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Hochbegabung: Die zwei Gesichter der Intelligenz

Ein hoher IQ ist eine gute Voraussetzung für ein glückliches Leben. Hochbegabung hat jedoch auch ihre Schattenseiten.
Junger Mann allein am Fenster

Zwei Kinder: Das eine ist beliebt und ausgeglichen, das andere eher ein Einzelgänger und oft unglücklich. Eines ist außerdem sehr begabt. Was meinen Sie: welches von beiden? Wenn Sie sich für den traurigen Einzelgänger entschieden haben, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Der Volksmund kennt viele Redewendungen, die nahelegen, dass sich Intelligenz und Glück nicht besonders gut vertragen: »Dummheit ist ein gutes Ruhekissen«, »Selig sind die geistig Armen« oder »Dummheit trägt man leichter als Weisheit«. Die Wirklichkeit ist allerdings vertrackter.

Zunächst einmal ist hohe Intelligenz in unserer westlichen Gesellschaft ein begehrtes Gut, verheißt sie doch zumindest aus statistischer Perspektive Erfolg, ein höheres Einkommen und sogar eine bessere Gesundheit. Aber der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Wohlbefinden scheint weit weniger eindeutig zu sein. Ein Blick in die Literatur zeigt: Es ist gar nicht so leicht zu sagen, ob höhere Intelligenz eher mehr oder eher weniger Glück mit sich bringt. Einige Studien offenbaren keinen Zusammenhang zwischen individuellem IQ und Glück. Andere hingegen weisen darauf hin, dass Intelligenz in Sachen Glück durchaus seine Vorzüge hat. In einer Untersuchung des University College London aus dem Jahr 2013 gaben Versuchspersonen mit einem vergleichsweise niedrigen IQ (70–99) ein geringeres Glücksniveau an als jene mit höherem IQ (120–129).

»Zwischen Intelligenz und Lebenszufriedenheit findet sich über viele Studien hinweg meist nur ein leichter, tendenziell positiver Zusammenhang«, fasst die Psychologin Linda Wirthwein von der TU Dortmund die Studienlage zusammen. Für die ein wenig größere Zufriedenheit bei intelligenteren Menschen sorgen vermutlich die statistisch gesehen besseren Bildungsabschlüsse, die interessanteren Jobs und die höheren Einkommen. Doch warum ist dieser Effekt so klein? »Eine Möglichkeit wäre, dass sich Menschen an ihre jeweiligen individuellen Voraussetzungen anpassen«, sagt Linda Wirthwein. »So hat etwa ein sehr intelligenter Mensch möglicherweise höhere berufliche Ziele, und damit relativiert sich die überdurchschnittliche Intelligenz wieder ein Stück weit.«

»Zwischen Intelligenz und Lebenszufriedenheit findet sich über viele Studien hinweg meist nur ein leichter, tendenziell positiver Zusammenhang«Linda Wirthwein, TU Dortmund

Bleibt festzuhalten: Per se macht höhere Intelligenz Menschen zumindest nicht unzufriedener mit ihrem Leben, eher im Gegenteil. Was aber, wenn Menschen in die geistigen Höhen der Hochbegabung vorstoßen, also mit einem IQ von mindestens 130 aufwarten können? Glaubt man den Medien und Filmen wie »A beautiful mind«, in dem das Mathematikgenie John Nash mit seiner paranoiden Schizophrenie zu kämpfen hat, ist der Grat zwischen Genie und Wahnsinn äußerst schmal.

Hier ist die Wirklichkeit jedoch ebenfalls vertrackter. »Viele Studien zeigen, dass es zwischen hochbegabten und durchschnittlich begabten Menschen weder im emotional-sozialen Bereich noch bei der Persönlichkeit noch beim Thema psychische Störungen statistische Unterschiede gibt«, sagt Linda Wirthwein. In einer Studie von 2019 hatte die Psychologin mit Kollegen hochbegabte Jugendliche untersucht und mit einer Kontrollgruppe normal begabter Gleichaltriger verglichen. Hierbei sind sie kaum auf Unterschiede gestoßen, auch nicht bei problematischen Persönlichkeitsmerkmalen wie Neurotizismus. »Dem scheint zu widersprechen, dass in der Presse immer wieder Einzelfälle von hochbegabten Menschen mit psychischen Störungen porträtiert werden«, sagt Wirthwein.

