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Psychiatrie: Eine freiwillige Therapie ist nicht immer frei von Zwang

Psychisch Kranke fühlen sich manchmal dazu gezwungen, Medikamente zu nehmen, obwohl sie eigentlich ablehnen könnten. Woran liegt das?
Hand mit einer Tablette, daneben ein Glas Wasser auf dem Tisch
Jeder Mensch sollte sich für eine Therapie frei entscheiden können – mit wenigen Ausnahmen.

Wer psychisch krank ist und eine erhebliche Gefahr für sich oder andere darstellt, kann gegen seinen Willen in eine Psychiatrie eingewiesen, festgebunden und mit Beruhigungsmitteln behandelt werden. Solche Zwangsmaßnahmen greifen erkennbar in die Freiheitsrechte ein und sind deshalb lediglich in Notlagen erlaubt. Es gibt jedoch einen Graubereich, in dem der Zwang nicht offenkundig ist und sich die Betroffenen dennoch zur Behandlung gezwungen fühlen. Wann das der Fall ist, hat eine Forschungsgruppe vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin von der Ruhr-Universität Bochum in »The American Journal of Bioethics« erörtert und dafür im Dezember 2023 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) erhalten.

Im Vorjahr hatte das Bochumer Team unter Leitung der Soziologin Sarah Potthoff zunächst untersucht, wie solche Psychiatrieerfahrungen zu Stande kommen. Dazu befragte es sieben Männer und sieben Frauen, die sich überwiegend wegen Depressionen oder Psychosen freiwillig in psychiatrische Behandlung begeben hatten. Gab es Situationen, in denen sie sich unter Druck oder Zwang fühlten? Wie hätte man dem vorbeugen können? Die Fallgeschichten zeigen: Verbale Überzeugungsversuche können auch ohne explizit angedrohte Zwangsmaßnahmen einen psychologischen Druck erzeugen, der einem Zwang gleichkommt: Druck durch rationale Argumente, über die emotionale Beziehungsebene, durch versprochene Vorteile und durch angedrohte Nachteile.

»Wenn ich einem Patienten sage, dass er seine Familie nicht sehen darf, wenn er seine Medikamente nicht nimmt, ist das eine Drohung«, sagt die Erstautorin der prämierten Studie, Christin Hempeler. Denn dann müsse er Nachteile fürchten, und das sei unzulässig. Nicht aber, wenn ein Vorteil in Aussicht gestellt werde – dann sei es ein Angebot, erklärt die studierte Medizinerin.

Doch nicht bloß offene Drohungen üben starken Druck aus: Die Abhängigkeit vom Personal und die angedeutete Möglichkeit einer Zwangsmaßnahme können ebenfalls dazu beitragen. »Um zu beurteilen, ob es sich um Zwang handelt, reicht es nicht, nur das Gesagte zu betrachten«, sagt Hempeler. Man müsse den Kontext berücksichtigen sowie bedenken, was die Betroffenen meinen, welche Folgen es haben könnte, wenn sie Medikamente ablehnen. Steht etwa ein Fixierbett im Raum, könnte ein Patient berechtigterweise befürchten, dass er fixiert wird und Medikamente gespritzt bekommt.

Die Drohung steht unausgesprochen im Raum

So erging es zum Beispiel Alex, einem der befragten Patienten. Wie die Bochumer Fallstudie dokumentierte, hörte er Stimmen, fühlte sich verfolgt und wurde schließlich von seiner Mutter in eine Psychiatrie gebracht. Er wollte nicht bleiben – und blieb doch, aus Angst, dass er wie bei seinem vorigen Aufenthalt an ein Bett gefesselt werden könnte. Niemand hatte ihm das angedroht; trotzdem handelte es sich um eine Form von Zwang, argumentieren die Forschenden: weil ein Fixierbett und damit die Möglichkeit einer Fixierung im Raum stand.

Etwaige Drohungen, ausgesprochen oder unausgesprochen, wirken natürlich nur aus einem Grund: weil das Fachpersonal eine gewisse Macht über die Patientinnen und Patienten hat. Zum einen können diese unter Umständen zur Behandlung gezwungen werden, und das zu wissen, genügt schon, um Druck zu verspüren. Zum anderen stehen sie in einem Abhängigkeitsverhältnis. Beispielsweise steht es ihnen nach einer Zwangseinweisung nicht frei zu gehen, wann sie wollen. Umgekehrt kann bei einem freiwilligen Aufenthalt der Eindruck entstehen, allem zustimmen zu müssen, um weiter behandelt zu werden – und nicht wieder gehen zu müssen.

Es sei allerdings schwierig zu beurteilen, »ob ein Patient berechtigterweise glauben könnte, dass ihm negative Konsequenzen drohen, wenn er eine Behandlung nicht möchte«, sagt Hempeler. Die behandelnden Fachkräfte können bewusst oder unbewusst dazu beitragen, auch wenn sie glauben, zum Wohl der Kranken zu handeln. Denn sie unterschätzen in der Regel den Druck auf die Betroffenen. Wenn er in deren Interesse und gut begründet ist, könne er zwar moralisch zulässig sein, so die Überlegung von Hempeler und ihren Kollegen. Doch das Prinzip der freiwilligen Behandlung werde unterlaufen. Die Entscheidung mag formal freiwillig sein, psychologisch gesehen ist sie es aber nicht.

Hempeler und ihr Team wollen ihre Arbeit nicht als Generalvorwurf gegen psychiatrische Fachkräfte verstanden wissen. Es gehe darum, das Erleben der Betroffenen ernst zu nehmen, für das Thema zu sensibilisieren und Alternativen zum Beispiel für die Raumgestaltung aufzuzeigen, um das Machtgefälle zu mindern. Und solange von den Betroffenen keine Gefahr ausgeht, sollte das Personal ihnen versichern, dass keine Konsequenzen drohen, wenn sie eine Behandlung verweigern.

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