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Persönlichkeit: Sind wir nicht alle ein bisschen ambivertiert?

Die meisten Menschen sehen sich weder eindeutig als extravertierte noch als introvertierte Persönlichkeit: Sie liegen irgendwo dazwischen. Und das hat Vorteile.
Der Weg gabelt sich, ein Pfeil geht Richtung Extraversion, einer Richtung Introversion
Die meisten Menschen bewegen sich irgendwo in der Mitte.

Leonard Baier ist Grafiker, kommt aus einem kleinen schwäbischen Dorf und ist »ambivertiert«, wie er selbst sagt. Das heißt: weder intro- noch extravertiert. Dabei ist er die Art Mensch, die man sich auf jeder Party wünscht, denn er findet immer und mit jedem ein Gesprächsthema. Wenn er allein in eine Bar geht, kommt er mit einer Hand voll neuer Bekanntschaften wieder heraus. Meist schwätzt er einfach mal drauf los, wie man in seiner Heimat sagen würde. Doch er selbst sieht sich weniger eindimensional: »Ich lebe allein in einer gemütlichen Zweizimmerwohnung und genieße es ab und an, die Tür zu schließen und meine Ruhe zu haben.« Nach längeren Besuchen bei seinen Freunden freue er sich auch immer, wenn er danach erst mal eine Weile ungestört sei.

Damit erfüllt Leonard Baier die Kriterien für Ambiversion, eine Eigenschaft in der Mitte des Kontinuums zwischen Extraversion und Introversion. Während eine introvertierte Person ihre Energie vor allem aus dem Alleinsein zieht, schöpft die extravertierte Person aus der Interaktion mit anderen Menschen Kraft. Introvertierte sind durch andere Menschen schneller gestresst, Extravertierte blühen in Gesellschaft ihrer Mitmenschen auf. Aber Leonard Baier sagt, dass das bei ihm vor allem von den Umständen abhängt. Mal fühlt er sich in Gesellschaft wohl und entspannt, mal strengen ihn andere Menschen an.

»90 Prozent der Menschen befinden sich irgendwo in einem Mittelbereich«Jens Asendorpf, Psychologe

Das geht anscheinend nicht nur ihm so. Die meisten Menschen lassen sich weder dem einen noch dem anderen Extrem zuordnen, sind nicht ausschließlich intro- oder extravertiert. »90 Prozent der Menschen befinden sich irgendwo in einem Mittelbereich«, sagt der Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf. Tendenziell Extravertierte sind ebenfalls hin und wieder gern für sich. »Und da alle Menschen soziale Kontakte brauchen, suchen auch Introvertierte den Austausch mit anderen. Nur eben weniger«, erläutert Asendorpf.

Demnach wären die allermeisten Menschen ambivertiert. Wobei hier eine scharfe Abgrenzung nicht möglich ist. Der US-Psychologe Scott Barry Kaufman meint: »Es gibt keine magische Linie, die Ambiversion klar von Intro- und Extraversion abgrenzt.« Wenn man die Menschen je nach Ausprägung auf dem Kontinuum ansiedelt, befinden sich wohl die allermeisten in der Mitte; zu den Extremen hin werden es immer weniger. Das Merkmal ist »normalverteilt«, so lautet der psychologische Fachbegriff; die Unterschiede sind graduell. Es gibt viel mehr Abstufungen als nur introvertiert, ambivertiert und extravertiert. »Man könnte noch mehr Unterkategorien bilden, zum Beispiel milde Extraversion und milde Introversion«, sagt Kaufman.

Vielleicht wäre Leonard Baier dann ein »milder Extravert«. Im Beruf hat er meist keine Probleme, seine Meinung zu sagen, weder in Meetings noch seinem Chef gegenüber. Er wuchs mit sechs Geschwistern auf und hatte erst mit elf Jahren ein eigenes Zimmer. Er war es also gewohnt, stets von vielen Menschen umgeben zu sein. Allerdings erinnert er sich noch daran, dass er sich schon als Kind Wege suchte, ein bisschen Zeit für sich zu haben. Wenn es ihm zu Hause zu trubelig wurde, dann ging er lange mit dem Familienhund spazieren. Auch heute noch zieht es ihn in die Natur, wenn er mal Zeit für sich haben möchte. Diese kurzen Auszeiten sind ihm wichtig; zu viele Pläne und Treffen überfordern ihn. »Spontan sein zu können, ist mir wichtig«, sagt Leonard Baier.

