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Gliome: Krebszellen manipulieren Neurone

Hirntumoren können synaptische Verbindungen mit Nervenzellen knüpfen und wachsen auf Kosten der kognitiven Fähigkeiten weiter heran. Das hat fatale Folgen.
Illustration eines halbtransparenten Kopfs mit einem roten Tumor drin.
Hirntumore treten glücklicherweise nur selten auf.

Sie lassen sich nur schwer behandeln und enden meist tödlich: Die als maligne Gliome bezeichneten Hirntumoren gehören zu den gefürchtetsten Krebserkrankungen. Wie die ausschließlich im Zentralnervensystem vorkommenden bösartigen Tumorzellen mit den knapp 100 Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn interagieren, ist bislang kaum bekannt. Dabei wäre ein Verständnis für diese Wechselwirkungen wichtig, weil es in den letzten Lebensmonaten der meisten Patienten zu einem fortschreitenden kognitiven Verfall kommt, der ihre Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigt.

Das menschliche Gehirn stellt ein komplexes System dar mit hochgradig koordinierten Interaktionen zwischen großen spezialisierten Gruppen von Neuronen, den neuronalen Netzen. Die Dynamik und Formbarkeit dieser Netze, oft als Neuroplastizität bezeichnet, bildet die Basis für Hirnentwicklung und Lernen, ermöglicht aber auch eine Regeneration nach Hirnschäden. Als grundlegendste Einheit der Neuroplastizität fungieren die Kontaktpunkte zwischen den Neuronen – diese Synapsen ermöglichen die Informationsweitergabe innerhalb des Gehirns sowie zum Rest des Körpers. Alle menschlichen Gedanken, Handlungen, Emotionen und Erinnerungen entstehen in einem Geflecht aus elektrochemischen Signalen, das durch Synapsen vermittelt wird.

Fatale Auswirkungen eines Hirntumors | Ein Gliom beeinträchtigt auf verschiedene Weise die Funktionsfähigkeit des Gehirns. Liegt es etwa in der Nähe von Sprachzentren wie in der linken Hirnrinde, kommt es zu Sprachstörungen. Verursacht wird das, indem das Geschwulst in das Hirngewebe eindringt (a), es zusammendrückt (b), Schwellungen auslöst (c) oder die Blutversorgung zum Tumor umleitet (d). Nun fand eine US-amerikanische Arbeitsgruppe heraus, dass ein Gliom zudem zu kognitiven Defiziten führt, indem es die neuronalen Schaltkreise des Gehirns verändert (e). Dabei bilden sich aktive Synapsen zwischen Tumor und Neuronen, die ein aggressives Wachstum der Krebszellen fördern und meist zum Tod des Betroffenen führen.

Bislang ging man davon aus, dass Gliome die neurologischen und kognitiven Funktionen auf eine der folgenden Weisen beeinträchtigen: durch das Eindringen ins Hirngewebe, durch den von ihnen ausgeübten Druck, durch das Anschwellen des angrenzenden Gewebes oder durch die Beeinträchtigung der Blutversorgung, indem der Tumor Blutgefäße zu sich umleitet. Forscherinnen und Forscher um den Neurochirurgen Shawn Hervey-Jumper von der University of California in San Francisco enthüllten nun einen bisher unbekannten Mechanismus, bei dem Gliome die Schaltkreise des Gehirns nach ihren eigenen Bedürfnissen umgestalten, indem sie die Neuroplastizität durch synaptische Umstrukturierung missbrauchen und dadurch die Hirnarchitektur aktiv verändern. Die Fähigkeit, aus dieser induzierten Plastizität Kapital zu schlagen, ermöglicht es den Geschwülsten, zusätzliche neuronale Signale zu erhalten und sich zu vermehren.

Frühere Forschungen hatten bereits gezeigt, dass neuronale Aktivität das Wachstum von Gliomen fördern kann. So bilden sich zwischen Hirn- und Krebszellen elektrophysiologisch funktionsfähige Synapsen; und die zwischen ihnen fließenden Ströme, die normalerweise der Kommunikation im Gehirn dienen, fördern die starke Ausbreitung des Tumors. Bei der Erbkrankheit Neurofibromatose scheinen neuronale Erregungen in den Sehbahnen die Tumorentstehung zu beeinflussen. Die jetzige Studie deutet darauf hin, dass sogar bewusste Gedanken hier mitwirken – eine unerwartete Verbindung zwischen Gehirn und Geist.

