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Anthropozän: Die ewige Visitenkarte der Menschheit

Am Grund eines Sees in Kanada zeigen dünne Schichten den Beginn unseres Erdzeitalters an. Plutonium im Schlick des Crawfordsees soll offiziell den Beginn des Anthropozäns markieren.
Eine schwimmende Bohrplattform und ein Faltboot auf dem Crawfordsee.
Bohrkerne vom Grund des Crawfordsees - hier die schwimmende Bohrplattform - sollen den offiziellen Beginn des Anthropozäns markieren.

Nichts an diesem kleinen See deutet darauf hin, dass sich hier Epochales tut – bisher zumindest. Bislang war der Crawfordsee, ein kleines, von Nadelwald umringtes Gewässer etwa 50 Kilometer südwestlich von Toronto, nur ein beliebtes Ausflugsziel für Schulklassen und Naturliebhaber. Man kann hierherkommen, um zu erfahren, wie vor vielen Jahrhunderten indigene Irokesen gelebt haben, wie ihre Langhäuser aussahen und von welchen Pflanzen sie sich ernährt haben. Man kann aber auch einfach bloß das kleine Gewässer umrunden, um sich fit zu halten oder sich zu erholen.

Einen indirekten Hinweis darauf, dass sich im See etwas Besonderes verbirgt, geben lediglich die vielen Regeln: Es ist explizit verboten, zu angeln, zu schwimmen oder zu tauchen. Das kommt nicht nur daher, dass die Naturschützer und die regionalen Gemeinschaften Indigener dem See und seinen Bewohnern Ruhe verschaffen wollen. Auch Wissenschaftler stecken hinter den Verboten. Sie sollen einen Schatz auf dem Seegrund in 24 Meter Tiefe beschützen. Denn dort liegt ein bedeutendes natürliches Archiv. Es wurde bereits in den 1960er Jahren entdeckt und war seither in Teilen der geologischen Fachwelt auch über Kanada hinaus durchaus bekannt.

Am Dienstag wurde dieses Archiv nun aber in den Rang einer Epoche machenden Sensation erhoben. Der Crawfordsee in Ontario ging aus einem der bemerkenswertesten wissenschaftlichen Wettbewerbe unserer Zeit als klarer Sieger hervor: Forscher kürten ihn zum globalen Referenzort für das Anthropozän als neue geologische Erdepoche. Den Zuschlag für den unscheinbaren See gaben die Anthropocene Working Group und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zeitgleich beim Internationalen Stratigrafiekongress in Lille und einer Veranstaltung im Harnack-Haus in Berlin bekannt.

Weniger Arten, mehr Minerale

»Der Crawfordsee bietet eine Art Barcode der geologischen Entwicklung«, sagte der Geologe Colin Waters, Leiter der Spezialistengruppe, in Berlin. Der See sei nach den strengen Regeln der Geologie gut als Referenzort für eine neue Erdepoche geeignet, weil er die von der Menschheit verursachten globalen Umweltveränderungen dauerhaft dokumentiere. Die Auswahl des Crawfordsees aus zwölf Kandidaten sei »ein Meilenstein im Prozess der formalen Anerkennung des Anthropozäns«, sagte der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn, Direktor am neu gegründeten Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena.

Die 35-köpfige Anthropocene Working Group ist im Auftrag der Internationalen Kommission für Stratigrafie tätig. Diese wacht als eine der wichtigsten Institutionen der Geologie über die Einteilung der Erdgeschichte in Zeitalter und Epochen. Die Spezialistengruppe soll herausfinden, ob die Menschheit wirklich Klima und Natur des Planeten schon so tief greifend und langfristig verändert hat, dass ein neues Kapitel aufgeschlagen werden muss, wie dies der Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 vorgeschlagen hatte.

Nach 14 Jahre währenden Untersuchungen kommen die Mitglieder der Arbeitsgruppe zu dem Schluss, dass die Ausrufung einer neuen Erdepoche gerechtfertigt ist. Sie führen neben dem für Jahrtausende wirksamen Klimawandel viele weitere Faktoren wie das dramatisch beschleunigte Aussterben von Arten an. Auch dass die Menschheit zehntausende neuartige synthetische Minerale in Umlauf bringt, Milliarden Tonnen menschengemachten Gesteins – wie etwa Ziegel, Beton oder Keramik – über der Erdoberfläche verbreitet und dass sie großflächige geologische Strukturen wie Städte, Straßennetze aus Asphalt oder hunderttausende Kilometer Tunnel schafft, führen die Befürworter des Anthropozäns an.