»Ambivertierte Personen haben ein flexibleres Mindset«Scott Barry Kaufman

Scott Barry Kaufman sieht in dieser Spontanität einen Vorteil: »Ambivertierte Personen haben ein flexibleres Mindset, das kann im Alltag sehr nützlich sein.« Ambiversion verbindet beide Welten: Wenn bei Leonard Baier am Freitagabend spontan Freunde vorbeikommen und ihn mit auf eine Party nehmen wollen, schnappt er sich seine Jacke und zieht los. Wenn er keine Pläne hat, stört ihn das aber auch nicht. Im Gegenteil, dann freut er sich über einen ruhigen Abend, schaut eine Serie oder zeichnet.

Generell lässt sich nicht sagen, dass eine der drei Kategorien, Extraversion, Ambiversion oder Introversion, besser oder schlechter ist. »Bei Persönlichkeitseigenschaften gibt es keine Hierarchie des Guten«, bestätigt Kaufman. Extraversion und Introversion haben gute und weniger gute Seiten. Zum Beispiel kann es ein Vorteil, aber auch ein Nachteil für Introvertierte sein, dass sie dazu neigen, länger über eine Sache nachzudenken.

Ambivertiert: Von allem das Beste

Zu Ambiversion im engeren Sinn sind nur wenige Studien bekannt, darunter eine des US-Psychologen und Buchautors Adam Grant von der University of Pennsylvania aus dem Jahr 2013. Ihm zufolge schlossen ambivertierte Mitarbeiter in einem Callcenter mehr Verkäufe ab als ihre extravertierten oder introvertierten Kollegen. Grant vermutet, dass sie sich im Gespräch flexibler an ihr Gegenüber anpassen, ihre Redeanteile besser zuschneiden. Sie seien enthusiastisch und durchsetzungsfähig genug, um zu überzeugen, wirkten aber nicht aufgeregt oder übermütig, sondern hörten den Kunden zu und berücksichtigten ihre Interessen, so beschreibt es Grant.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine 2016 erschienene Studie: Demnach erbringen ambivertierte und introvertierte Studierende der Biologie in der Regel etwas bessere akademische Leistungen als Extravertierte. Die Autoren vermuten, dass Ambivertierte auf Eigenschaften von beiden zurückgreifen können, zum Beispiel die Fähigkeit, sich auf das Studium zu konzentrieren, aber auch, mit Klassenkameraden in Kontakt zu treten.

Das bestätigt eine vietnamesische Studie aus dem Jahr 2023. Per Fragebogen und Interview erhob sie den Grad an Intro- oder Extraversion sowie die Lernstrategien von 68 Englischstudierenden. Jene 22 unter ihnen, die sich im Myers-Briggs-Test als ambivertiert beschrieben, erzählten von vielfältigen Lernstrategien, wie Musik und aufmunternde Selbstgespräche, Bedeutungen erraten, nachfragen, Fehler korrigieren und Lernhilfen wie Farbcodes und Bilder. Die Balance zwischen Introversion und Extraversion erlaube ihnen, die Lernstrategien zu wählen, die am besten zu ihren Vorlieben passen, erklären die Autoren.

Dasselbe in der Wirtschaft: Es sei die Verbindung von Intro- und Extraversion, die in Unternehmen zu den besten Entscheidungen führe, schreibt Karl Moore, Organisationsforscher an der McGill University, 2012 im Wirtschaftsmagazin »Forbes«. Extravertierte Menschen würden zwar eher für natürliche Führungspersonen gehalten, könnten die Gefolgschaft inspirieren. Die Kehrseite: Sie reden gerne viel und hören weniger gerne zu. Introvertierte Führungskräfte würden ihren Angestellten mehr zuhören, ihnen mehr Raum für eigene Erfolge lassen. Im Idealfall kann eine ambivertierte Führungskraft nicht nur beides ein bisschen, sondern mal glänzende Reden halten, mal andere glänzen lassen.