Hängen Begabung und psychische Probleme zusammen?

Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Studien, die Zusammenhänge zwischen intellektueller Begabung und psychischen Problemen nahelegen. Die Psychologin Ruth Karpinski vom Pitzer College in Claremont und ihre Kollegen befragten beispielsweise mehr als 3700 Mitglieder des Hochbegabtenvereins Mensa. Die Teilnehmer sollten von etwaigen diagnostizierten oder vermuteten psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen berichten. Darüber hinaus wurden sie zu körperlichen Krankheiten wie Autoimmunerkrankungen, Umwelt- und Nahrungsmittelallergien sowie Asthma befragt.

Das Team verglich dann die Befragungsdaten mit dem jeweiligen Durchschnitt in den USA. Der Studie zufolge wies die Mensa-Stichprobe bei allen Erkrankungen und Störungen signifikant höhere Raten auf. So wurde etwa bei rund 10 Prozent der US-Bevölkerung eine Angststörung diagnostiziert; bei den hochbegabten Mensa-Mitgliedern waren es 20 Prozent. Außerdem hatten Letztere häufiger mit Allergien und Asthma zu kämpfen. Laut einer Theorie von Karpinski und ihren Kollegen reagieren Menschen mit hohen kognitiven Fähigkeiten emotional und körperlich sensibler auf ihre Umwelt. Sie neigen unter anderem stärker dazu, angesichts von Stressfaktoren zu grübeln und sich Sorgen zu machen, was schließlich auch zu psychischen Problemen und einer körperlichen Übererregung führen könne.

Linda Wirthwein sieht die Untersuchung allerdings kritisch. Eine gute Studie erfordere es, eine repräsentative Stichprobe von Hochbegabten mit einer repräsentativen durchschnittlich begabten Kontrollgruppe zu vergleichen. Und diese Kontrollgruppe sollte sich von der Stichprobe im Idealfall nur in einem Aspekt unterscheiden, nämlich der Intelligenz. »In der Studie von Karpinski und Kollegen wird aber beispielsweise gar nicht klar, ob die Kontrollgruppe mit den Mitgliedern der Hochbegabtenorganisation Mensa vergleichbar ist.«

Auch die Psychologin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck ist skeptisch: Sie hat mit ihrer Arbeitsgruppe untersucht, ob Menschen mit überdurchschnittlicher kognitiver Begabung prinzipiell »hochsensibel« sind. »Wir konnten jedoch keinen Unterschied zwischen Hochbegabten und der Normalbevölkerung finden.«

Hochbegabung kann einsam machen

In anderer Hinsicht sieht Schnell für hochbegabte Menschen aber durchaus ein Risiko. In einer Untersuchung von 2017 hat sie sich mit ihrem Team das subjektive Wohlbefinden und das Erleben von Sinnhaftigkeit angeschaut – also inwiefern Menschen ihr Leben als sinnvoll erachten und ein Gefühl der Zugehörigkeit haben. Und zwar bei intellektuell hochbegabten Menschen mit einem IQ von mindestens 130, bei Menschen mit schulischen und universitären Höchstleistungen und bei durchschnittlich begabten Personen.

Die Menschen mit Höchstleistungen zeigten einen Grad von Sinnerleben und subjektivem Wohlbefinden, der mit dem der Kontrollgruppe vergleichbar war; die Hochbegabten kamen jedoch auf signifikant niedrigere Werte. »Das hat uns selbst überrascht und erschreckt«, sagt Schnell. Die Studie zeigt aber auch einmal mehr, wie schwierig die Untersuchung des Themas ist. Denn Hochbegabte sind rar gesät, sie machen nur zwei Prozent der Bevölkerung aus. Die Probanden waren daher auch bei der Studie von Schnell vorselektiert und nicht repräsentativ: Es handelte sich sämtlich um Menschen, die sich bewusst für die Mitgliedschaft im Hochbegabtenverein Mensa entschieden hatten. Folgestudien haben die Ergebnisse allerdings bestätigt, versichert Tatjana Schnell. »Und Studien aus anderen Ländern haben inzwischen ebenfalls von einem Zusammenhang zwischen hoher Intelligenz und geringerem Wohlbefinden berichtet.«