15,6 Zentimeter misst das Anthropozän

Für ihren offiziellen Antrag der Arbeitsgruppe, das Holozän zu beenden und ab etwa 1950 künftig von einer Erdepoche des Menschen zu sprechen, war zuletzt nur noch die Nennung eines geeigneten Referenzorts nötig. Ein solcher »Global Stratotype Section and Point«, kurz GSSP, soll weltweit typische Charakteristika einer neuen Erdepoche zum Abgleich mit anderen Orten auf unbestimmte Zeit für die Wissenschaft vorhalten. Kritiker der Anthropozän-These hatten bezweifelt, dass es einen solchen Ort bereits gibt.

Crawfordsee | Der kleine See in Kanada ist eine eingestürzte Karsthöhle. Dadurch haben sich auf seinem Boden nahezu perfekte Jahresringe abgelagert, die Stoffe aus der Umwelt unter einer dünnen hellen Schicht einschließen. Sie bilden so ein natürliches Archiv der Veränderungen.

Der Crawfordsee setzte sich bei den letzten Abstimmungsrunden nun gegen einen Vulkankrater in China und ein Stück Meeresboden in Japan durch, weil er im Urteil der Fachleute in einer 15,6 Zentimeter dicken Sedimentschicht die modernen Spuren der Menschheit in den Sediment- und Gesteinsschichten der Erde seit etwa 1950 am besten festhält. Dazu zählt vor allem der radioaktive Fallout aus den Atombombenexplosionen des 20. Jahrhunderts, Flugasche und Stickstoffverbindungen aus der Verbrennung von Kohle oder das Auftreten und Verschwinden von Pollen bestimmter Pflanzenarten wie Mais und Ulmen. »Die Schicht mag nicht dick wirken, aber sie enthält alle nötigen Informationen über das Anthropozän«, sagte Geologe Waters, »und die Datierung von Veränderungen ist auf das Jahr genau möglich.«

Francine McCarthy, Geologin und Paläobiologin an der kanadischen Brock University, erforscht den See seit vielen Jahren und hält ihn sogar für »weltweit einzigartig«. Es handle sich um einen so genannten meromiktischen See, was bedeutet, dass die unteren Wasserschichten kaum zirkulieren. Dadurch lagern sich alle Stoffe, die von oben auf den 24 Meter tiefen Grund des Sees herabsinken, dort ab und werden nicht etwa durch Strömungen weggetragen. Und mehr noch: Der See ist entstanden, als die Decke einer früheren Karsthöhle einbrach. Das Wasser enthält wegen des kalkhaltigen Untergrunds bis heute viel Kalziumkarbonat, das jedes Jahr im Sommer als Kalzit ausfällt. Es bildet dann auf den neu entstandenen Sedimenten eine dünne weiße Schicht. Das erlaubt es, die Schichten jahresgenau zu unterscheiden – ähnlich wie bei Baumringen.

Die Bombe ist der Fingerabdruck des Menschen

Das natürliche Archiv, das dabei entstanden ist, hat das Forscherteam von Francine McCarthy über viele Jahre hinweg intensiv untersucht. Dazu haben die Wissenschaftler mit Zustimmung der indigenen Gemeinschaften von einem Floß aus mehrere Bohrungen vorgenommen. Die extrahierten Bohrkerne wurden noch vor Ort tiefgekühlt, um zu verhindern, dass Stoffe von einer Schicht in die andere wandern. Mit den anschließenden Untersuchungen, bei denen fast alle Gerätschaften zum Einsatz kamen, die Geologie und Paläobiologie aufzubieten haben, konnten die Forscher detailliert rekonstruieren, wie sich die Menschheit in die oberste Sedimentschicht eingeschrieben hat.