Verbindung zu entfernten Hirnzentren

Das Team von Hervey-Jumper bat Patienten, die bei einer Hirnoperation wach lagen, Gegenstände auf Bildern zu benennen, während es gleichzeitig ihre Hirnaktivitäten aufzeichnete. Dabei regten sich auch Hirngebiete, die vom Tumor befallen waren, aber weit weg von den bekannten Spracharealen lagen und normalerweise wohl nichts mit den Sprachnetzwerken zu tun haben.

Die synaptischen Verknüpfungen in großräumigen Netzwerken des Gehirns maßen die Forscher per Magnetenzephalografie. Diese Technik detektiert winzige Magnetfelder, die durch die elektrische Aktivität großer Populationen von Neuronen erzeugt werden. Hirnregionen, deren Magnetfelder sich synchron verhalten, gelten als funktionell gekoppelt. Dabei konnten die Wissenschaftler verschiedene Bereiche des Tumorgewebes ausmachen, deren Verknüpfungen mit anderen Hirnarealen sich in solche hoher (HFC) oder niedriger funktioneller Konnektivität (LFC) unterscheiden ließen.

In ersteren regten sich verstärkt Gene, die neuronale Schaltkreise aufbauen helfen – darunter eines, das für ein Protein namens Trombospondin 1 (TSP-1) codiert. Dieses wird normalerweise von Astrozyten des Gehirns ausgeschieden und wirkt an der Synapsenbildung mit. Die erhöhte Genaktivität im Tumorgewebe beeinflusste wiederum die Verdrahtung zum gesamten Gehirn.

Die dabei ablaufenden Vorgänge untersuchte die Arbeitsgruppe von Hervey-Jumper anhand tumorhaltiger Organoide, also künstlicher dreidimensionaler Zellkulturen. Wie sich herausstellte, kommunizierten Zellen aus HFC-Gliomen im Vergleich zu LFC-Tumoren stärker mit den Neuronen in den Kulturen. Das passt zu Symptomen bei Hirntumorpatienten, etwa epileptische Anfälle, die möglicherweise durch die synaptischen Interaktionen des Krebsgeschwürs ausgelöst werden.

Als nun die Wissenschaftler das Protein TSP-1 zu LFC-Regionen von Tumoren hinzufügten, verhielten sich diese wie HFC-Gliome: Es trat eine ähnlich starke Verknüpfung mit den Neuronen im Organoid auf. Im Einklang dazu ging das Krebswachstum zurück, sobald die Forscher die Kulturen mit dem TSP-1-Hemmstoff Gabapentin behandelten. Darüber hinaus bildeten Hirntumoren im Hippocampus von lebenden Mäusen Synapsen, wenn sie TSP-1 zugaben.

Ein Warnsignal

In speziell aufbereiteten Kulturmedien entwickelten HFC-Gliomzellen zelluläre Fortsätze, die als »tumor microtubes« bekannt sind und Krebszellen miteinander verbinden, wobei sie vermutlich die neuronale Aktivität unterstützen. Diese Beobachtung ist vor allem deshalb wichtig, weil sich Tumorzellen mit derartigen Mikroröhrchen als besonders hartnäckig gegenüber einer Strahlentherapie erweisen.

Sowohl bei Mäusen als auch bei Menschen gingen Überlebensrate und kognitive Fähigkeiten zurück, wenn sich in den Gehirnen Gliome mit hoher funktioneller Konnektivität ausgebreitet hatten. Die Studie von Hervey-Jumper und seinem Team demonstriert eindrücklich, wie solche Tumoren die neuronale Plastizität kapern und dadurch auf Kosten der Hirnleistung wachsen. Ein kognitiver Rückgang bei Hirntumorpatienten könnte somit ein Warnsignal für eine schlechte Überlebenschance sein. Die elektrische Kommunikation im Gehirn zwischen den Neuronen und dem Tumor ist verblüffend. Offensichtlich liegt hier eine einzigartige Form der Plastizität vor, zu der Hirntumoren in der Lage sind.

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