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Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit

C. H. Beck, München 1995.
144 Seiten, DM 14,80.

Die Zeit ist in mancher Hinsicht der grundlegendste Aspekt unseres Erlebens. Sie erscheint zugleich offensichtlich und dennoch rätselhaft und widerspruchsvoll. Wie kann man Zeit messen? Gibt es jenseits des subjektiven Zeitempfindens überhaupt ein absolutes, für alle Menschen gleiches Zeitmaß? Wie lange dauert die Gegenwart? Fließt die Zeit wirklich kontinuierlich, oder vergeht sie sprunghaft? Wie kommt es, daß die Zeit immer nur in eine Richtung läuft – von der Vergangenheit in die Zukunft? Wird sich diese Zeitrichtung einmal umkehren? Gab es Zeit schon immer, oder ist sie irgendwann entstanden? In Wissenschaft, Philosophie, Literatur, Musik und den darstellenden Künsten haben die Menschen in verschiedenen Epochen jeweils unterschiedliche Antworten auf diese Fragen gefunden.

Klaus Mainzer, Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Augsburg, gibt einen Überblick darüber, wie einzelne natur- und kulturwissenschaftliche Disziplinen den Zeitbegriff verwendet haben und heute verwenden. Der Schwerpunkt liegt dabei – dem Werdegang und Wirken des Autors entsprechend – auf Philosophie und Physik. Das in der Beck schen Reihe erschienene Buch setzt dem potentiellen Leser nicht nur durch geringen Umfang und einen attraktiven Preis eine niedrige Hemmschwelle, sondern richtet sich tatsächlich an den vielzitierten "interessierten Laien".

Schon frühe Hochkulturen verfügten über astronomische Mittel der Zeitbestimmung. Die Grundfragen nach dem Wesen der Zeit, die bis heute die Diskussion prägen, stellten erstmals antike Philosophen. Ist die Welt, wie Heraklit (ungefähr 500 vor Christus) glaubte, in ständigem Werden begriffen und Zeit ein irreversibler Ablauf wie der Strom eines Flusses, oder ist Zeit, wie sein Zeitgenosse Parmenides schrieb, nur eine Illusion, die den Blick auf das an sich unveränderliche Sein verstellt? Der Kirchenvater Augustinus (354 bis 430) kam zu dem Schluß, die Welt sei nicht in der Zeit entstanden, sondern gemeinsam mit ihr.

Die Philosophen hatten damit das Terrain abgesteckt, auf dem sich die neuzeitliche naturwissenschaftliche Untersuchung der Zeit bewegte. Für mehrere Jahrhunderte war das die Domäne der Physik: Von der absoluten und reversiblen Zeit der klassischen Mechanik Isaac Newtons (1643 bis 1727) über die relativistische Raum-Zeit Albert Einsteins (1879 bis 1955) und die Beschreibung der zeitlichen Irreversibilität im Rahmen der Thermodynamik bis zu den Zeitvorstellungen der Quantentheorie mit ihren Konsequenzen für die moderne Kosmologie reicht der weite Bogen, den der Autor spannt.

Insbesondere der Zeitbegriff der Thermodynamik, wonach die Zeit sich irreversibel in eine Richtung entwickelt, erhält bei der Beschreibung von Lebensprozessen unmittelbare Anwendung. Mainzer schildert, welche Rolle verschiedene Zeitrhythmen, die sich hierarchisch überlagern, bei der Evolution des Lebens, der Emergenz von Bewußtsein und der Zeiterfahrung in Kultur und Geschichte spielen.

Es sind vor allem die mit viel Überblick aufgezeigten fach- und epochenübergreifenden Verbindungen der verschiedenen Zugänge zum Thema, die das Buch zu einer anregenden und spannenden Lektüre machen. Zum Beispiel gab Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) für Zenons berühmtes Paradoxon von Achilles und der Schildkröte eine Lösung, indem er ein aktual und ein potentiell Unendliches unterschied. Diese umstrittene Unterteilung beschäftigt noch heute die Mathematik (siehe "Eine kurze Geschichte des Unendlichen" von A. W. Moore, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, Seite 64). An anderer Stelle wird das Vorgehen des belgischen Chemikers und Nobelpreisträgers Ilya Prigogine, der bei der Untersuchung der selbstorganisierten Strukturbildung in Systemen fern vom thermodynamischen Gleichgewicht die reversible "äußere" Zeit des Systems von seiner irreversiblen "inneren" Zeit unterscheidet, in Beziehung gesetzt zur aristotelischen Unterscheidung von Zeit als "Bewegung" (kinesis) und Zeit als "Entstehung und Verfall" (metabole).

Es scheint fast unmöglich, in einem Büchlein von nur 144 Seiten das Thema Zeit in seiner Vielschichtigkeit und unter korrekter Darstellung moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse abzuhandeln. Doch kompetent und sicher setzt Mainzer die einzelnen Steine des Puzzles paßgenau zu einem Ganzen zusammen. Sein nüchterner und sachlicher Stil unterscheidet sich wohltuend vom Ton anderer populärwissenschaftlicher Werke über Zeit, die – wild über Schwarze Löcher, Zeitreisen oder Ähnliches spekulierend – sich dem Thema oft mit sensationsgieriger Effekthascherei oder mystischer Rätselhaftigkeit nähern.

Allerdings bleiben die Ausführungen, gemessen an der Fülle des Stoffes, unvermeidlich recht knapp – mitunter so knapp, daß man die Argumentation des Autors kaum nachvollziehen kann. Fast jeder Satz bringt einen neuen Aspekt, illustrierende Bemerkungen oder Beispiele fehlen zumeist. Über weite Strecken liest sich das Buch wie eine stakkatohafte Aufzählung von Konzepten, Ergebnissen und wichtigen Personen. Wenn zum Beispiel – im Kontext der Zeitsymmetrie in der Quantenfeldtheorie – auf nur einer einzigen Doppelseite (66/67) die Verletzung der PC-Symmetrie beim Kaonenzerfall, das PCT-Theorem, die vereinheitlichte elektroschwache Eichtheorie, die spontane Symmetriebrechung, der Higgs-Mechanismus, die starke Kraft sowie Hadronen und Quarks abgehandelt werden, dann kann der Erklärung wohl nur noch folgen, wer mit dem Thema bereits vertraut ist.

Insgesamt gibt das Buch einen knappen, aber reichhaltigen Überblick. Der Autor beschränkt sich auf die Präsentation gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse und beteiligt sich nicht an jüngsten Spekulationen über Mechanismen, wie die Zeit im frühen Universum als Effekt von Quantenfluktuationen aus noch fundamentaleren physikalischen Strukturen entstanden sein könnte. Die Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Zeit bleibt also einstweilen offen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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