Als wichtigsten »Marker« für das Anthropozän nennen Francine McCarthy und ihr Team in der wissenschaftlichen Veröffentlichung zu ihrem Vorschlag den steilen Anstieg der Plutoniumisotope 239 und 240 ab etwa 1948. Dabei handelt es sich um den Fallout aus den Atombombenexplosionen, die das von Natur aus extrem seltene Element erstmals in der Erdgeschichte in größeren Mengen in Umlauf brachten. Im Crawfordsee ist »dieser vorgeschlagene primäre stratigrafische Marker für den Beginn des Anthropozäns mit hervorragender Genauigkeit erhalten«, heißt es in McCarthys Studie.

Schichten vom Grund des Sees | Die hellen Kalzitlagen entstehen jedes Jahr und trennen die dunklen Schlammschichten voneinander, so dass sich die Jahre einfach abzählen lassen.

Aber die Sedimente am Boden des Crawfordsees erzählen eine noch deutlich längere Geschichte: Der in ihnen enthaltene Pollen zeigt, wie Indigene hier bereits vor mehr als 500 Jahren Mais und Gurkengewächse anbauten, wie sie dann plötzlich verschwanden, wie im 19. Jahrhundert europäische Kolonisten auftauchten und damit begannen, den Wald großflächig zu roden. Eine Familie, die hier ein Sägewerk errichten ließ, hieß Crawford. Nach ihr wurde nicht nur der See benannt. Die Anthropocene Working Group schlägt vor, dass künftig der erste Abschnitt der neuen Erdepoche »Crawfordium« heißen soll. Damit würde auch zum Ausdruck gebracht, dass die vergangenen Jahrzehnte von Raubbau an der Natur geprägt waren.

Ein goldener Nagel für die Menschenzeit

Noch aber ist das alles bloß ein Vorschlag. Ob Paul Crutzens Hypothese akzeptiert und das Anthropozän samt Crawfordsee als Referenzort wirklich offiziell ausgerufen wird, ist noch offen. Der Vorschlag der Spezialistengruppe muss dafür noch mehrere Hürden nehmen. Als Nächstes muss sie die Gremien der Internationalen Kommission für Stratigrafie überzeugen, wo es auch scharfe Kritiker des Konzepts gibt. Bei den weiteren Abstimmungen ist wie bisher eine so genannte »Supermehrheit« von 60 Prozent nötig. So hält zum Beispiel der britische Geologe Philip Gibbard, Generalsekretär der Stratigrafiekommission, die Stufe zu einer Erdepoche für noch nicht erreicht. Er schlägt vor, den Einfluss des Menschen nur als geologisches »event« einzustufen, wie das »Große Oxidationsereignis«, bei dem Zyanobakterien vor 2,4 bis 2 Milliarden Jahren die Erdatmosphäre mit Sauerstoff anreicherten und damit die Bildung etwa von Eisenerzen initiierten.

Gibbard schied im Streit um diese Frage aus der Anthropocene Working Group aus, spielt nun allerdings bei den weiteren Abstimmungen eine wichtige Rolle. Am Ende des Prozesses würde die Internationale Vereinigung der Geowissenschaften (IUGS) das Anthropozän formal ausrufen und zum Schulbuchwissen erklären. Dazu könnte es frühestens im Sommer 2024 beim Weltkongress für Geologie in Südkorea kommen.

In Kanada zerbricht man sich vorsichtshalber schon mal den Kopf über den Fall des Falles. Neue Informationstafeln sind in Vorbereitung, um die Besucher über das Anthropozän aufzuklären. Auch eine Vorsichtsmaßnahme ist bereits in Planung: Normalerweise wird am GSSP eine Messingplatte angebracht und ein goldfarbener Nagel eingeschlagen, der so genannte »golden spike«, um die neue geologische Zeiteinheit zu würdigen. Doch nicht nur Francine McCarthy sorgt sich, dass das Neugierige anlocken und zum Tauchen – oder im schlimmsten Fall zum Diebstahl und zur Beschädigung der fragilen Sedimentschicht – animieren könnte. Schild und Nagel sollen »deshalb auch gar nicht am oder im Crawfordsee angebracht werden«, sagt sie, »sondern dort, wo die Bohrkerne tiefgefroren eingelagert werden – am Canadian Museum for Nature in Ottawa«.

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