Lorenz-Strom ins Meer ziehen, war Mirex so stark angereichert, daß die Belugas sich nur zehn Tage pro Jahr von ihnen hätten ernähren müssen, um in 15 Jahren die Giftmenge aufzunehmen, die wir ermittelt hatten. Zudem enthielten die Aale so hohe Konzentrationen an anderen toxischen Chemikalien wie PCBs und DDT, daß sie allein die Hälfte des Gehalts der Wale an Organohalogenen hätten beitragen können.


Tödliches Erbe

In den späten achtziger Jahren hatte sich die Belastung der Tierwelt in den Großen Seen mit Organohalogenen deutlich verringert – nur bei den Belugas trat keine entsprechende Verbesserung ein. Anfangs glaubten wir, das würde wegen der Distanz ihres Lebensraums zur Giftquelle und wegen ihrer Position in der Nahrungskette nur länger dauern. Der Zusammenhang, auf den wir dann aber stießen, verheißt für die Zukunft der Weißwale im Sankt-Lorenz-Strom nichts Gutes.

Ihr Blubber macht bis zu 40 Prozent des Körpergewichts aus; etwa 85 Prozent davon ist Fettgewebe, in dem sich die Organohalogen-Verbindungen anreichern. Uns fiel auf, daß sehr junge Tiere häufig höhere Konzentrationen aufwiesen als ältere. Bei anderen Arten ist das umgekehrt, denn im allgemeinen akkumulieren sich Giftstoffe im Laufe des Lebens. Außerdem waren die erwachsenen Weibchen durchweg weniger belastet als die männlichen. Daraus war zu schließen, daß sie beträchtliche Mengen der Chemikalien an die Kälber weitergaben, denn Säugetierweibchen bauen bei der Milchproduktion Fettreserven ab.

An einigen weiblichen Tieren, die kurz nach dem Werfen verendet waren, konnten wir die verbliebene Milch untersuchen. Ihr Fettgehalt betrug etwa 35 Prozent (bei Meeressäugern, die rasch zunehmen müssen, ist er oft derart hoch), und das Fett enthielt außer anderen Giftstoffen durchschnittlich 10 ppm PCBs. Auch wenn dies lediglich einem Drittel der Konzentration im Blubber erwachsener Weibchen entsprach, war der Wert alarmierend; beispielsweise gelten Lebensmittel mit mehr als 2 ppm PCBs als nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignet.

Der Befund ist um so bedenklicher, als die Kälber sehr rasch wachsen und demgemäß viel Milch brauchen. Bei der Geburt wiegen sie etwa 50 Kilogramm, mit einem Jahr schon 150 – sie trinken täglich vier Kilogramm. Angenommen, der Blubber eines Muttertiers enthalte 30 ppm PCBs (oft fanden wir sogar die dreifache Konzentration) und das Milchfett 10, wovon das Kalb ungefähr 70 Prozent aufnähme, wären dies im Laufe seines ersten Jahres etwa 3,8 Gramm. Der junge Wal würde daraus Blubber mit einem PCB-Gehalt von 60 ppm bilden – die Konzentration wäre also doppelt so hoch wie bei der Mutter. Sie ihrerseits würde ihr eigenes Reservoir fortwährend auffüllen, wenn sie täglich 10 Kilogramm Fisch fräße.

Somit erhalten junge Belugas, solange sie von der Mutter genährt werden, stärker vergiftete Nahrung, als diese selbst frißt: Sie stehen sozusagen auf einer noch höheren Stufe der Nahrungskette.

Der fatale Kreislauf hat sich offenbar aufgeschaukelt, seit die ersten derartigen Schadstoffe in den dreißiger und vierziger Jahren in das Einzugsgebiet des Sankt-Lorenz-Stroms gelangten. Eine Probe Blubberöl vom Weißwal aus den fünfziger Jahren, die uns vorliegt, weist bereits einen PCB-Gehalt von 5 ppm auf. Seitdem war jedes Kalb, bevor es noch anfing, selbst kontaminierten Fisch zu fressen, schon höher belastet als seine Mutter; aber auch die Fische waren von Jahr zu Jahr stärker verseucht. So hatte jede neue Generation schlechtere Startchancen.

Mit Effekten dieser Art ist bei allen fleischfressenden wasserlebenden Säugetieren zu rechnen. Wie stark sie sich auswirken, dürfte allenfalls etwas schwanken je nachdem, wie die Tiere der jeweiligen Spezies mit Fettreserven und Milchversorgung verfahren. Gerade Fette eignen sich als Reservestoffe für das Individuum selbst und um den Nachwuchs mit Energie zu versorgen – besonders gut im kalten Wasser. Enthalten sie allerdings Gifte, die der Organismus nicht abbauen kann, stellen sie unter Umständen ein ebenso fatales Erbe dar wie defekte Gene.