»Hochbegabte berichten, dass sie sich im Vergleich zu Mitmenschen als ›anders‹ empfinden«Tatjana Schnell, Universität Innsbruck

Schnell und Kollegen haben sich in ihren Untersuchungen auch auf die Suche nach möglichen Ursachen gemacht. Hochbegabte schilderten ihnen häufiger negative Erlebnisse in der Schule. Viele wurden eigenen Angaben zufolge weder gefördert noch adäquat gefordert. »Außerdem haben uns Hochbegabte in noch unveröffentlichten Interviews immer wieder berichtet, dass sie sich im Vergleich zu Mitmenschen als ›anders‹ empfinden«, sagt die Innsbrucker Psychologin. »Und dass andere Menschen sie auf Grund ihres schnelleren Denkens oft nicht verstehen. Dieses Sich-anders-Fühlen könnte dazu führen, dass ihr Erleben der Sinnhaftigkeit eingeschränkt ist, da dieses unter anderem auf der Erfahrung von Zugehörigkeit beruht.«

Zudem stießen die Forscher darauf, dass Hochbegabte im Durchschnitt über weniger Selbstmitgefühl verfügen. »Dazu passt, dass sich laut der Psychologin Tanja Baudson hochbegabte Menschen auf Grund ihrer besonderen Begabung oft ähnlich stigmatisiert fühlen wie homosexuelle Menschen«, so Schnell. Die Erwartungen der Gesellschaft an Hochbegabung seien hoch. »Und wenn hochbegabte Menschen glauben, diese nicht erfüllen zu können, geht es ihnen schlechter als durchschnittlich begabten Menschen, die gar nicht erst auf die Idee kommen, etwas Besonderes leisten zu müssen. Sie nehmen sich in der Folge wohl schlechter an und haben weniger Selbstmitgefühl.«

In neueren Arbeiten haben Schnell und ihre Kollegin Bernadette Vötter zudem herausgefunden, dass Hochbegabte im Vergleich zu Hochleistern über weniger Selbstkontrolle verfügten. Und weniger Selbstkontrolle ging mit weniger Wohlbefinden einher. Eine mögliche Erklärung: Selbstkontrolle hilft uns dabei, so zu leben, wie wir es richtig und wichtig finden. Wem es nicht gelingt, eigene Ziele und Werte im Alltag umzusetzen, der ist weniger glücklich und zufrieden. »Es könnte sein, dass viele Hochbegabte vergleichsweise weniger Selbstdisziplin entwickeln, weil ihnen vieles zufällt«, sagt Schnell.

»Letztendlich glaube ich, dass Menschen mit hoher Intelligenz sich eher der Absurdität des Lebens bewusst sind«Tatjana Schnell

Gut in dieses Bild passen auch Befunde, denen zufolge Hochbegabte teils eher unvorteilhafte Persönlichkeitsmerkmale entwickeln. In einer Studie des klinischen Psychologen Michael Matta von der University of Houston und seinen Kollegen neigten hochbegabte Menschen stärker zu Narzissmus und hatten weniger Interesse an sozialen Beziehungen. Die Ergebnisse stimmen laut den Forschern mit der so genannten Disharmonie-Hypothese überein. Sie besagt, dass begabte Personen einzigartigen sozialen Herausforderungen gegenüberstehen und spezifische emotionale Bedürfnisse haben, die sie verletzlicher machen. Linda Wirthwein hingegen hat keine auffälligen Unterschiede in der Persönlichkeit von Hoch- und Normalbegabten gefunden.

Laut Tatjana Schnell und ihren Kollegen passt das Bild vom »traurigen Genie« besser zum psychischen Befinden hochintelligenter Menschen als das vom »verrückten Genie«. »Letztendlich glaube ich, dass Menschen mit hoher Intelligenz sich eher der Absurdität des Lebens bewusst sind«, sagt Schnell. »Sie gehen seltener von einem übergeordneten Sinn aus. Und das Finden eines persönlichen Sinns wird durch die hohe Erwartung an sich selbst und das Erleben von Nichtzugehörigkeit erschwert.« Intelligenz scheint also in Sachen Wohlbefinden zwei Gesichter zu haben. Einerseits kann eine höhere Intelligenz durchaus zufriedener machen. Doch eine Hochbegabung hat womöglich auch ihre Schattenseiten.

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