Solche Lobeshymnen auf die Ambiversion sind schlüssig, doch die Belege dünn. Dass es so wenig Forschung mit Fokus auf Ambiversion gibt, könnte unter anderem daran liegen, dass das Konzept lange Zeit wenig Aufmerksamkeit bekam. Zum ersten Mal erwähnt wurde der Begriff 1923 von dem US-Psychologen Edmund Smith Conklin, als er versuchte, Introversion und Extraversion zu definieren. Danach geriet der Begriff in Vergessenheit und tauchte erst in den Persönlichkeitsmodellen des britischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck wieder auf.

Warum man wenig über Ambiversion weiß

Das geringe Interesse könnte damit zusammenhängen, dass es sich um eine Eigenschaft handelt, die definitionsgemäß ein Mittelmaß beschreibt. Ambiversion sei für die »normalen« Menschen zwischen den Extremen gedacht gewesen, erklärt der Psychologe Ian Davidson von der kanadischen York University. Dahinter verbergen sich keine markanten, einprägsamen Profile.

Bis heute konzentrieren sich die meisten Studien auf die Extreme, auf ausgeprägte Extra- oder Introversion. Deshalb gibt es trotz der zahlreichen Studien, die diese Dimension in Fragebogen erheben, kaum separate Analysen für die mittleren 50 Prozent. Kaufman bedauert das: Es sei gute wissenschaftliche Praxis, die gesamte Bandbreite der Werte zu betrachten. Doch viele suchen lieber nach einfachen Antworten auf die Frage, warum Menschen so fühlen, denken und handeln, wie sie es tun. Ein Label wie Introversion oder Extraversion liefert solche Erklärungen.

Eine Gefahr: die Label falsch zu interpretieren. Zum Beispiel Introversion: »Sie hat nichts mit der Angst vor sozialen Kontakten zu tun«, sagt Jens Asendorpf. In seinem Buch »Psychologie der Persönlichkeit« schreibt er, dass Introvertierte es einfach oft vorziehen, allein zu sein. Eine weitere Gefahr: sich auf diese Eigenschaft zu reduzieren, nach dem Motto: So bin ich halt. Und nicht mehr zu sehen, dass alle Menschen komplexe Wesen sind, »voller Persönlichkeitseigenschaften, die sich widersprechen können«, wie Kaufman sagt.

Außerdem ist die Persönlichkeit nicht in Stein gemeißelt. Wo wir uns auf einer Dimension wie Introversion–Extraversion verorten, kann sich mit den Jahren ändern, wie im Jahr 2000 eine Übersicht über 152 Längsschnittstudien belegte. Mit zunehmendem Alter wurden die Eigenschaften zwar stabiler, aber bis zu einem Alter von 60 Jahren gab es immer wieder größere Veränderungen, vor allem nach Meilensteinen wie dem Auszug aus dem Elternhaus.

Egal ob introvertiert, extravertiert oder ambivertiert: Wichtig ist, den Blick auf die guten Seiten zu lenken. »Wer zufrieden sein will, der sollte sich vor allem selbst akzeptieren, das hat uns die Forschung gezeigt«, sagt Scott Barry Kaufman. Leonard Baier ist glücklich, zu keinem der beiden Extreme zu gehören.

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  • Quellen

Davidson, I.J.: The ambivert: A failed attempt at a normal personality. Journal of the History of the Behavioral Sciences 53, 2017

Grant, A. M.: Rethinking the Extraverted Sales Ideal: The ambivert advantage. Psychological Science 24, 2013

Tretiak, T. O. et al.: Connection of students’ academic performance and cognitive abilities with their psychological characteristics. Regulatory Mechanisms in Biosystems 7, 2016

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