Deswegen kann man annehmen, daß Vergiftungserscheinungen sich besonders bei Kälbern bemerkbar machen. Allerdings wurden nur wenige Jungtiere gefunden. Wir befürchten, daß die Situation noch dramatischer ist – daß nämlich die Belugas gar nicht mehr viel Nachwuchs haben. Es wäre nicht erstaunlich, wenn die Fruchtbarkeit der Weibchen oder auch der Männchen wegen der fortwährenden chemischen Belastungen zurückgegangen ist. Schließlich waren auch die heute erwachsenen Tiere schon früh hohen Schadstoffkonzentrationen ausgesetzt, als ihre Fortpflanzungsorgane sich erst ausbildeten.

Ferner ist denkbar, daß im Erwachsenenalter aufgenommene Gifte Hormonzyklen beeinträchtigen. Zumindest bekamen Robben, die man in Gefangenschaft mit kontaminiertem Fisch aus natürlichen Gewässern fütterte, keine Jungen mehr. Bei der Untersuchung dieses Falles vor einigen Jahren fiel ein offensichtlicher Mangel an Vitamin A und dessen Vorstufen auf, die der Organismus für Wachstum, Fortpflanzung und Abwehrkräfte benötigt.

Von den Weißwalen im Sankt-Lorenz-Strom erhoffen wir uns genauen Aufschluß über das Schicksal einer Population unter Umweltbelastungen, die der Mensch verursacht. Robert Michaud und Daniel Lefebvre von unserem Institut beobachten die Tiere jedes Jahr monatelang vom Boot oder Ufer aus wie auch aus der Luft, um Herdengrößen, Sozialstruktur, Paarungsverhalten und Alterszusammensetzung, Wanderungen und bevorzugte Habitate zu registrieren. Ihre Kartei enthält Photographien von rund 150 Individuen, darunter auch von Muttertieren mit Jungen verschiedenen Alters, deren Entwicklung zu verfolgen sie sich bemühen (Bild 4). Festgestellt werden soll auch, wie oft die Weibchen noch kalben und wie viele Junge überleben. An einzelnen Tieren angebrachte Sender dienen zur Ortung über längere Zeiträume; Hautproben werden analysiert, um Verwandtschaftsverhältnisse zu klären.

Eindeutig belegen können wir es zwar noch nicht, doch spricht alles dafür, daß die Weißwal-Population im Sankt-Lorenz-Strom sich vorerst nicht erholt, weil sie langfristig intensiven Kontakt zu vielfältigen Umweltgiften hatte und hat. Wir werden viele Aspekte des Problems wenn irgend möglich weiterverfolgen. Längst sind diese Tiere für uns aber nicht mehr bloß Studienobjekte. Wir kennen viele genau, so wie sie uns: Wenn wir auf den Fluß hinausfahren, kommen kleine Gruppen wie zur Begrüßung angeschwommen. Große Schwärme wie zu Zeiten Cartiers treffen wir nicht mehr an, deswegen zählt jedes Individuum. Ihre Lebenschancen zu bewahren müssen wir jedoch erst lernen.

Literaturhinweise

- Doomed Canaries of Tadoussac. Von Jon R. Luoma in: Audubon, Band 91, Heft 2, Seiten 92 bis 97, März 1989.

– Message from the Belugas. Von Wendy Penfield in: International Wildlife, Band 20, Heft 3, Seiten 40 bis 45, Mai/Juni 1990.

– Toxic Compounds and Health and Reproductive Effects in St. Lawrence Beluga Wales. Von P. Béland, S. De Guise, C. Girard, A. Lagacé, D. Martineau, R. Michaud, D. C. G. Muir, R. J. Norstrom, E. Pelletier, S. Ray und L. Shugart in: Journal of Great Lakes Research, Band 19, Heft 4, Seiten 766 bis 775, 1993.

– Beluga: White Whale of the North. Von Kenneth S. Norris in: National Geographic, Band 185, Heft 6, Seiten 2 bis 31, Juni 1994.

– Beluga: A Farewell to Whales. Von Pierre Béland. Lyons and Burford, New York 1996.

– Das große Bestimmungsbuch der Wale und Delphine. Herausgegeben von Anthony R. Martin und anderen. Mosaik-Verlag, München 1991.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1996, Seite 84
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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